Politik | EU-Wahlanalyse

Mehrheit bleibt im Zentrum

Die EVP wurde gestärkt, die Grüne und Liberale stürzen ab, die extreme Rechte nimmt zu. Vor allem aber droht der EU jetzt Gefahr aus Frankreich.
Macron, Emmanuel
Foto: upi
  • Wie bei einer Wahl in 27 Ländern nicht anders zu erwarten, sind die Ergebnisse recht unterschiedlich. So haben sich die von den Meinungsforschungsinstituten seit langem prognostizierten spektakulären Siege der radikalen und extremen Rechten etwa in Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich und den Niederlanden bewahrheitet. Andererseits haben die teils sogar mitregierenden radikalen Rechten in Nordeuropa („Wahre Finnen“, Schwedendemokraten“, die mittlerweile sehr rechten Solzialdemokraten Dänemarks) große Einbußen erlitten, während in allen drei Ländern Linke und Grüne zu Spitzenreitern avancierten. 

    Besondere Bedeutung kommt auch den Ergebnissen in den VISEGRAD-Staaten zu. In Polen triumphierte Donald Tusks proeuropäische, „Nationalkonservative Bürgerkoalition“ mit 38% der Stimmen nach zehn Jahren über die national-reaktionäre PIS. In der Slowakei erlitt die „links“-autoritäre Smer des kürzlich angeschossenen Premiers Fico eine Niederlage gegen die liberale PS. Und einen echten Erdrutschsieg mit fast 30% erlangte in Ungarn die erst vor drei Monaten gegründete Partei TISZA von Péter Magyar – ein schwerer Schlag für Victor Orban, der erstmals nach Jahren die Stimmenmehrheit verliert.

  • Rechtslastiges EU-Parlament

    Im Vergleich zu bisher haben die Sozialdemokraten (-4), Liberalen (-23) und Grünen (-18) gemeinsam 45 Sitze verloren, die Christdemokraten der EVP (186) 10 Sitze dazugewonnen. 
    Nach vorläufigem Stand erhalten die „Konservativen & Reformer“ EKR (+4) 73 Sitze – mit Giorgia Meloni als Präsidentin, der polnischen PIS, der spanischen VOX, aber auch „Reconquète“ der Le-Pen-Nichte Marion Maréchal + Zemmour etc. 
    Die Fraktion „Identität & Demokratie“ ID (+9) kommt auf 58 Sitze – mit Marine Le Pen, Lega di Salvini, aber ohne AFD!

  • Foto: euparl.eu
  • An der Zusammensetzung und dem Stand der Sitze kann sich noch Einiges ändern, weil fast 100 gewählte Abgeordnete noch nicht fix zugeordnet werden können, so etwa jene der AFD oder des „Bündnis Sahra Wagenknecht“ u.a. 
    Trotzdem verfügen EVP, S&D und Liberale mit 400 Sitzen von 720 über eine klare Mehrheit im EU-Parlament. Zumindest auf dem Papier. Denn im Unterschied zu den nationalen Parlamenten kennt die EU-Kammer keine starren Fraktionen (sie nennen sich „groups“) und vor allem keinen Fraktionszwang. Auch ein formelles „Koalitionsabkommen“ für eine eventuelle Mehrheit gibt es nicht. Die EU-Kommission muss deshalb für jedes Vorhaben und jeden Beschluss im Parlament eine Mehrheit suchen. 

  • Der Autor

    Lorenz Gallmetzer, gebürtiger Bozner, studierte Romanistik, Geschichte und Literatur in Wien und Mailand. Ab 1981 in der Auslandsredaktion des ORF, zunächst Korrespondent in Washington, dann viele Jahre Korrespondent in Paris. Nach seiner Rückkehr nach Wien ab 2001 Reporter für das ORF-Weltjournal und 2008/2009 Sendungschef des Club 2. Heute lebt er als Publizist und Autor in Wien. Unter anderem schreibt Lorenz Gallmetzer für SALTO.

    Foto: Ella Angerer
  • Die Kommission und der Vorsitz

    Den „Regierungskurs“ des soeben gewählten Parlaments wird man durch die Wahl und Ernennung des/der Vorsitzenden der EU-Kommission sowie des Parlaments und der anderen wichtigen Posten definieren. Und da zeichnet sich schon jetzt ein ungewisses Tauziehen ab. Die EVP als Siegerin und stärkste Fraktion schlägt eine Wiederwahl der amtierenden Präsidenten Ursula von der Leyen vor. Aber vor allem bei den Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen gibt es starke Flügel, die mit deren bisherigen Arbeit gar nicht zufrieden sind. 

