Gesellschaft | Chancengleichheit

Ethnographischer Input zum Tag der Frau

„Unsere Chancengleichheit ist nicht selbstverständlich!“ Die Sozial- und Kulturanthropologin, Elisabeth Tauber, über zentrale Fragen unserer Gesellschaft.
Elisabeth Tauber Uni Bozen
Foto: © Freie Universität Bozen
  • SALTO: Frau Tauber, Ihr Verständnis von Chancengleichheit scheint durch Ihre Feldforschung – sowohl als Forscherin als auch als Privatperson – mehr als fundiert zu sein?

    Elisabeth Tauber: Wenngleich ich mittlerweile in meiner Karriere als Professorin hier an der Freien Universität Bozen an einem anderen Punkt stehe, wurde ich in der britischen Tradition der Sozialanthropologie ausgebildet und habe lange Forschungserfahrung mit nomadischen Gruppen in Europa, insbesondere den „Sinti“. Meine Disziplin bedient sich vorwiegend der ethnographischen Methode, welche immer zu einem globalen und perspektivreichen Vergleich anleitet. Dies fördert den sogenannten Kulturrelativismus, der uns ForscherInnen dabei hilft, „wirkliche“ Beobachtungen über lange Zeiträume anzustellen und andere Kulturen bzw. uns „fremde“ Realitäten in eine uns verständliche Wissenschaftssprache zu übersetzen. Genau genommen geht es dabei darum, die eigene kulturelle Position zu verlernen und andere kulturelle Wahrnehmungen zu erlernen. Eine körperliche Erfahrung, die Geduld erfordert, aber mit dem möglichen Ergebnis, Kulturen besser im jeweiligen räumlichen und zeitlichen Kontext zu verstehen. Sowohl als Forscherin als auch als Mensch erhält man so tiefgreifende Einblicke in Themen wie zum Beispiel, was die Überschneidung bzw. Intersektionalität verschiedener Ungerechtigkeiten bedeutet.

     

    Was, wenn wir in unseren unbeständigen Zeiten raschere Antworten benötigen?

    Ich denke, gerade in der Welt, in der wir leben, ist diese Methode umso wichtiger. Wir müssen wirklich verstehen, was hinter einer Krise steckt und wie wir zwischen den Zeilen gesellschaftlicher Stimmungslagen lesen können. Der polnische Sozialanthropologe Bronislaw Malinowski meinte bereits vor 100 Jahren, dass wir in der Ethnographie mindestens einen Jahreszyklus mit Menschen (fremder Kulturen) verbringen müssen, um zu verstehen, wie sie sich im Laufe dieses Zyklus selbst in der Welt verstehen. Wir haben es hierbei mit einer Wissenskultur zu tun, die sich darum bemüht, wirklich zu verstehen, was in Gruppen passiert, was die Menschen teilen, wie sie Normen verstehen und welche Werte von ihnen in die alltägliche Praxis umgesetzt oder sichtbar werden, wenn es zu Krisen kommt.

     

    „Als Gesellschaft müssen wir uns wieder darüber klar werden, dass unsere Möglichkeiten etwa in Anbetracht von Chancengleichheit in langwierigen und mühseligen Prozessen erkämpft wurden und keineswegs selbstverständlich fortbestehen.“

     

    Welche Beobachtungen ermöglicht die Langzeitperspektive in Hinblick auf die aktuellen politischen Geschehnisse und Diskurse?

    Aus anthropologischer Sicht haben wir in unserer Zeit einen historisch beträchtlichen Wandel zurückgelegt, wenn es um Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit geht, vor allem für unseren westlichen Kontext, dessen Denkmuster – anders als in anderen Kulturkreisen unserer Welt – hauptsächlich in „Dualismen“, wie Mann-Frau, schwarz-weiß, Natur-Kultur, etc. bestehen. Und jetzt erleben wir gerade, dass diese Fortschritte in Frage gestellt werden. Ein solcher Rückschlag erwischt uns kalt, auch wenn er absehbar war! Als Gesellschaft müssen wir uns wieder darüber klar werden, dass unsere Möglichkeiten etwa in Anbetracht von Chancengleichheit in langwierigen und mühseligen Prozessen erkämpft wurden und keineswegs selbstverständlich fortbestehen.

  • Laut Tauber verlieren wir unglaublich viel, „wenn wir uns Machtstrukturen hingeben, die unsere Angst vor anderen Menschen schüren“. Foto: © Michael Schmid
  • Wie schlägt sich Südtirol aktuell auf dem Weg zur Chancengleichheit?

    Ich würde sagen, da ist sehr viel passiert in den letzten Jahrzehnten, vor allem in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit. Man muss hier auch mit in den Blick nehmen, dass die Arbeit der Pionierinnen unseres Frauenrechts-Aktivismus, wie beispielsweise Lidia Menapace, Julia Unterberger oder Marcella Pirrone, jetzt Früchte trägt. Ich spreche von Frauen, die zum Teil allein oder in kleinen Kollektiven auf große Themen hingewiesen haben und sich für die soziale, die juridische, die politische Gleichberechtigung der Frauen eingesetzt haben! Man muss auch sagen, dass wir hier in Südtirol eine historisch sehr starke Frauen- und Geschlechterforschung haben, repräsentiert durch Forscherinnen, wie etwa Sieglinde Clementi, die ein stabiles Fundament für ein Verständnis für komplexe, nicht-lineare Themen wie Chancengleichheit und Geschlechterparität schafft. 

