„Stigma ist die zweite Krankheit“
![Barbara Plagg](/sites/default/files/styles/ar/public/2025-01/plagg.jpg?h=6ef92286&itok=QRXNOMRz)
-
SALTO: Frau Plagg, was hat sie dazu inspiriert, Ihre beiden Sachbücher „Sternenkinder- Wissen und Trost“ und „Smart bis zum Sarg: Gesundes Gehirn, starkes Gedächtnis“ bzw. Ihr Theaterstück „72 Stunden: eine Anklage“ zu schreiben?
Barbara Plagg: Zweimal die wissenschaftliche und einmal die gesellschaftliche Notwendigkeit. Ich beginne mal mit dem ältesten Werk: „72 Stunden - Eine Anklage“ ist nach dem Mord an Barbara Rauch entstanden. Eigentlich wollten wir alle zusammentrommeln und auf die Straße gehen, um der Fassungslosigkeit und der Trauer Ausdruck geben. Aber es war Pandemie und mein Schwiegervater meinte dann: „Lass die Wut doch lieber ein Theater schreiben. Damit erreichst du mehr als mit einer Demo, einem Vortrag oder einer Kolumne.” Erst fand ich das blöd, wie soll denn so ein Theaterstück bitte aussehen? Aber es ging mir nicht mehr aus dem Kopf, ich musste immer wieder dran denken und hab mich dann in den Weihnachtsferien 2020 an den Laptop gesetzt und das Stück runtergeschrieben. Es ist schön, dass es immer wieder irgendwo im deutschsprachigen Raum aufgeführt wird und es ist entsetzlich, dass es immer noch aufgeführt werden muss und nicht an Aktualität verliert. Das nächste Buch, „Sternenkinder – Wissen und Trost” entstand dann quasi auf Wunsch der SUSIS (Südtirol Sisters), das Thema aus der Tabuzone zu holen. Eltern, die ein Kind in der Schwangerschaft verlieren, stellen sich viele Fragen: habe ich Schuld daran, wie geht eigentlich eine Fehlgeburt vonstatten, was sind meine medizinischen, rechtlichen und bestattungstechnischen Möglichkeiten und und und. Das Buch gibt Antworten, weil in all der Trauer hilft es, sich nicht auf Halb- und Unwissen stützen zu müssen. Und last but not least ist jetzt ein witziges Buch entstanden: „Smart bis zum Sarg.” Eigentlich ist es auch aus einem schmerzhaften Grund entstanden: In meiner Arbeit in der Gedächtnissprechstunde am Uniklinikum München haben mich Angehörige von Demenzpatient*innen immer wieder gefragt: „Kann ich irgendwas tun, damit es mich nicht trifft?“ Also habe ich angefangen, Studien zusammenzutragen und Wissen zu sammeln. All das steckt jetzt in diesem Buch.
„Wegzuschauen, wo es schwierig wird, das hat uns als Gesellschaft noch nie weitergebracht.“
Was bedeutet der Begriff Tabuthema? Gibt es überhaupt Tabuthemen, und sollte alles öffentlich angesprochen werden?
Klar gibt es Tabuthemen. Und ja, wir sollten einen offenen und sensiblen Umgang mit Tabuthemen finden. Denn wo Tabus sind, ist das Leid, das Unwissen und die Berührungsangst immer groß. In der Präventivmedizin sagen wir immer: Stigma ist die zweite Krankheit. Neben der eigentlichen Erkrankung kriegt man dann auch noch die gesellschaftliche Ausgrenzung, Vorurteile und Scham obendrauf als zusätzliche Belastung ab.
Wieso ist es Ihnen wichtig, genau über solche Themen zu reden?
