Italien ist eine Republik barocker Rituale. Ein anachronistisches Protokoll regelt nach dem Abtritt des Staatspräsidenten jedes kleine Detail. Zwei Rücktrittsschreiben werden den Präsidenten von Kammer und Senat ausgehändigt. Piero Grasso übernimmt dann federführend das höchste Staatsamt bis zur Wahl eines Nachfolgers. Laura Boldrini obliegt die Einberufung der Wahlversammlung innerhalb von 15 Tagen. Am 29. oder 30. Jänner werden die über 1000 Wahlmänner aus Senat, Abgeordnetenkammer und Regionen zu den ersten Wahlgängen antreten, bei denen eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich ist. Frühestens am 1. Februar könnte Napolitanos Nachfolger feststehen. Auch hier prägen Rituale die Szene. Die Erfahrung lehrt: wer zu früh in den Ring steigt, wird gnadenlos verheizt. Den bisher genannten Namen ist daher kaum Bedeutung beizumessen. Italiens Medien ficht das nicht an. Ganze zehn Seiten widmet der Corriere della Sera Napolitanos Abgang und seiner zweifellos bemerkenswerten Karriere - ganz im Zeichen der politischen Langlebigkeit, die Italiens Gerontokratie durch Jahrzehnte geprägt hat.
Giorgio Napolitano wurde 1953 zum Abgeordneten der KPI gewählt. Seine schwerste politische Sünde war 1956 die Rechtfertigung des sowjetischen Einmarsches in Ungarn - ein später eingestandener Fehler. Im Gegenzug unterstützte er den Eurokommunismus und war einer der Protagonisten der Annäherung an die USA. Seine ausgezeichneten Englischkenntnisse - damals eine Rarität unter Italiens Politikern - leisteten ihm dabei gute Dienste. Als erster Kommunist stieg Napolitano zum Innenminister auf, war Kammerpräsident und Europarlamentarier - eine Bilderbuchkarriere, die nur im höchsten Staatsamt enden konnte. Unter Silvio Berlusconi wirkte Giorgio Napolitano als einzige Integrationsfigur eines zerrissenen Landes. Daß er mit fast 90 Jahren nach Umfragen noch immer der weitaus beliebteste Politiker des Landes ist, unterstreicht seine Popularität.
Sein Nachfolger sollte freilich ein anderes Profil aufweisen. Der Quirinalspalast war seit Kriegsende einre reine Männerdomäne. Wünschenswert wäre nun die Wahl einer Frau - so wie es das Nachbarland Kroation vor wenigen Tagen vorexerziert hat. Doch die Chancen dafür stehen schlecht. Wünschenswert wäre die Wahl eines Kandidaten, der nicht aus der Politik stammt - etwa nach dem Vorbild von Joachim Gauck. Auch dafür stehen die Chancen schlecht. Erstrebenswert wäre die Wahl keines "institutionellen" Kandidaten. Auch das dürfte ein frommer Wunsch bleiben.
Giorgio Napolitano war ganz auf sein institutionelles Profil bedacht. Er fügte sich dem drückenden Protokoll, dem Theater der berittenen Kürassiere. Am skandalösen Budget von 350 Millionen Euro begnügte er sich mit kosmetischen Kürzungen, den ebenso skandalösen Personalstand tastete er nur unwesentlich an. Er habe den Quirinal "manchmal auch als eine Art Gefängnis empfunden", gestand er am Dienstag. Aber einen Ausbruchsversuch hat er nie riskiert. Nun zieht er mit seiner Frau in die gemeinsame Wohnung zurück, die nur einige hundert Meter vom Quirinal entfernt liegt. Doch die politische Laufbahn des 90-jährigen endet keineswegs mit dem Rücktritt. Seit Mittwoch ist er Senator auf Lebenszeit, wies es die Verfassung vorsieht. In dieser neuen institutionellen Rolle wird er vermutlich schon in zwei Wochen als Wähler seines Nachfolgers im Senat erscheinen und damit seine neue Laufbahn zu beginnen.