     

  • Foto: governo.it
  • Für die Sozialdemokraten ist die von Ursula von der Leyen bis heute nicht definitiv ausgeschlossene Absicht, auch Giorgia Meloni in die Mehrheit einzubeziehen, ein absolutes No go.

     

    Und vor allem für die Sozialdemokraten ist von der Leyens bis heute nicht definitiv ausgeschlossene Absicht, auch Giorgia Meloni in die Mehrheit einzubeziehen, ein absolutes No go. Dabei wird von der Leyen von der deutschen CSU und Teilen der ÖVP unterstützt. Schon am ersten Tag nach der Wahl meinte der bisherige EVP-Fraktionsführer Manfred Weber, wenn etwa die Linke oder die Grünen bei einer weiteren Verschärfung der Migrationsbestimmungen oder bei einer „Anpassung“ der Klimaschutzmaßnahmen nicht „mitgehen“, würde man gezwungen sein, „andere Mehrheiten“ im Parlament zu suchen. Insofern könnten Abgeordnete aus den radikal nationalistisch-rechten Lagern durchaus Einfluss und Gewicht erhalten.

  • Die „französische Gefahr“

    Seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft in den 1960er Jahren gelten im Politik-Sprech der „deutsch-französische Motor“ oder die „deutsch-französische Achse“ als Inbegriff des inneren Kerns der Union. Eine bittere Ironie der Geschichte, dass jetzt die größte Gefahr für den Zusammenhalt und für ein gutes Funktionieren der EU von Frankreich ausgeht.

    Der „Front National“ unter Jean-Marie Le Pen Vater war schon vor Jahrzehnten in Frankreich das rechtsextreme Sammelbecken des Nationalismus und der Ablehnung der EU. Seit die Tochter Marine ihren Vater ablöste und wegen seiner andauernden antisemitischen Provokationen gar aus der Partei ausgeschlossen hat, gelang der zügige Ausbau der Partei und ihrer Salonfähigkeit. Bis zur Wiederwahl Emmanuel Macrons zum Präsidenten vor zwei Jahren war es aber immer gelungen, die Politik des sogenannten „cordon sanitaire“ – eigentlich ein Ausdruck der Seuchenbekämpfung – aufrecht zu erhalten. Das bedeutete: sämtliche demokratischen Kräfte – ob linke oder konservative – bildeten bei Wahlen eine „republikanische Front“ gegen Le Pen.

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  • Bis zur Wiederwahl Emmanuel Macrons zum Präsidenten vor zwei Jahren war es aber immer gelungen, die Politik des sogenannten „cordon sanitaire“ – eigentlich ein Ausdruck der Seuchenbekämpfung – aufrecht zu erhalten.

     

    Dieser Damm ist am letzten Sonntag endgültig geborsten. Mit fast 32% für die inzwischen „Rassemblement National“ umgetaufte Partei erzielten Marine Le Pen und ihr junger, geschmeidig TikTok-wendiger Spitzenkandidat Jordan Bardella mehr als doppelt soviel Stimmen als das Bündnis des Präsidenten mit seinen nur 14,5%. Rechnet man die 5,5% der Le-Pen-Nichte Marion Maréchal mit „Reconquète“ und zwei kleine Splittergruppen dazu, dann haben 40 % der Wähler und Wählerinnen rechtsextrem und EU-feindlich gewählt. 

  • Macrons riskante Flucht nach vorn

    Allgemein bewundert und als liberaler Erneuerer gefeiert, hatte Emmanuel Macron 2017 als eines seiner Hauptziele die Zurückdrängung, ja den Sieg über die extreme Rechte genannt. Stattdessen gelang es Marine Le Pen die EU-Wahl zum Referendum gegen Macron umzufunktionieren. Sämtlicher Frust über die fehlenden Antworten auf Wirtschaftsstagnation, Inflation, soziale Ungleichheit, Klimakrise, Pandemie und Kriegsangst hat sich am sich oft überheblich und so gar nicht volksnahe gebarenden Präsidenten entladen. 