Hm, ich glaube, man müsste die Frage anders stellen: Warum ist es anderen Menschen nicht wichtig, darüber zu reden? Gerade die schweren, komplexen und traurigen Themen sollte man sich doch genauer anschauen, damit sie leichter, verständlicher und vor allem bewältigbar werden. Wegzuschauen, wo es schwierig wird, das hat uns als Gesellschaft noch nie weitergebracht. Es ist schlimm, wenn Kinder in der Schwangerschaft sterben, es ist entsetzlich, dass Frauen ermordet werden und es ist ein Albtraum, langsam sein Gedächtnis zu verlieren. Aber am allerschlimmsten ist, all diesen schrecklichen Sachen gegenüber handlungsunfähig zu bleiben. Wenn man sich hingegen traut, in diese dunklen Ecken reinzuschauen, wird man dort nicht nur Verzweiflung und Verletzung, sondern auch Halt und Handlungsmöglichkeiten finden.
Fällt es Ihnen leicht, Tabuthemen anzusprechen?
Ja. Aber das heißt nicht, dass es mich nicht auch traurig macht. Ich habe sehr viel geweint, als ich „Sternenkinder” geschrieben habe und mich mit den verwaisten Mamis und Papis ausgetauscht habe und es gibt eine Stelle im Theaterstück, die wirft mich jedes Mal komplett aus der Bahn. Aber es fällt mir leicht, mir zuzumuten, damit einen Umgang zu finden.
-
Wie gelingt es, komplexe Inhalte einfach und verständlich wiederzugeben?
Das ist eine gute Frage, weil das ist gar nicht so einfach! Viele Menschen kommen aus der Arztpraxis und haben nur 20% von dem verstanden, was gesagt wurde. Wissenschaft verständlich zu machen, ist eine echte Herausforderung. Vor allem, wenn man sich selbst seit Jahren superdetailliert mit einem Fach beschäftigt. Aber als Arbeitergöre fällt mir das gar nicht so schwer. Ich weiß ja, wie man aufm Bau und in der Arbeitermensa redet. Ich ess da ja noch immer. (lacht) Ich habe in diesem Fall sozusagen ein Privileg dadurch, dass ich keines hatte. Mein Lackmustest bei den Texten sind immer fachfremde Freund*innen und Familienmitglieder, denen ich die Texte oft zum Probelesen gebe. Verstehen die, was ich geschrieben habe? Wenn nein, dann schreibe ich es so lange um, bis das klappt. Oft ist aber weniger das Verständnis als das Interesse bei wissenschaftlichen Texten das Problem.
Und wie schaffen Sie es, dieses Problem zu lösen?
Mit Humor. Denn Wissenschaft kann auch witzig sein. Das sind die mir liebsten Komplimente, die ich bislang in den Rezensionen zum Buch „Smart bis zum Sarg” bekommen habe, dass die Leute es wirklich witzig finden. Einer hat mir geschrieben, dass er echt oft laut auflachen musste. Das freut mich so!
Wen möchten Sie mit Ihren Werken ansprechen?
Alle. Aber meistens erwischt man dann halt doch nur eine bestimmte Zielgruppe. Bei „Sternenkinder” sind es betroffene Eltern, auch wenn das Buch für alle wichtig wäre und zwar schon im Vorfeld, weil jede sechste Schwangerschaft endet in einer Fehlgeburt und wie man damit umgeht, sollten wir eigentlich in der Schule lernen. Beim Theaterstück sind es durch Schulaufführungen und weil es vor allem von jungen Theatergruppen gespielt wird, eher jüngere Menschen, auch wenn es für jedes Alter funktioniert. „Smart bis zum Sarg“ wäre dann wiederum ein Buch für alle Menschen mit Hirn. Lesen tun es aber vor allem Menschen ab Ende 30. Weil vorher denkt man ja nicht daran, dass man irgendwann mal älter wird.
„Da ist System dahinter. Das sind keine Zufälle. Und bis wir nichts ändern, tragen wir alle dem System bei.“
Warum wurden so viele Schulklassen zu Ihrem Theater eingeladen?
