Linker Überraschungssieg
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Schon kurz nach 20 Uhr füllten am Sonntagabend zehntausende vor allem junge Frauen und Burschen die Straßen von Paris, die Place de la République und Plätze in den anderen großen Städten. Jubel, Umarmungen, Freudentränen und Sprechchöre zeugten von riesiger Erleichterung. Immerhin hatten fast 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht für die Rechtsextremen gestimmt. Erst nach Stunden der Feststimmung kam es am Rande zu Zusammenstößen kleiner, oft maskierter Grüppchen mit der massiv angerückten Polizei.
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Der „cordon sanitaire“, die „republikanische Front“ hat gehalten
Diese politische Strategie der „Brandmauer“, wie sie in Deutschland und Österreich genannt wird, hat in Frankreich Tradition und wird durch das Mehrheitswahlrecht erleichtert. An diesem Sonntag hatten sich 130 KandidatInnen des Linksbündnisses und 81 des Macron-Bündnisses bei der Stichwahl zurückgezogen, wenn dadurch der Sieg über eine Kandidatin oder einen Kandidaten des „Rassemblement National“ bessere Chancen hatte. Diese Vereinbarungen haben zwar großen Einfluss auf die Vergabe der Sitze im Parlament, auch wenn sie die Größenverhältnisse in Zahlen und Prozenten der Stimmen nicht deckungsgleich wiedergeben.
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Das Ergebnis*
„Nouveau Front Populaire“
(Linksbündnis)
182 Sitze | 9.066.643 St. | 28,28%
Ensemble
(Macron + Verbündete)
168 Sitze | 6.984.393 St. | 21,79%
„Rassemblement National“
(Le Pen)
143 Sitze | 10.691.931 St. | 33,35%
„Les Républicains“
(Neo-Gaullisten)
66 Sitze | 2.322.923 St. | 7,25%
Diverse Rechte + Linke + Regionalisten
18 Sitze | ca. 2,6 Mio St. | 8%
* Stand 08/07 – 18 Uhr. -
Aber wer soll jetzt regieren?
Präsident Macron hat sich am Wahlabend nicht blicken lassen. Er wolle abwarten, bis sich die Kräfte im Parlament „strukturiert“ hätten, ließ er mitteilen. Ob er sich vor seiner Abreise nach Washington zum NATO-Gipfel am Dienstag erklären wird, ist fraglich. Mit seiner überstürzten Ausrufung von Neuwahlen, wollte er eine Klärung der politischen Landschaft erreichen – das Gegenteil ist eingetreten. Keiner der drei Blöcke in der Assemblée Nationale kommt auch nur in die Nähe der nötigen 289 Abgeordnetensitze für eine Regierungsmehrheit. Echte Koalitionen der bisher sich heftig bekämpfenden Parteien – Republikaner, Makronisten, Linke – sind kaum vorstellbar und würden wohl auch von vielen Wählerinnen und Wähler als vor der Wahl nicht angekündigte Packelei oder gar Verrat empfunden werden.
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Unser Programm, nichts als das Programm, das ganze Programm!!
Dementsprechend ist der Volkstribun und radikale Anführer der stärksten Partei innerhalb des Linksbündnisses „Nouveau Front Populaire“ Jean-Luc Mélenchon schon 15 Minuten nach Bekanntgabe der Hochrechnungen vor seine Anhänger auf der Place de la République getreten, um den Anspruch auf die Regierung zu stellen. „Macron ist geschlagen, er muss sich beugen und anerkennen, dass wir die führende Kraft sind. Wir werden uns mit ihm und den Seinen nicht arrangieren, uns zu keinen Kombinationen herablassen. Ab sofort werden wir unser Programm, nichts als das Programm und zwar das ganze Programm verwirklichen!“ Massenapplaus und Jubel waren garantiert.
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Als Sofortmaßnahmen stünden demnach an erster Stelle:
- Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von 1.400 auf 1.600 Euro netto.
