Gesellschaft | Tierrechte

Wie viel Leid darf in einer Mahlzeit stecken?

Demokratie, allgemeine Menschenrechte: Der zivilisierte Mensch hat große Fortschritte gemacht. Und doch ist es wieder an der Zeit, unsere Gesellschaft zu hinterfragen.

Wir befinden uns auf einer Rittner Wiese neben einem Bauernhof. Sechs Hühner durchstreunen die Grashalme auf der Suche nach Essbarem. Gelegentlich führt sie diese Suche in den Garten des Nachbarn, nicht immer zu dessen Freude. Nachdem sie den ganzen Tag rumgepickt haben und das Einzige, was sie hin und wieder aufschreckte, der ferne Schrei eines Bussards war, lässt der Bauer sie abends wieder in ihren Stall. Acht Quadratmeter für sechs Hühner. Ein Luxus, aber diese Tiere haben wohl keine Ahnung, welches Glück sie haben. Blödsinnig gackern sie sich an und starren Passanten hinterher. Sie ahnen nicht, dass der Alltag ihrer Artgenossen gewöhnlich ganz anders aussieht.

Während im Rest der Welt gute 80% der Hühner aus Legebatterien stammen, wurde die Käfighaltung inzwischen in vielen europäischen Ländern abgeschafft. Wer deshalb an einen Fortschritt glaubt, irrt sich leider. Die bei uns verbreitete Bodenhaltung ist für die Tiere oft noch schlimmer: Dass 10 bis 20 Hennen auf einem Quadratmeter Platz finden müssen, ist in Bodenhaltungen die Regel. Damit sich die Vögel unter diesen Umständen nicht gegenseitig zerpicken, wird ihnen der Schnabel gekürzt. Meistens ohne Narkose.

Gänse werden bei lebendigem Leibe gekocht, Stiere ohne Betäubung kastriert, männliche Küken in Massen geschreddert, Ferkel gegen eine Wand zerschlagen. Das ist der Alltag in vielen Massentierhaltungen. Hier fristen Milliarden Tiere ein kurzes und elendes Dasein, damit wir beim Kauf von Fleisch um ein paar Euro billiger davonkommen. Wer es sich antut, die zahlreichen Videos von Reportern, die sich in solchen Fabriken des Todes eingeschlichen haben, anzuschauen, dem kann es den Magen verdrehen. Nie mehr möchte man ein Produkt dieser Qualen auf dem eigenen Teller liegen haben. Und doch: 2010 wurden in Deutschland 8 Milliarden Kilo Fleisch erzeugt und erschreckende 98 Prozent der verzehrten Tiere kamen aus der Massentierhaltung. Es ist nicht unüblich, ansonsten tierliebe Menschen zu sehen, wie sie sich bei Burger King plötzlich mit doppelten Portionen an Chicken Nuggets vollstopfen. Woran liegt das? Ist der Mensch zu wenig informiert? Haben die Videos, die das Elend hinter den Kulissen zeigen, nur wenige hundert Klicks, während es südkoreanische Musikvideos auf zwei Milliarden bringen? Oder ist es den Menschen schlicht egal, was ein Tier empfindet?

Sophie vermutet, dass es dran liegt, dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist: Er kapselt sich ab gegen alles, was ihn dazu zwingen könnte, seine Gewohnheiten zu ändern. Und was ihn dazu zwingen könnte, ist in diesem Fall tiefgehende Information zu dem Thema. Sophie ist eine 22-jährige Studentin aus München und lebt seit 2013 als Vegetarierin. Jetzt versucht sie, auch eine vegane Ernährung, die auf alle tierischen Produkte verzichtet, durchzuziehen. Kein Fleisch auf dem Teller zu haben fällt ihr längst nicht mehr schwer. Man müsse nur etwas Fantasie aufbringen, um sich vorzustellen, dass das Stück Fleisch vor kurzer Zeit noch lebendig war, und wie das Tier umgebracht wurde, dann vergeht der Appetit schon, meint Sophie. Nur bei manchen Fischgerichten muss sie sich manchmal noch bewusst zurückhalten. Das ist bei vielen Vegetariern so, auch Lena aus Bozen, 21, konnte irgendwann nicht mehr anders, als auf Fleisch zu verzichten. Wer hingegen von Natur aus Fleisch liebt, hat viel mehr zu verlieren. Und verzichtet dementsprechend lieber darauf, sich zu informieren, welches Leid seine Essgewohnheiten mit sich ziehen.

Das ist ein beliebtes Argument der bekennenden Fleischliebhaber: Der Mensch sei einfach von Natur aus ein Allesfresser und dazu gehöre eben auch Fleisch essen. Eine vegetarische Ernährung (von veganer Ernährung ganz zu schweigen) sei ganz einfach unnatürlich. Wenn diese Annahme über den Menschen stimmt, dann genügt es aber schon, einen Blick auf die Zahlen zu werfen, um diese Sicherheit der notorischen Fleischesser, die Natur auf ihrer Seite zu haben, ins Wanken zu bringen: Wie „Die Zeit“ berichtet, werden jährlich über 65 Milliarden Tiere geschlachtet. Mit dem steigenden Wohlstand in China und anderen Schwellenländern dürfte diese Zahl noch rasant steigen! Es ist eine florierende Industrie des Todes. Zum Vergleich: In der ganzen Menschheitsgeschichte lebten bisher nur 100 Milliarden Menschen und in den 30 schwersten Kriegen der Menschheitsgeschichte starben „nur“ 300 Millionen Menschen. Dass jetzt 7 Milliarden Menschen auf der Welt leben, was den Fleischbedarf so enorm in die Höhe schraubt, ist letztlich nur der unnatürlichen Lebensweise in Luxus und Fortschritt zu verdanken. Woher will der Mensch, der seine Umwelt verschmutzt, durch die Medizin seine Lebenserwartung verdoppelt und ohne Strom gar nicht mehr leben könnte, also überhaupt noch das Recht nehmen, von Natürlichkeit zu reden und dadurch seinen Fleischverzehr zu rechtfertigen? Selbst, wenn wir nur Fleisch aus ökologischer, artgerechter Haltung äßen, müssten wir den Verzehr drastisch zurückfahren. Es gibt mittlerweile gar nicht mehr genug Platz für so viele Bio-Bauernhöfe (denn die brauchen Platz), um die ganze Menschheit mit Fleisch zu versorgen.

So viel zu den Essgewohnheiten des Menschen und dazu, wie sie sich verändern müssten, um weniger Tierqualen zu verursachen. Wir bewegen uns hier aber im Rahmen des Unrealistischen. Zwar liegen Vegetarismus und Veganismus im Trend – selbst auf dem Oktoberfest gibt es nun vegane Küche –, trotzdem ist es eine langsame Entwicklung und dazu kommt, dass viele Menschen diesem Lebensstil aus Ernährungsgründen folgen. Dass dabei keine Tiere ums Leben kommen, ist dann nur ein positiver Nebeneffekt.

Wie Sophie behauptet, handelt es sich beim Menschen um ein Gewohnheitstier. Wer sehen möchte, wie sich der Wandel zu einer tierfreundlichen Gesellschaft von selbst vollzieht, der kann noch lange warten. Das wird vielleicht gar nie passieren. Was kann man dann tun?

 

Mehr zu dieser Frage und zum Thema Tierrechte folgt morgen, Montag, im zweiten Teil des Artikels.