Gesellschaft | Sprache

"Wo ist die Südtiroler Identität?"

Silba Staffler ist 19 Jahre alt. Aufgewachsen in Brüssel, mit Eltern verschiedener Sprache. Sie sagt: "Ich habe viele Heimaten, viele Identitäten - und ich genieße es."

Frau Staffler, Sie sind jetzt 19 Jahre alt, sprechen vier Sprachen fließend.  Mehrsprachig zu sein ist für Sie Normalität?

Ja. Meine Mutter ist Französin, mein Vater ist aus Südtirol, seine Muttersprache ist Deutsch. Ich bin in Brüssel geboren, bin aber jeden Sommer nach Bozen gekommen. Aufgewachsen bin ich also mit Französisch und Deutsch. Als ich sechs war, bin ich dann nach Rom gezogen mit meinen Eltern.

Da kam dann eine dritte Sprache dazu?

Ja, ich bin in eine Art italienischen Kindergarten gegangen. Der war zweisprachig: Italienisch und Französisch. In zwei Monaten habe ich Italienisch gelernt, nach anderthalb Jahren sind wir dann wieder nach Brüssel zurückgegangen. Und ich bin auf eine Europäische Schule gekommen.

Wie kann man sich eine Europäische Schule vorstellen?

In Brüssel gibt es drei davon, 3.000 Schüler waren auf meiner Schule. Diese Europäischen Schulen wurden auf der Idee von der Europäischen Union gegründet. Das Potential der Verschiedenheit Europas sollte zusammengebracht werden. Anfänglich waren die Europäischen Schulen für Kinder von Eltern, die für die Europäische Union arbeiteten, doch das hat sich im Laufe der Zeit geändert. Theoretisch können sich alle Kinder einschreiben, aber das wird noch wenig in Anspruch genommen.

Und wie funktioniert das Sprachen lernen in einer Europäischen Schule?

In meiner Schule gab es elf verschiedene Sprachen. Und für jede Sprache mehrere Klassen. Es gibt finnische Klassen, englische Klassen, deutsche Klassen, französische Klassen. Ich bin in die italienische Klasse gegangen, wo auch Deutsch unterrichtet wurde, als Sprachunterricht. Meine Eltern fanden es schade, wenn ich das Italienische verliere. Denn es ist ja auch Teil meiner Identität. Mit einem Südtiroler Vater.

Schulsprache war Italienisch in Ihrer Klasse. Und wie reden die Schüler untereinander?

Eigentlich Französisch und auch ein bisschen Englisch. Unterrichtet wurde in meiner Klasse Italienisch und Deutsch. In der ersten Klasse Mittelschule kann man dann in einem Fach eine zweite Sprache dazu nehmen. Da hab ich dann Geschichte und Geographie auf Deutsch besucht. Zum Sprachunterricht kommt der Fachunterricht dazu. Die Sprache entscheidet jeder Schüler individuell. Wählen kann man aus Deutsch, Englisch oder Französisch. Weil es die drei offiziellen Sprachen der EU sind.

Ihre Sprachen waren also Italienisch und Deutsch und wie ging es weiter?

In der dritten Klasse Mittelschule kann man eine dritte Sprache dazunehmen. Ich habe mich für Englisch entschieden.

Hohe Anforderungen an die LehrerInnen?

Das sind durchwegs Muttersprachler. Aber etwas ist ganz wesentlich: das Gefühl, das in so einer Schule herrscht. Man kommt mit dem Gefühl heraus, Europäer zu sein. Es gibt keine Probleme in der Schule mit Leuten, die eine andere Sprache sprechen.

Und was ist dann mit der Identität? Verwischt die denn bei so viel Sprachen?

Das ist ganz interessant, denn das fragt ja jeder. Woher kommst du? Wenn ich das von der europäischen Schule erzähle, brauchen die Leute erst mal Zeit, das zu verstehen. Denn wenn man da drinnen ist, in dieser Schule, dann ist es einfach etwas ganz Natürliches. Dieses Zusammensein von verschiedenen Sprachen. Es hat mich sehr flexibel gemacht und auch bei den beruflichen Bewerbungen merke ich es: Sprachkompetenz ist ungemein wichtig.

War es denn nicht auch schwierig, sich in diesen ganzen Sprachen zurecht zu finden?

Als ich Deutsch und Französisch hatte, ja, da war es etwas schwierig, das auseinander zu halten. Aber mit den zwei Sprachen im Gehirn wurde es zunehmend einfacher. Ich hab mich sehr leicht getan, Italienisch und dann auch Englisch mit reinzunehmen. Sprache hält mich flexibel. Je mehr Sprachen man lernt, um so mehr schult man auch die Fähigkeit, Sprachen zu lernen. Das Gehirn ist ein Muskel, der trainiert wird.

Man kommt mit dem Gefühl heraus, Europäer zu sein. Es gibt keine Probleme in der Schule mit Leuten, die eine andere Sprache sprechen.

Mehrsprachige Schulen sind nichts für Kinder, die sich im Sprachen lernen schwer tun. Richtig?

