Kultur | Gastbeitrag

Mehr Zukunft

Stand und Perspektiven Europas. Ein Jubiläums-Bericht vom 80. Europäischen Forum Alpbach 2025. Teil 2: Fazit und Perspektiven.
Europaflagge, bandiera europea
Foto: Ivo Corrà
  • 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg steht Europa an einem kritischen Punkt und benötigt systematische und langfristige Investitionen in zukunftsorientiertes Denken, um gesellschaftlichen Zusammenhalt, Innovation und politische Verantwortung zu fördern. Das 80. Europäische Forum Alpbach 2025 betonte, dass die Förderung von Zukunftskompetenz in allen Bereichen für die Stabilität, Integration und Fähigkeit Europas zu internationaler Zusammenarbeit von entscheidender Bedeutung ist.

  • Zeit für Europa, in Zukunft zu investieren

    Teil 1 dieses Beitrags präsentierte eine Übersicht über die Herausforderungen, denen Europa aus Sicht des 80. Europäischen Forums Alpbach 80 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg heute gegenübersteht. Das Fazit dieser Vogelperspektive fiel eindeutig aus: Es wird für Europa höchste Zeit, systematisch in Zukunft zu investieren.
    Darin stimmten die meisten Experten praktisch aller Entwicklungssektoren überein. Die Gründe für das Lauterwerden dieser Forderung sind vielfältig. Zukünfte stehen nicht für sich und auch nicht mehr nur für die Wünsche von Interessensgruppen, sondern werden immer mehr zum gesellschaftlichen Integrations- und Kohäsionsthema. Das haben zuletzt die großen Krisen gezeigt, darunter die Covid-19-Krise. Zukünfte bleiben auch nicht mehr schönsinnige Spekulation, sondern werden zum zentralen wirtschaftlichen Treiber. Das zeigt etwa die Programmentwicklung der Nr. 1 Universität der Welt, der Harvard Universität in Boston. Sie gilt als Vorreiterin in der Institutionalisierung von Zukünften – weist sie doch bereits seit Beginn des Jahrtausends nicht eines, sondern zahlreiche Spezial-Programme dafür auf. Darunter waren und sind zum Beispiel das Digitale Zukunftskonsortium (bis 2010), das Remodeling Futures Program, die systematische Integration von „Zukünften“ in das Leadership-Programm und die Lehre über Entscheidungsfindung und Problemlösung

     

  • Zukunft wandelt ihren Charakter

    Mit dem Aufstieg der Zukunftskompetenz zum Bestandteil der Basisqualifikation von Führungskräften wandelt die Auseinandersetzung mit Zukunft ihren Charakter. War sie bisher oft auf technische Möglichkeitsräume in Einzelsektoren ausgerichtet, so wird sie in den kommenden Jahren zu einer ganzheitlichen Verständnis-Bemühung sehr konkret strategischer und gesellschaftspolitischer Art. Die Bemühung um Zukunftsverstehen muss ab nun ständig erfolgen. Das heißt: sie ist nicht abzuschließen, sondern muss von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft im Dialog dauernd erneuert werden. Von der Entwicklung einer eigenständigen, nicht von anderen geopolitischen Räumen abhängigen Zukunftskompetenz in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik hängt auch die Weiterentwicklung des für Europa besonders wichtigen Bereichs der Zivilgesellschaft ab. 

     

  • 7 Kernthemen für die kommenden Jahre

    In den kommenden Jahren sollte es, um die Kern-Forderung des 80. Europäischen Forum Alpbach nach neuer Energie für Europa mittels „mehr Zukunft“ zu erfüllen, in erster Linie um sieben zentrale Themen gehen:

    • Erstens um die gesellschaftliche Ausverhandlung konkurrierender Zukunftsvorstellungen.
    • Zweitens um die wissenschaftliche Erforschung von Zukünften. 
    • Drittens um den Akzeptanzdialog zu Zukünften, damit die Bürger an Ideen und Planungen mitgestalten und emotional mit ihnen mitgehen können. 
    • Viertens um die Arbeit an der gemeinschaftlichen Vorstellungskraft, die der Zukunft zugrundeliegt. Das wird in Autokratien missbraucht, in Demokratien aber positiv „Imaginationspolitik“ (Imaginal Politics) oder „World Generation“ genannt. 
    • Fünftens um Futures Casting und Futures Staging, also: um das wirkungsvolle Inszenieren von Zukünften – um sowohl das allgemeine Interesse wie die eigenaktive Beteiligungsbereitschaft anzureizen.
    • Sechstens um das Machen von Politik mit Zukünften: nämlich wie Politik erfolgt – verantwortungsvoll vorausschauend oder mittels ungedeckter Versprechungen. Hier geht es um die politische Zukunfts-Kultur und letztlich um einen Gesellschaftsvertrag, was eine Ethik der Zukünfte sein soll.
    • Siebtens schließlich geht es bei der Stärkung von Zukunftskompetenz schlicht und einfach um Innovation: Neuerungsanstrengungen besser in mögliche, erwartete oder erwünschte Zukünfte einzubetten – und dazu möglichst breit vernetzte Landkarten zu entwerfen. In der Fachsprache entsteht heute dazu der Ansatz des „Forefront Mapping“, den vor allem europäische Wissenschaftler voranzutreiben suchen.

