Architektur und Freiheit
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Sozialer Baumeister
„Alter Schwede“ ist ein umgangssprachlicher Ausdruck, der sich eigentlich nicht auf eine konkrete Person bezieht, sondern vielfach gern als Ausdruck des Erstaunens verwendet wird. Betrachtet man das (sehr soziale) Lebenswerk des im März verstorbenen Ivo Waldhör, so ist er zwar auch ein „Alter Bozner“ gewesen, vor allem aber in seinen architektonischen Ansichten ein stets junggebliebener Baudenker, der stets offen für gutgeführte Debatten war.
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Man kommt aus dem Staunen gar nicht heraus, wenn man sich die Skizzen, Modelle und Aufzeichnungen des "künstlerischen Handwerkers" genauer ansieht, der nach dem Studium in Wien 1956 mit seiner Frau Eva nach Schweden zog. In den 1980ern sorgte Waldhör mit (s)einem sozialen Wohnbauprojekt Bo100 in Malmö für nationales und internationales Aufsehen. In Südtirol blieb das Schaffenswerk des Stadtplaners und Visionärs leider nahezu unbekannt. Schade!
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Von Bozen nach Schweden
Ivo Waldhör wurde 1931 in Bozen geboren. Während der Option übersiedelte die Familie nach Brünn (Mähren), nach dem Krieg wieder nach Bozen zurück. Im Anschluss an die Gewerbeschule in Innsbruck, besuchte Ivo Waldhör die Akademie der bildenden Künste in Wien - in der Meisterklasse von Clemens Holzmeister. Für den jungen talentierten und ideenreichen Zeichner ging eine Vision in Erfüllung. In jungen Jahren war er nämlich, laut einem vor wenigen Jahren mit seiner Südtiroler Nichte geführten Interview, mit Florian Trenker befreundet gewesen, dem Sohn von Luis Trenker, der nur wenige Monate älter als Ivo war. Waldhör sah zufällig an der Bücherwand bei den Trenkers zuhause ein großes Buch zum Architekten Clemens Holzmeister und strotzte beim Durchblättern vor Begeisterung. Dass er später einmal bei besagtem Holzmeister studieren würde, hätte Ivo damals nie erträumen wollen. Doch es kam anderes.
Nach seinem Studium kehrte Waldhör nicht nach Bozen zurück, sondern zog nach Stockholm. „Warum Schweden?“, fragte ihn einmal ein befreundeter Schriftsteller. Als Antwort kam vom „Design-Nerd“ zunächst der Hinweis auf ein elegantes Auto, den Saab 92, aus der gestalterischen Feder des Industriedesigners Sixten Sason, das Waldhör als Student in den Straßen Wiens erstmals entdeckt hatte. Ein weiterer schwedischer Anziehungspunkt war das Schaffen des Architekten Sven Markelius gewesen, samt dessen international beachteten Stockholmer Vororts Vällingby.
Erstmals für Aufsehen sorgte Ivo mit seinen sogenannten „Waldhör-Utopien“ in den 1960er Jahren, nachdem er mehrere hohe Pyramiden am bekannten Karlaplan-Platz Stockholms anregte. Diese visionären Entwürfe markierten eine komplett andere Sicht auf Stadt und Architektur und veranschaulichten erstmals wichtige Merkmale seines Denkens, das durch radikale Formen und soziale Innovation gekennzeichnet war.
In meiner Schule gelten Maße nichts...
Der in Wien zum Architekten ausgebildete Künstler steht in einer mitteleuropäischen Geistestradition. Sein Buch Notes and fragments on architecture and obligations zeigt einen Einblick in seine Denkfabrik, offenbart zentrale Ideen. Er gesteht darin jedem Menschen ein Recht auf Gestaltung zu und es gelingt ihm die Schlagworte Meinungsfreiheit und Architektur kongenial zu verbinden.Das Bo100Das Projekt Bo100 begann 1985 als Initiative einer regionalen Architektengemeinschaft in Zusammenarbeit mit einer Mietervereinigung. Nach einem Seminar zum Thema Partizipation, waren die Beteiligten derart begeistert, dass sich das Projekt zu einem Modell für partizipative Planung im Wohnungsbau entwickelte. Die Initiative wurde von den Mietern selbst geleitet, wobei „eine ungewöhnliche Hierarchie, mit einem starken Einfluss der Mieter“ festgelegt wurde.
In einer „Bauschule“ wurden Mieter und Mieterinnen geschult, brachten Erfahrungen und Wünsche ein und diskutierten gemeinsam über ökologische und technische Aspekte. Waldhör und die beteiligten Architekten spielten eine unterstützende Rolle und übersetzten die Ideen der Bewohner in konkrete Baupläne. Ein Beispiel: 1989 gab es von den Beteiligten Anfragen für insgesamt 158 verschiedene Fensterformen im Haus. Letztendlich erhielt das Haus 323 Fenster, verteilt auf etwa 40 verschiedene Fensterformen. Außerdem haben alle Wohnungen im Bo100 extra dicke Wände nach außen und zu den Nachbarwohnungen. Die Grundrisse zeichnen sich durch große, helle und großzügige Räume mit teilweise unterschiedlichen Deckenhöhen aus. Es finden sich zahlreiche Öffnungen, Balkone und Winkel, die Kontakt zwischen verschiedenen Räumen und Wohnungsteilen schaffen.
Auch die Badezimmer sind gemütlich gestaltet, verfügen über Sitzecken, Bänke, zusätzliche Regale und teilweise extravagante Badewannen. „Mein Vorbild war dabei mehr das Bild städtischer Organismen aus dem Mittelalter als die Architektur von Häusern, die Stadtdörfer Andalusiens und als moderne Ausnahmen in der Architektur die experimentellen Häuser des Lucien Kroll in Brüssel und von Ottokar Uhl in Wien“, verriet Waldhör der Autorin Sylvia Jung im Aufsatz Experimentelles Bauen, der sich ausführlich mit Waldhörs Projekt in Malmö beschäftigt. Bis heute ist Bo100 ein brillantes und beispielhaftes Bauwerk für Architektur in Freiheit.
Gezeichnet hat Ivo Waldhör bis ins hohe Alter, u.a. an einer Reise zu den geheimnisvollen Inseln, einer Geschichte für Kinder (und Erwachsene). In Südtirol hat der soziale Träumer kaum Spuren hinterlassen. Er gestaltete die Inneneinrichtung des Friseur-Salons seiner Schwester Christa in der Bozner Fagenstraße, ein in Karneid geplantes Wohnhausprojekt landete hingegen in der Schublade. Die Skizzen und die Entwurfspläne dieses Hauses offenbaren eine zeitlose Architektursprache. Vielleicht werden sie einmal in naher oder ferner Zukunft praktisch umgesetzt. Am morgigen 19. April wird Ivo Waldhör im Rahmen einer Feier im Bo100 verabschiedet. Adjö.
Sehr interessant. Wunderbare…
Sehr interessant. Wunderbare Zeichnungen.