Ich glaube, dass kein Kind sich von Anfang an schwer tut Sprachen zu lernen. Es kann sein, dass bestimmte Kinder länger brauchen als andere, aber ist das bei Mathematik nicht auch so? Da sagt niemand, „wir können jetzt nicht Mathematik lernen.“ Aber bei Sprachen wird in Südtirol merkwürdig argumentiert. Ich kann nur sagen, dass die Schule in Brüssel es sehr gut gemacht hat. Weil sie die Sprachen langsam mit reingenommen hat. Ich habe in meiner Schule bei 3.000 SchülerInnnen nie Leute gesehen, die sich schwer getan haben mit Sprachen. Sicher waren einige besser als andere, aber wo ist das Problem?

In Südtirol, wo die Mehrsprachigkeit vor der Haustür liegt, nutzen wir die Gelegenheit viel zu wenig?

Auf jeden Fall. Ich bin ja immer wieder in Bozen und hab Freunde dort. Die deutschsprachig sind. Und die reden dann alle von den Italienern so, als sei es ein komplett verschiedenes Volk. Fast so, als ob es eine Schande wäre, sich zu nähern. Wenn ich jemanden treffe, dann geht meine Geschichte schon los, und auf die bin ich stolz. Ich erzähle, dass meine Mutter Französin ist, mein Vater aus dem nördlichen Teil Italiens kommt, wo man Deutsch spricht. Dass ich in Brüssel aufgewachsen bin.

Deutsche und italienische SüdtirolerInnen - sie haben noch immer wenig gemeinsam?

Das ist ja das Tragische. Sie kommen eigentlich aus einem Land, müssten eine Identität haben, die Südtiroler Identität halt, aber dann ist alles getrennt. Sie gehen in anderen Orten in der Stadt aus, kennen sich nicht. Ich finde das eigentlich ein bisschen traurig. Weil es Leute sind, die einfach viel voneinander lernen könnten. Sie trauen sich nicht zu sprechen, da sie in der Schule nur wenige Stunden in der jeweiligen anderen Sprache haben. Und das versteh ich: Wenn man miteinander spricht, muss man sich ja wohl fühlen in der Sprache.

Die Südtiroler Identität, wie ist die denn?

Für mich hat das viel mit Reichtum zu tun. Mit einem Sprachschatz, der endlich gehoben werden muss. Es kann doch nicht sein, dass die Zweisprachigkeit vor der Nase liegt und wir sie nicht nutzen, man profitiert nicht von ihr. Und dann gibt es eben keine Südtiroler Identität, weil die Mauer zu hoch ist. Dann gibt es eine deutschsprachige Identität und eine italienischsprachige Identität.

Schafft Sprache denn Identität? Oder errichtet sie nur Mauern?

Ich glaube, dass Sprache nicht mehr die Nummer eins ist, was eine Identität ausmacht. Alle meine Sprachen sind ein Teil meiner Identität. All das ist Teil meiner Personalität. Ich bin meinen Eltern sehr dankbar, dass sie mir diese Vielfalt ermöglicht haben. Durch meine vielen Identitäten hab ich eigentlich mehr Heimat.

Sie kommen eigentlich aus einem Land, müssten eine Identität haben, die Südtiroler Idenität halt, aber dann ist alles getrennt. Sie gehen in anderen Orten in der Stadt aus, kennen sich nicht. Ich finde das eigentlich ein bisschen traurig.

Ihr kleiner Bruder muss bald wählen, ob er die deutsche oder die italienische Schule besuchen wird.

Leo ist fünf. Sein Vater, der Uwe, ist deutschsprachig, und seine Mutter ist italienischsprachig. Leo hat den deutschen Kindergarten besucht, im Hof haben sie viel Italienisch geredet. Aber jetzt müssen sie wählen, ob er auf die deutsche Schule oder auf die italienische geht. Er kann beide Sprachen gut, er kann sich in beiden Sprachen gut ausdrücken. Wenn er entscheiden könnte, würde er sicherlich auf eine zweisprachige Schule gehen. Diese zweisprachige Identität ist eine Südtiroler Realtität, die existiert und es ist schade, dass das ignoriert wird. Wenn Leo sich entscheiden muss, was ist dann mit seiner zweisprachigen Identität?

Und Südtirols Schule, vor allem die Deutsche, "schläft weiter vor sich hin", wie Ihr Vater Uwe Staffler kürzlich sagte. Öffnet sich nicht wirklich?

Die Schule, die Politik schlussendlich. Die Parteien schlagen sich auf die deutsche oder auf die italienische Seite.  Wenn sie endlich die Sprache beiseite lassen würden, dann würden diese Differenzen fallen. Und alles wäre nicht mehr relevant.

Diese zweisprachige Identität ist eine Südtiroler Realtität, die existiert und es ist schade, dass das ignoriert wird. Wenn Leo sich entscheiden muss, was ist dann mit seiner zweisprachigen Identität?

Dann wäre auch ein echtes Verstehen endlich möglich?

Ja, denn vergessen wir nicht: Es gibt die Sprache der Liebe. Ein Kumpel von mir hat sich in eine italienischsprachige Südtirolerin verliebt. Und dann ist alles egal. Dann fällt die Mauer und es wächst das Verständnis.