    Wer diese sieben Themen der Arbeit an Zukunftsverstehen und Zukunftskompetenz zum praktisch wirksamen Bildungs- und Ausbildungsprogramm für Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft integriert, ist für die kommenden Jahre gut vorbereitet. Letztlich münden alle genannten Einzel-Themen in ein abgestimmtes Kompetenzprogramm, das die großen Weltentwicklungen zwischen Gegenwart und Zukunft in die öffentliche und private Bewusstseinsbildung aufnimmt. Diese Bewusstseinsbildung kann und wird auch der transgenerationalen Gerechtigkeit dienen. Denn an der Zukunft treffen sich die Erfahrenen von heute mit den Gestaltern von morgen. Beide sollten gleichberechtigt einbezogen werden. Denn die Zukunft gehört schon ihrem Wesen nach nicht den Heutigen, sondern den Künftigen.

  • Drei Hausaufgaben

    Damit Europa solcherart „durch Zukunft gestärkt“ werden kann, gilt es allerdings vorab drei pragmatische Hausaufgaben zu erfüllen. 
    Erstens sollten wir eine öffentliche Debatte um die grundsätzliche Zukunftsorientierung von Bildung und Ausbildung führen. Gegenstand sollten die sich wandelnden Anforderungen sein. Das Thema Zukunft kann längst überfällige, grundlegende Reformen des Bildungs- und Ausbildungsbereichs begründen, strukturieren und ausrichten. 
    Zweitens sollte mit ganzheitlicher, ideologisch neutraler und wissenschaftlich fundierter Zukunftsarbeit dem Populismus der Wind aus den Segeln genommen werden. Die Konjunktur des Populismus lebt, wie die des neuen Nationalismus, stark von der – unverdienten! – Vorherrschaft über die Vorstellungspolitik. Der Populismus such sich sich einzelne Szenarien heraus, vereinfacht und verabsolutiert sie, während er andere bewusst ignoriert. Damit vereinnahmt er die Perspektiven der Menschen. Weil die Zukunftserwartungen von Menschen immer wichtiger für ihr Wahlverhalten und ihre politischen Einstellungen werden, dürfen sie nicht jenen überlassen werden, die mit Halbwahrheiten oder Ängsten vor der Zukunft operieren. Die Seriösen in der Gesellschaft sollten nicht ausschließlich mit der Gegenwart argumentieren, während die gleich wichtige Zukunft den Unseriösen überlassen wird.
    Drittens können durch die Beschäftigung mit Zukünften die europäischen Grenz-, Vermittler- und Austauschregionen an den Überschneidungspunkten zwischen Kulturen, Sprachen und Ethnien aufgewertet werden. In ihnen können mittels Zukunftsdialog neue Ansätze der „Wissens-Diplomatie“ entstehen, die die europäische Integration vor Ort inspirieren und dadurch vorantreiben. Der Grund: über Zukünfte (im Plural) lässt sich oft besser reden als über Gegenwart (im Singular). Warum? Weil Zukünfte viele sind und ungefährlicher erscheinen, vor allem deshalb, weil sie noch nicht existieren. Das macht unvoreingenommene Kreativität möglich, die auch den Vergleich und Streit um die besseren Ideen nicht vermeiden muss.

  • Fazit?

    Europa braucht eine neue, systematisch und langfristig angelegte Offensive im Zukunftsbereich. Dadurch können die europäischen Regionen, Teil- und Randgruppen und Minderheiten aufgewertet werden. Ihre Sichtweisen bringen erweiterte Perspektiven und damit Reichtum in den Zukunftsdiskurs ein. Europa als eine der wohlhabendsten transnationalen Gemeinschaften des Planeten sollte sich in Sachen Zukunft aber auch deshalb auf den Weg machen, um in humanistischer (und humaner) Vorwegnahmekompetenz an der Weltspitze zu bleiben. Das geschieht dadurch, dass Zukunftsdenken institutionell angesiedelt wird, und zwar so stabil und in langfristiger Perspektive, dass es sich selbst ständig erneuern kann. 
    Erste Schritte auf diesem Weg werden inzwischen gegangen. So etwa mittels der Kartographierung besehender Kompetenzansätze in Europa – wodurch das entstehende innereuropäische Netzwerk an Zukunftsinitiativen gestärkt werden soll. Ein dazu vorbildlicher Ansatz war zum Beispiel im Mai 2024 der Report der von der EU geförderten Plattform „Futures4Europe“„Showcasing Perspectives: A Stocktaking of R&I Foresight Practices in Europe“. Ausgehend von solchen „Großbild“-Zustandserhebungen gilt nun nicht mehr nur für die Eliten, sondern immer breiter für die gesamte Bevölkerung die Maxime: Kompetenz ist der Schlüssel zur Zukunft – und die Zukunft ist der Schlüssel zur Kompetenz.