Weil das Theaterstück für ein wichtiges Thema sensibilisiert und Zusammenhänge plastisch aufzeigt. Und mit Schulklassen fängt man alle ab: Linke, Rechte, Jungs, Mädchen, Schüchterne, Gewaltbereite, Reflektierte, weniger Reflektierte. Einige von denen kriegt man später ja nur noch schlecht ins Theater.
Welche Botschaft möchten Sie durch Ihre Werke vermitteln?
Die Sachbücher möchten in erster Linie Wissen, Handlungsfähigkeit und Zuversicht vermitteln. Und mit „Smart bis zum Sarg” möchte ich die Menschen außerdem zum Lachen bringen und ihnen mitgeben, dass sie ihr fantastisches Gehirn, ein wirklich unpackbar geniales Organ, schätzen lernen. Mit dem Theaterstück möchte ich Zusammenhänge aufzeigen, begreiflich machen, warum Femizide immer und immer wieder passieren und deutlich machen: Da ist System dahinter. Das sind keine Zufälle. Und bis wir nichts ändern, tragen wir alle dem System bei.
Wann sollte man damit anfangen, sich vor Demenz zu schützen?
Eigentlich ab dann, wenn man mit seinem Gehirn an den Start geht. Prävention beginnt ja tatsächlich bereits im Kindesalter. Wie viel ich mich als Kind bewege, was ich esse und welche Bildung ich genieße hat einen großen Einfluss auf meine spätere Gehirngesundheit. Es ist also genaugenommen nie zu früh, aber ist auch nie zu spät für Prävention. Egal welchen Alters kann ich immer noch sehr viel für mein Gehirn rausholen.
-
Zwischen Bewegung, Ernährung, Unterhaltung, Digitalisierung, Freundschaft, Liebe, Stress, Humor, Schlaf, Umwelt und Erkrankungen, welche alle in „Smart bis zum Sarg“ thematisiert werden, was beeinflusst unser Gehirn am meisten?
Das ist eine schwierige Frage, weil alles ist wichtig. Klar, wenn Sie morgen aufhören zu essen, dann haben Sie recht bald ein Problem. Wenn Sie sich nicht ausreichend bewegen, wird hingegen lange erstmal nichts passieren, aber irgendwann wird auch das zum Problem. Es gibt nicht den einen wichtigen Supertipp, der für alle funktioniert und damit bleibt dann jedes Gedächtnis fit. Jedes Gedächtnis hat ein anderes Leben auf dem Buckel. Vielleicht ernähren Sie sich super, aber Sie liegen jede Nacht stundenlang wach? Vielleicht lesen Sie wahnsinnig viel, aber gehen keine hundert Schritte pro Tag? Vielleicht schlafen sie gut und ernähren sich super, haben aber einen nicht eingestellten Bluthochdruck und einen Wahnsinnsstress bei der Arbeit? Für jede*n dieser Leser*innen wird dann ein anderes Kapitel im Buch mit anderen Alltagstipps besonders wichtig sein.
Was nehmen Sie selbst aus „Smart bis zum Sarg“ mit?
Dass ich zwar haargenau weiß, was ich alles für meine Gesundheit tun müsste und es aber trotzdem selbst nicht immer schaffe, weil ich drei Kinder und tausend Projekte, aber nur 24 Stunden pro Tag zur Verfügung habe.
-
Ab März wird das Stück 72 Stunden - eine Anklage in Alsfeld, Hessen (D) aufgeführt. Premiere ist am 8. März 2025. Spielort ist der Güterbahnhof Alsfeld und an weiteren sechs Orten. U.a. Marburg, Lauterbach...
-
Weitere Artikel zum Thema
Culture | Bibliophile Fragen„Antitrottelsachbuch. In witzig.“
Culture | Salto Weekend72 Stunden. Eine Anklage.
Culture | COWÜber das menschliche Dasein
Etwas unglückliche Bildwahl…
Etwas unglückliche Bildwahl am Anfang. Mag die linke Faust genauso wenig wie die gestreckte Rechte. Riecht nach Ideologie und Fanatismus. Beides ist mir zuwider.