- Annullierung der Pensionsreform Macrons und Rückkehr des möglichen Antrittsalters von 64 Jahren auf 60.
- Blockierung der Verbraucherpreise auf sämtliche Grundnahrungsmittel, Energiepreise und Treibstoff
Die Annullierung der erst kürzlich von Macron, Républicains und Le-Pen- Partei beschlossenen Immigrationsreform mit zahlreichen Verschärfungen Maßnahmen zu Steuern, Banken, Polizei und radikaler Ökoreform sollen folgen.
Die Reaktionen der Vertreter der Macron-Partei und ihrer Verbündeten in dem Dutzend Sondersendungen in TV und Radio waren erwartbar: händeringendes Kopfschütteln, heftige Ablehnung bis hin zur Beschwörung einer Wirtschafts- und Finanzkatastrophe für das mit dreitausend Milliarden EURO ohnehin hoch verschuldete Land. -
Eine neue politische Kultur
Aber selbst von den Partnern Mélenchons waren gemäßigtere Töne bis hin zu Distanzierungen zu hören. Denn die Wahlen haben auch innerhalb des Linksbündnisses zu einer Verschiebung der Gewichte geführt. Mélenchon hat in den letzten Jahren die bis zur Bedeutungslosigkeit zersplitterte Linke wieder aufgebaut, geeint und als Anführer dominiert. Aber inzwischen verfügen Sozialdemokraten, Grüne und Kommunisten mit rund 100 über mehr Sitze im neuen Parlament als Mélenchons „La France Insomise“ (LFI, die Unbeugsamen) mit 71. Auch sind neue Führungsfiguren aus dem Schatten Mélenchons getreten, wie die Parteichefin der Grünen Marine Tondelier und vor allem der Sozialdemokrat Raphael Glucksmann (Sohn des prominenten, verstorbenen Philosophen André).
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Bei der EU-Wahl erhielt Glucksmann 14% der Stimmen, gegen 11% für Mélenchon. Und er war es, der durchgesetzt hat, dass im Programm des neuen Linksbündnisses die Verurteilung der palästinensischen Hamas als Terrororganisation, das Bekenntnis zur EU und zur Unterstützung der Ukraine verankert wurden. Jetzt fordert Glucksmann eine „neue politische Kultur“. „Wir müssen in Frankreich endlich erwachsen werden, die Brutalisierung der politischen Außeinandersetzung überwinden, wir müssen zu Kompromissen fähig sein und gemeinsame Lösungen finden, den Parlamentarismus ernst nehmen“, fordert er.
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Mit „Projekt-Mehrheiten“ regieren?
Glucksmann schwebt eine Methode vor, wie sie auch der scheidende junge Premierminister Macrons Gabriel Attal vorschlägt. Nachdem laut Wahlgesetz eine weitere Auflösung des Parlaments für die Dauer eines Jahres untersagt ist, müsse man rund um konkrete Gesetzesvorhaben jeweils Mehrheiten suchen – „Projekt-Mehrheiten“ eben. Klingt vernünftig, spiegelt aber auch die Absicht des Macron-Lagers wieder, trotz der eigenen Verluste von knapp 70 Sitzen, die Zusammenarbeit auf die gemäßigten, „präsentablen“ Kräfte des Linksbündnisses zu reduzieren. Zumindest kurzfristig wird sich das Linksbündnis wohl kaum spalten lassen, aber möglicherweise können Mélenchon und seine LFI zu mehr Kompromissbereitschaft bewegt werden. Erstes Kräftemessen wird jedenfalls die Wahl eines Anwärters auf den Posten des Regierungschefs, den das Linksbündnis bis spätestens 18. Juli Präsident Macron vorschlagen will.
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Marine Le Pen – verloren, obwohl gewonnen
Zwischen ungläubig, niedergeschlagen und empört waren die knapp fünfhundert Vertreter und Anhänger des „Rassemblement National“, die am Sonntag in festlicher Kleidung und auf ein großes Fest eingestellt, zum Wahlabend ihrer Partei erschienen. Von gestohlenem Wahlerfolg war viel die Rede. Die Pariser Eliten hätten das Volk wieder einmal durch „widernatürliche“ Bündnisse und Abmachungen um ihr Recht auf einen radikalen Wandel gebracht.