  • Foto: upi
  • Was zeigt der Weg voraus?

    Was Europas Gestaltungseliten heute kennzeichnet, ist laut EU-Veteran Jean-Claude Juncker bei der Eröffnung des Europäischen Forums Alpbach 2025 sehr viel Positives und Progressives, ja ein neues Spektrum an Befähigungen. Es sind Eigenschaften wie globales, transnationales und multipolares Bewusstsein, gegründet auf inter- und trans-disziplinäre Ausbildung, und ein „natürliches“ Verständnis komplexer Zusammenhänge, das – bewusst oder unbewusst – viele Aspekte des Systemdenkens und teilweise sogar des Erbes der Kybernetik in sich aufgenommen hat. Es sind laut Juncker aber auch eine gewisse Ungeduld, Technologiegläubigkeit und fehlende Flexibilität in der Zukunftsperspektive. Man hat als EU-Vertreter, so ähnlich etwa Mario Draghi im Sommer 2025 in Rimini, international keine Macht, will trotzdem alles sofort und lässt sich dazu mittlerweile nicht selten lieber von Künstlicher Intelligenz statt von erfahrenen Menschen beraten. Doch laut Juncker und Draghi sollten wir Europäer damit aufhören, nur in Legislaturperioden zu denken, auf Sicht zu fahren und dabei zunehmend einseitig auf den Rat von Chatbots zu bauen. Stattdessen braucht Europa heute mehr denn je den „langen Atem“:  Geduld und ein echtes Zukunftsdenken unter Einbezug der großen Menschheitsthemen, die interdisziplinär vernetzt vor Ort, gemeinsam und solidarisch angegangen werden müssen. Phantasie und menschliche Kreativität sollten dabei Hand in Hand mit der neuen KI-Generativität gehen.
    In Alpbach jedenfalls war man sich zum 80-jährigen Jubiläum des Blicks auf Europa einig: Wer sich 80 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg in der richtigen, das heißt: komplexitätsadäquaten und zugleich ideologisch ausgewogenen, ganz bewusst auf gesellschaftliche Mitte hinzielenden Weise mit Zukunft auseinandersetzt, gibt dem „unruhigen Herzen“ (Augustinus) der meisten Zeitgenossen zwar nicht „den“, aber sicher mehr Sinn. Aus Zukunftsarbeit können menschliche Prozesse entstehen, die Europa Substanz geben. Das zahlt langfristig sowohl wirtschaftlich wie sozial, vor allem aber menschlich eine hohe Dividende zurück. 
    Für das heutige und morgige Europa gilt: Kontinuität, Stabilität und Sicherheit hängen davon ab, wie sich unser Kontinent „neu erfindet“ und dabei zu möglichen, wahrscheinlichen oder erwünschten Zukünften stellt: spontan oder vorbereitet, unkoordiniert oder organisiert, bruchstückhaft oder ganzheitlich, einseitig technologiegläubig oder menschlich-technologisch ausgewogen. Von einem guten Gleichgewicht zwischen Zukunft und Gegenwart hängt nicht zuletzt auch die Zukunft des Verhältnisses zwischen Demokratie und Populismus auf dem Kontinent ab. Europa ist deshalb, so die Lehre des Europäischen Forums Alpbach, gut beraten, nun „Zukünfte“ entschlossener als bisher als gemeinschaftliches Vernunftthema im Spannungsfeld zwischen Menschen und Technologie in Angriff zu nehmen, um für morgen gewappnet zu sein.

  • Der Autor

    Roland Benedikter war 2025 Jurymitglied des Euregio-Jungforscherinnen-Preises beim Europäischen Forum Alpbach. Er ist UNESCO-Lehrstuhlinhaber für Antizipation & Transformation und Co-Leiter des Centers for Advanced Studies von Eurac Research in Bozen sowie ordentliches Mitglied der Vereinigung der UNESCO-Chairs Italiens „Rete delle Cattedre UNESCO Italiane“ (ReCUI) und der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. 2019-23 war er Mitglied des BMBF-Zukunftskreises für die deutsche Bundesregierung, 2024-25 Mitglied des Wissenschaftlichen Begleitstabs für den Dubai Global 50 Future Opportunities Report 2025, seit 2025 ist er Kuratoriumsmitglied des Forums Nachhaltig Wirtschaften München. Er ist Mitherausgeber oder Beiratsmitglied der Zeitschriften New Global Studies (de Gruyter), Harvard International Review (Harvard), Studi Politici (Sapienza Università di Roma I), Attualità Pedagogiche (Università degli Studi di Salerno) und der Brill-Buchreihe Global Populisms. Homepages: https://www.eurac.edu/en/people/roland-benedikter und https://www.linkedin.com/in/roland-benedikter-8341922a9/. Google Scholar: https://scholar.google.com/citations?user=mOee1ZcAAAAJ&hl=en. Kontakt: [email protected]