     

    „Bei der Besetzung von Arbeitsstellen nach paritätischen Regelungen bedeutet ‚mir brauchen a Frau‘, oftmals etwas ganz anderes als ‚mir brauchen a Person mit spezifische Kompetenzen‘“.

     

    … und wenn wir uns den Arbeitsmarkt ansehen?

    In Südtirol sehen wir tatsächlich einen engagierten Landeshauptmann, der sich seit Beginn seiner Amtszeit für das Thema stark gemacht hat. Das wird an den Maßnahmen und Regelungen auf Provinz- und Gemeindeebene deutlich. Aber der Teufel steckt im Detail. Es gilt, genau hinzusehen, wie solche Regulierungen lokal ausgehandelt werden. Sehen wir uns beispielsweise die Rekrutierung von MitarbeiterInnen an. Bei der Besetzung von Arbeitsstellen nach paritätischen Regelungen bedeutet „mir brauchen a Frau“, oftmals etwas ganz anderes als „mir brauchen a Person mit spezifische Kompetenzen“. Das führt oft dazu, dass wir Konstellationen züchten, in denen Frauen ungeachtet ihrer Kompetenzen, einer enormen Bringschuld, beträchtlichen Beweiszwängen und Diskriminierungen ausgesetzt sind. Ich würde also trotz der richtigen Richtung, die wir einschlagen, nicht sagen, dass wir bereits eine wahrhaftige Perspektive auf Chancengleichheit bzw. Parität haben. Zudem muss eine solche Perspektive mehr Stimmen hören als zum Verhältnis Mann-Frau, wie etwa jene von kulturellen Minderheiten, Minderheiten diverser sexueller Orientierungen, gender-diverse Menschen etc. Frauen sind dabei nur eines der vielen Beispiele für Ungleichheiten innerhalb unserer Gesellschaft und diesbezüglich haben wir in Südtirol noch viel zu tun! Und das ist ein kultureller Prozess, der bei „glattem“ Verlauf – also ohne Rückschläge, wie wir sie auf globaler Ebene gerade erleben –, noch mehr als hundert Jahre dauern wird.

  • Vorstellung des Gender-Report an der Eurac: Auch die Ergebnisse des Gender-Report 2024 zeigen, dass Stereotype auf Basis traditioneller Geschlechterrollen, Sexismus, der Balance zwischen Beruf und Familie, sowie aufgrund von Alter, Herkunft und äußerem Erscheinungsbild geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz reproduziert werden. Foto: © Eurac Research / Annelie Bortolotti
  • Hundert Jahre?

    2020 deutete der Index noch auf 99,5 Jahre. Nun, laut dem WEF Global Gender Gap Report 2024 kann absolute Chancengleichheit erst in 134 Jahren erreicht werden, also fünf Generationen nach der unseren. Auf diese Ergebnisse bezogen sich auch WissenschaftlerInnen bei der Vorstellung des nationalen Gender-Reports in Rom letzten Jahres. Dies bemisst sich etwa an Parametern, wie wirtschaftliche Teilhabe und Chancen, Bildungserfolg, Gesundheit und politische Mitbestimmung bzw. Einflussnahme.

     

    „Anders als uns die Erzählung des Populismus anweist, sollten wir hier den Fokus nicht auf Machtkämpfe zwischen sozialen Gruppen legen.“

     

    Die Situation hat sich also verschlechtert?

    Wenn wir uns Machtstrukturen hingeben, die unsere Angst vor anderen Menschen schüren, vor Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit anderer Hautfarbe, sexueller Orientierung usw. verlieren wir unglaublich viel. Darin sind sich verschiedenste Wissenschaftsdisziplinen einig. Allein Statistiker und Ökonomen zeigen uns, welche Schäden volkswirtschaftlicher Art hierfür zu berechnen sind. Gewalt an Frauen ist ein vortreffliches Beispiel dafür. Auf Deutschland bezogen sprechen wir laut einer EIGE-Studie von Summen, die das Budget des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie Verteidigung deutlich übersteigen. Ebenso gilt dies für die Themenbereiche Rassismus, unbezahlte Care-Arbeit und Chancengleichheit am Arbeitsmarkt, was wiederum die Relevanz der Betonung einer sich überschneidenden Problematik bzw. des Begriffs der Intersektionalität bestätigt. 

     

    Worauf kommt es also an, wenn wir uns als Gemeinschaft mit solchen Problemen konfrontiert sehen?

    Anders als uns die Erzählung des Populismus anweist, sollten wir hier den Fokus nicht auf Machtkämpfe zwischen sozialen Gruppen legen. Die Frage ist, wie wir in unseren jeweiligen Kontexten, sei es die Universität, die Politik, der Arbeitsplatz oder das Krankenhaus, mit Mitgliedern unserer Gemeinschaft umgehen wollen, kurz: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?