Der tote Punkt
Ein Buch mit einem sehr verdächtigen Titel hat im letzten Jahr Furore gemacht. Der Autor ist Franzose und heißt Thomas Piketty. Nicht ganz zufällig hat er sein über 800 Seiten langes Werk „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ genannt. Seitdem wird Piketty als internationaler Starökonom gefeiert. Ein Jahr ist seit der Publikation vergangen und seine Thesen gehören in vielen Wirtschaftsfakultäten bereits zum Vorlesungsprogramm.
Zugegeben: Pikettys Thesen sind nicht neu. Und deshalb wohl auch dieser Titel, der sehr an das geschichtsschreibende Werk von Karl Marx erinnert. Das Fazit ist eigentlich dasselbe: Die Ungleichheit wird immer größer, die sozialen Spannungen werden sich vertiefen, und der Kapitalismus wird sich letztendlich selbst zugrunderichten. Klingt doch eigentlich alles sehr alt und abgeschmackt. Schließlich haben die letzten 60 Jahre all diese Behauptungen endgültig widerlegt. Oder etwa nicht?
Seit 30 Jahren geht die Schere zwischen Arm und Reich auch hierzulande wieder sichtlich auseinander. Piketty unterlegt dies mit empirischen Daten. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Nur 85 Menschen auf der Welt besitzen so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit. Und in den USA besitzt 1 Prozent der Bevölkerung beinahe die Hälfte des nationalen Vermögens. Laut Piketty ist einer der Hauptgründe der wachsenden Diskrepanz zwischen Wohlhabend und Mittellos: Auf Kapital wird eine durchschnittliche Rendite von 4-5% verlangt. Währenddessen haben wir in Europa z. B. aber ein Wirtschaftswachstum von inzwischen weniger als 1%. Viele Länder (einschließlich dem unseren) sind sogar in der Rezession. In einfachen Worten bedeutet das, dass der Unternehmer und seine Arbeiter die Zinsen für den Kapitalbesitzer nicht mehr aus dem Gewinn des Unternehmens entnehmen können, sondern in die eigene Tasche zurückgreifen müssen. Während der eine immer reicher wird, wird der andere also immer ärmer – auch wenn er sich noch so sehr ins Zeug legt. In anderen Worten heißt das, dass die Rendite auf Kapital sich längst von den Möglichkeiten der realen Produktion entkoppelt hat.
Aber was hat das alles, wie angekündigt, mit Kunst zu tun? Hier startet das Gedankenexperiment.
Seit bereits über hundert Jahren hat sich in der Kunst – sei es in der Musik, in der Literatur oder in der bildenden Kunst – ein radikaler Trend zur Moderne durchgesetzt, der (man muss, es wagen dies auszusprechen) seinen Zenit schon lange überschritten hat. Soll hier also behauptet werden, dass Kunst nicht weiter erneuert werden kann, weil bereits alle Ideen der Innovation ausgeschöpft wurden? Bei Weitem nicht. Solche konservativ-beschränkten Kritiker hat es schon genug gegeben, und jeder einzelne wurde eines Besseren belehrt.
Nietzsches „tausend Pfade, die noch nie gegangen sind“ gibt es sicherlich auch heute noch, und dass man das Innovative zum obersten Prinzip der Kunst erhebt, ist ja auch kein Problem, vorausgesetzt, dass man eine Kunstauffassung vertritt, in der die Kunst rein gar nichts mehr mit dem Leben zu tun haben muss, sondern ganz für sich allein in einem abstrakten Raum, völlig abgekoppelt von Emotionen, Gedanken und Erfahrungen der Menschen, existieren kann. Ist man aber überzeugt, dass Kunst einen Bezug zum Außen- und Innenleben des Menschen haben soll, um für den Menschen einen Wert zu haben, dann ist der absolute Drang nach Innovation sehr wohl problematisch.