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Während Marine Le Pen in einem kurzen TV-Auftritt ihre Revanche für die Präsidentenwahl 2027 ankündigte, trat ihr Zögling und Parteichef Jordan Bardella mit ernster Miene, in Anzug und Krawatte und vor der Trikolore-Fahne staatstragend auf. Auch er geißelte die Absprachen der anderen Parteien als „Schande“ und als „gestohlene Mehrheit“. In der Tat hat die extreme Rechte mit 10,6 Millionen ihre Stimmenanzahl im Vergleich zur Parlamentswahl 2022 mehr als verdoppeln können und mehr als 50 Sitze dazugewonnen.
„Das Referendum gegen die extreme Rechte hat Frankreich vor dem Abrutschen in eine nationalistische, xenophobe und illiberale Demokratie noch einmal bewahrt.“
Fazit: das Referendum gegen die extreme Rechte hat Frankreich vor dem Abrutschen in eine nationalistische, xenophobe und illiberale Demokratie noch einmal bewahrt. Und damit auch eine ernsthafte Krise in Europa vermieden, auch wenn ein geschwächter Präsident Macron ohne stabile Regierung auch so zum Problem für seine EU-Partner werden wird. Ebenso fraglich bleibt, ob sämtliche demokratischen Verantwortungsträger in Politik, Wirtschaft und den Medien Frankreichs die Gefahrenwarnung ernst nehmen. Denn wie groß der Unmut in der Bevölkerung und der Wunsch nach radikaler Besserung ist, zeigt ein Wahlergebnis, das sich alle in Erinnerung rufen sollten.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2022, also vor nur 2 Jahren, als es galt, sich in der Stichwahl nur mehr zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen zu entscheiden, erhielt Marine Le Pen ganze 13 Millionen Stimmen und 41%. -
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Macron hat sich in die Geiselhaft der Linken bis Linksextremen begeben, die eilig eigens ein Wahlbündnis geschlossen hatten um Le Pen zu verhindern (Brandmauer) .Durch strategische Absprachen mit diesen hat sich Macron, obwohl verloren , an der Macht gehalten.
Das RN von Le Pen das einzeln angetreten war, konnte hingegen am meisten Prozentpunkte und am meisten Wählerstimmen verbuchen, sich also nahezu verdoppeln.
Schauen wir mal welche Zugeständnisse Macron der extremen Linken um Melenchon machen muss, seine Reformen der letzten Jahre sollen ja allesamt abgeräumt werden, ( bei einem ohnehin hochverschuldet Land) sonst drohen sie wie gehabt, die Straße zu mobilisieren.
Le Pen kann sich auf ihrem Wahlerfolg zurücklehnen und dem zu erwartenden Chaos zuschauen.
Das Mehrheitswahlrecht macht es möglich.
Genau wie in Großbritannien wo die Labour Partei lediglich um gut 1 Prozent zulegen konnte aber an Sitzen enorm zulegte ( der Gewinner bekommt alles), während die Partei Nigel Farages Stimmen der Tories abräumen und um 14 Prozent zulegen konnte. Zusammen mit den Tories hätten sie nach unserem Verhältniswahlrecht die Mehrheit.
Das kann man kritisieren oder nicht. Darauf werden jedenfalls Strategien aufgebaut. Ob diese dann dem Wählerwillen entsprechen ist fraglich.
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Antwort auf Ein antisemitischer,… von Cicero
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Sie haben das schon irgendwo anders gepostet, stimmt aber dennoch nicht.
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Die Mitte hat sich dem Kapital verkauft und wird deshalb nicht mehr gewählt. Der Pöbel hat die meisten Stimmen und hat so langsam verstanden, dass er zu lange von den Neoliberalen verarscht wurde.