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Doch kein „Volkskanzler“?

Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen erteilte ÖVP Karl Nehammer den Auftrag zur Regierungsbildung, trotz FPÖ-Wahlsieg. Neben der SPÖ könnten die NEOS oder die Grünen als dritter Partner für eine stabile Regierung infrage kommen.
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  • Österreichischer Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat gestern, am Dienstag, dem 22. Oktober 2024, eine überraschende Entscheidung getroffen: Er beauftragte ÖVP-Chef Karl Nehammer mit der Regierungsbildung, obwohl die FPÖ unter Herbert Kickl als Wahlsieger aus der Nationalratswahl hervorgegangen ist. Van der Bellen begründete diesen Schritt damit, dass Kickl keinen Koalitionspartner finde, der bereit sei, ihn als Bundeskanzler zu akzeptieren. Nehammer soll nun Verhandlungen mit der SPÖ aufnehmen, wobei auch ein dritter Partner, die NEOS oder die Grünen, notwendig ist, um eine stabile Mehrheit zu sichern. Diese Entscheidung löste eine Welle der Entrüstung bei den Freiheitlichen aus. Sowohl Kickl als auch führende FPÖ-Vertreter aus den Bundesländern kritisierten den Bundespräsidenten scharf und warfen ihm vor, den Wahlsieg der FPÖ zu ignorieren und eine „Koalition der Gescheiterten“ zu unterstützen, so berichtet der Standard.

     

    „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.“

     

    Kickl betonte in einer Stellungnahme, dass das „letzte Wort noch nicht gesprochen“ sei und verwies darauf, dass die FPÖ in mehreren Bundesländern bereits erfolgreich in Regierungskoalitionen eingebunden sei. Gleichzeitig unterstrichen führende FPÖ-Politiker, dass die Entscheidung Van der Bellens als Bruch mit demokratischen Traditionen gesehen werde. Dies sei ein „Schlag ins Gesicht“ für die fast 30 Prozent der Wähler, die der FPÖ ihre Stimme gegeben haben.

  • Ausgang der Nationalratswahl 2024

    Bei der Wahl Ende September gewann die FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs) mit 29 % der Stimmen, während die ÖVP (Österreichische Volkspartei) auf 26 % fiel und die SPÖ (Sozialdemokratische Partei Österreichs) mit 21 % ihr schlechtestes Ergebnis erzielte. Die NEOS (Das Neue Österreich und Liberales Forum) kamen auf 9 %, und die Grünen (Die grüne Alternative), die bisher in einer Koalition mit der ÖVP regiert hatten, erhielten 8 %. 

  • Van der Bellen erklärte, dass die Wahl kein Wettbewerb sei, bei dem der Erste automatisch die Regierung bilde. Er betonte, dass keine Partei eine absolute Mehrheit erlangt habe und daher Zusammenarbeit notwendig sei. Da zahlreiche Parteien eine Zusammenarbeit mit der FPÖ kategorisch ausschließen, sei der Auftrag an Nehammer die einzig sinnvolle Option, um eine stabile Regierung zu bilden. Der Bundespräsident verwies dabei auch auf inhaltliche Bedenken gegenüber der FPÖ, die von anderen Parteien geäußert wurden. Darunter die Nähe zu Russland, die EU-skeptischen Positionen der Partei und die mangelnde Abgrenzung zu rechtsextremen Strömungen.

     

  • Eine türkis-rote Koalition für Österreich?

    Karl Nehammer (ÖVP): Der Bundeskanzler betonte, dass Reformen in zentralen Bereichen wie Wirtschaft, Migration und Gesundheitsversorgung notwendig seien, um dem Wählerwillen gerecht zu werden. Foto: Facebook

    Karl Nehammer (ÖVP) nahm den Auftrag „in aller Ernsthaftigkeit“ an und kündigte an, in den kommenden Wochen vertiefende Verhandlungen mit der SPÖ zu führen. Er betonte, dass Reformen in zentralen Bereichen wie Wirtschaft, Migration und Gesundheitsversorgung notwendig seien, um dem Wählerwillen gerecht zu werden. Ob diese Gespräche zu einer neuen Regierung führen, bleibt offen. Mit dem knappen Wahlausgang und den komplizierten Mehrheitsverhältnissen könnte Österreich vor einer türkis-roten Koalition stehen. Diese Konstellation könnte unter den aktuellen Bedingungen eine realistische Option sein. 

    Die SPÖ zeigte sich offen für Verhandlungen mit der ÖVP, betonte aber, dass eine Koalition nur zustande komme, wenn „reale Verbesserungen für die Bevölkerung“ erreicht werden. Für die SPÖ steht dabei vor allem die soziale Gerechtigkeit im Fokus, einschließlich einer gerechteren Verteilung der Steuerlast und Reformen im Gesundheits- und Bildungsbereich. Aufgrund der knappen Mehrheit von ÖVP und SPÖ wird ein dritter Partner benötigt. Sowohl die NEOS als auch die Grünen könnten dabei als Koalitionspartner in Frage kommen. Beide Parteien signalisierten ihre Bereitschaft, an Sondierungsgesprächen teilzunehmen, wobei sie eine Zusammenarbeit an Reformen und Vertrauen knüpften.

     

  • Erfolg durch Zusammenarbeit

    Mit der Entscheidung, Nehammer den Auftrag zu erteilen, wird das traditionelle Vorgehen in Österreich, die stimmenstärkste Partei mit der Regierungsbildung zu beauftragen, durchbrochen. Van der Bellen verwies darauf, dass dies nicht verfassungsrechtlich vorgeschrieben sei, sondern dass der Bundespräsident die Aufgabe habe, eine stabile und handlungsfähige Regierung sicherzustellen. Van der Bellen unterstrich in seiner Stellungnahme, dass in einer Demokratie niemand allein das Volk für sich beanspruchen könne. Er verwies auf die Notwendigkeit einer stabilen Regierungskoalition, die auf einer Mehrheit von über 50 Prozent im Nationalrat basiert. Diese Mehrheit sei erforderlich, um die Herausforderungen des Landes, insbesondere in den Bereichen Wirtschaft, soziale Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit, erfolgreich anzugehen.

    Die kommenden Wochen werden zeigen, ob es der ÖVP gelingt, mit der SPÖ und einem weiteren Partner eine stabile Regierung zu bilden, oder ob Österreich möglicherweise mit weiteren politischen Verwerfungen konfrontiert wird.