Warum? Weil das Leben sich zwar auch erneuert, etwa durch technischen Fortschritt: Es bringt neue Herausforderungen, neue Weltbilder, neue Staatssysteme hervor – das Leben der Menschen heute ist ein ganz anderes als jenes vor hundert Jahren. Die Essenz des Lebens aber bleibt doch immer dieselbe. Was den Menschen aus dem Innersten antreibt oder zugrunde richtet, bleiben doch immer diese wenigen ewigen Themen: Liebe, Geldsorgen, Politik, Suche nach einem Sinn. So wird die Kunst, die allein der Innovationssucht unterliegt, sich notgedrungen immer weiter von diesem konstanten Wesen des menschlichen Lebens entfernen. Und auf diese Weise werden der Kunst auch irgendwann die Mittel fehlen, den Menschen anzusprechen.
Um Inkonsequenz zu vermeiden, soll der ganzen Theorie wenigstens ein konkretes Beispiel folgen: Der Verfasser dieses Artikels selbst nahm vor nicht langer Zeit an einem Dichtertreffen teil, wo die Autoren ihre Texte vorlasen und anschließend diskutierten. Zu diesem Anlass konnte man erleben, wie der Inhalt des Gedichts inzwischen so sehr an Bedeutung verloren hat, dass man die Worte eines Gedichts beliebig austauschen kann: Gerade hat jemand sein Gedicht vorgelesen, da ergreift der Gründer dieser Treffen das Wort und wiederholt eine Stelle im Gedicht, die er wegen der gelungenen Komposition rühmen will. Statt „Mord“ liest er da aber „Mond“. Als ihn jemand auf den Fehler aufmerksam macht, korrigiert er sich. Dass da aber ein ganz anderes Wort stand, als er sich erwartet hat, hält ihn dennoch nicht davon ab, gleich wieder damit fortzufahren, die Textstelle zu loben. Die Frage, die sich jetzt einem Laien stellt, ist: Loben wofür? Wenn die Semantik der Worte nur noch ein (ironischerweise) bedeutungsloses Attribut der Worte ist, und die Worte selbst offenbar beliebig untereinander ausgetauscht werden können, ohne das Gedicht dadurch maßgeblich zu verändern, mit welchen nachvollziehbaren Argumenten soll man dann Lob oder Kritik eigentlich noch begründen? Die Frage stellt sich vermutlich nicht nur dem Laien.
Oder muss Kunst vielleicht so abstrakt und unabhängig vom realen Leben sein, um wirklich als reine Kunst zu gelten? Der Literaturtheoretiker Theodor W. Adorno hielt dagegen, gerade die Kunst, die „zu sich selbst kommt, würde Kunst selber übersteigen und sich erfüllen im richtigen Leben der Menschen“. Letztlich hängt aber auch das von der individuellen Kunstkonzeption eines jeden Menschen ab.
Fakt ist allein der Verlust der Lebensnähe in der radikal innovativen Kunst. Will diese Kunst in ihrem Drang nach Innovation aber auch noch die Nähe zum Leben wahren, ist irgendwann ein toter Punkt erreicht. Und analog ist es derselbe tote Punkt, der in der Wirtschaft gerade den bedeutendsten Ökonomen Kopfzerbrechen bereitet. Man muss nur die Innovation in der Kunst mit der Rendite in der Wirtschaft gleichsetzen. Auch hier kommt das reale Wachstum der Wirtschaft (analog zum Leben des Menschen in der Kunst) längst nicht mehr den Renditeforderungen der Kapitalbesitzer nach (bzw. der Forderung nach Innovation in der Kunst).
Sollte man diesen toten Punkt überwinden – die Kunst also näher ans Leben heranführen und die Zinsen auf Kapital wieder in Richtung der realen Wirtschaftswachstumsraten herabschrauben? Über die erste Entscheidung lässt sich streiten, letztendlich obliegt sie den Künstlern selbst. Was aber die Wirtschaftspolitik angeht, ist es längst an der Zeit, darüber einen ernsteren Diskurs zu führen. Im Gegensatz zur Kunst kann der Wirtschaft schließlich niemand die Nähe zur Realität absprechen. Spätestens, wenn es schwer wird, über die Runden zu kommen, sieht das jeder ein.
Der Vergleich "Innovation in
Der Vergleich "Innovation in der Kunst und Wirtschaftswachstum" bietet sich zwar an - mir stehen jetzt aber echt die Haare zu Berge. Gibt es eigentlich noch irgendeinen Bereich auf der Welt, der sich nicht den Regeln des Marktes unterwerfen muss? Die Antwort ist wahrscheinlich nein.