Antwort auf Etwas unglückliche Bildwahl… von nobody
Hier dürfte eine…
Hier dürfte eine olfaktorische Täuschung vorliegen: Die Gesamt-Pose scheint eher eine sympathisch-augenzwinkernde Persiflage auf die ikonische Flug-Haltung Supermans zu sein. Is it a bird? Is it a plane? No, it's SUPERMAN!
Antwort auf Hier dürfte eine… von Thomas Strobl
Das düfte auch das T-Shirt…
Das düfte auch das T-Shirt mit der Aufschrift "Superhero" beweisen.
Danke für das Interview…
Danke für das Interview.
Mich macht es tief betroffen, dass Kinder vorsätzlich abgetrieben werden, etwa wenn die Pränataldiagnostik eine Trisomie 21 (Down-Syndrom) diagnostiziert. Auch das ist ein Tabuthema.
TABU & STIGMA ich möchte zum…
TABU & STIGMA
ich möchte zum Thema etwas beitragen, weil es mir wichtig ist:
Zitat: „Klar gibt es Tabuthemen. Und ja, wir sollten einen offenen und sensiblen Umgang mit Tabuthemen finden. Denn wo Tabus sind, ist das Leid, das Unwissen und die Berührungsangst immer groß. In der Präventivmedizin sagen wir immer: Stigma ist die zweite Krankheit. Neben der eigentlichen Erkrankung kriegt man dann auch noch die gesellschaftliche Ausgrenzung, Vorurteile und Scham obendrauf als zusätzliche Belastung ab“:
Richtig und nochmal richtig für den 2. Teil:
ein solches Tabu im Lande ist FAS, das Fetale-Alkohol-Syndrom (Q86.0):
schämen soll sich das FAS-Kind in unserer Gesellschaft (also das Opfer), und nicht die Mutter, die dem Kind eine schwere Körperverletzung, eine bleibende Schädigung zugefügt hat (die Täterin).
Es müsste gemäß europäischem Durchschnitt mindestens einige hundert, eher einige tausend FAS-Diagnosen im Lande geben, und wieviele gibt es? - KEINE!
TABU. Absolutes Tabu!
Zitat: „Wegzuschauen, wo es schwierig wird, das hat uns als Gesellschaft noch nie weitergebracht. Es ist schlimm, wenn Kinder in der Schwangerschaft sterben“ - es ist schlimm, wenn Kindern bereits vor der Geburt durch Alkoholkonsum der Mutter eine bleibende Gehirn-Schädigung zugefügt wird, und diese Menschen ihr ganzes Leben lang mit dieser meist gravierenden Beeinträchtigung intellektueller aber vor allem auch sozialer Fähigkeiten in unserer Gesellschaft mehr überleben als leben müssen.
Zitat: „es ist entsetzlich, dass Frauen ermordet werden und es ist ein Albtraum, dass manche Menschen, teils schwerst geschädigt,bereits im Mutterleib teils schwerste Körperverletzung erfahren.
Nicht nur der Tod von Kindern ist schlimm, auch die schwere Körperverletzung an Kindern ist schlimm - und ein TABU.
Vielleicht schreiben Sie ja ein Buch über das Fetale-Alkohol-Syndrom.
Antwort auf TABU & STIGMA ich möchte zum… von Peter Gasser
Korrektur im letzten Absatz:…
Korrektur im letzten Absatz:
Zitat: „es ist entsetzlich, dass Frauen ermordet werden“ und es ist (auch) ein Albtraum“, dass manche Menschen bereits im Mutterleib teils schwerste Körperverletzung erfahren.
Nicht nur der Tod von Kindern ist schlimm, auch die irreparable schwere Körperverletzung an Kindern ist schlimm - und, leider, ein TABU.
Vielleicht schreiben Sie ja auch ein Buch über das Fetale-Alkohol-Syndrom.