    Zur allgemeinen Überraschung, aber laut Insiderberichten schon länger als Option im kleinsten Kreis erwogen, hat Macron gestern das Parlament aufgelöst. Um das Ruder herumzureißen, die Geschicke des Landes noch einmal mit einer Offensive in die Hand zu nehmen. Ein Hochrisiko-Spiel. In nur drei Wochen, am 30. Juni findet der erste Wahlgang statt, am 7. Juli der zweite. Noch vor dem Beginn der Olympiade im Juli soll die neue Regierung stehen. 

    Das 4-Parteien Bündnis NUPES aus Linken und Grünen ist vor einem halben Jahr unter anderem wegen Differenzen zur Nahost-Krise zerbrochen. Jetzt laufen die Bemühungen auf Hochtouren, wieder eine republikanische Front auf die Beine zu bringen. Die ehemals neugaullistischen, sehr nach rechts gerückten Konservativen Republicains, mit denen Macron bisher noch Gesetze im Parlament durchgebracht hatte, landeten am Sonntag bei knapp über 7%.

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  • Macron hat gestern das Parlament aufgelöst. Um das Ruder herumzureißen, die Geschicke des Landes noch einmal mit einer Offensive in die Hand zu nehmen. Ein Hochrisiko-Spiel.

     

    Aber was Emmanuel Macron in Wirklichkeit sucht, ist das persönliche Duell: er gegen die extreme Rechte – damit sich wieder alle Republikaner um ihn scharen müssen, er also nicht weitere drei Jahre als gedemütigter, machtloser Präsident im Elysée-Palast sitzen muss. 
    In der Tat herrschen bei Parlamentswahlen andere Regeln. Zwei Durchgänge mit dem Mehrheitswahlrecht zwingen zum Eingehen von Bündnissen. Die Themen, die regionalen Gewichtungen und vor allem die Kandidaten sind andere als bei der EU-Wahl. Trotzdem ist die Gefahr, dass schon am 7. Juli Marine Le Pen und ihre Truppen die Regierung stellen, enorm hoch.

    Das hieße dann „Cohabitation“. Erstmals hat es ein solches „Zusammen-Wohnen“ zwischen einem linken Präsidenten und einer konservativen Regierung unter Francois Mitterrand gegeben. Dann einmal unter Präsident Jacques Chirac mit dem Sozialisten Lionel Jospin als Regierungschef. Laut den Bestimmungen der Fünften Republik behält der Präsident die Hoheit über Außen- und Verteidigungspolitik. Innenpolitisch kann er sich höchstens weigern, Gesetze zu unterzeichnen, wenn der innere Zusammenhalt – „die cohésion sociale“ – des Landes gefährdet ist. Zu den Sitzungen des EU-Rates reisten Chirac und der Sozialist Jospin jedenfalls immer zu zweit. 

     

    Die deutsche Ampelkoalition und Olaf Scholz abgestraft und geschwächt, die postfaschistische Giorgia Meloni belohnt und gestärkt und in Frankreich Marine Le Pen?

     

    Abgesehen von den innenpolitischen Folgen einer Machtübernahme der extrem Rechten in Frankreich, muss eine solche Perspektive europaweit Sorgen bereiten. Die deutsche Ampelkoalition und Olaf Scholz abgestraft und geschwächt, die postfaschistische Giorgia Meloni belohnt und gestärkt und in Frankreich Marine Le Pen? Die drei bedeutendsten Gründungsländer der EU angesichts der vielen Krisen, Kriege und Herausforderungen? Man kann nur hoffen, dass es in Frankreich ein Aufbegehren und einen Run auf die Wahlurnen geben wird.

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Arne Saknussemm Di., 11.06.2024 - 20:30

„Mehrheit bleibt im Zentrum“ … Genau da sollte sie eben nicht sein!
Im Zentrum bewegt sich nämlich gar nichts! Die EU wird in ein paar Jahren zerrissen sein und wenn wir Pech haben wird uns ein totalitäres System beherrschen!

Di., 11.06.2024 - 20:30 Permalink
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Josef Fulterer Mi., 12.06.2024 - 05:43

Ob eine Handlungs-fähige Mehrheit der Franzosen, dem MACRON noch einmal die Stimme geben wird, ist recht ungwiss.
Die von der LEYEN wird mit ihrer neuen Freundin, der Rechts-lastigen GIORGIA, versuchen die nicht ungefährlichen RECHTEN Klippen zu umschffen.

Mi., 12.06.2024 - 05:43 Permalink