Politik | Brexit

“Wir müssen jetzt egoistisch sein”

EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann kommentiert das Brexit-Referendum: “Lassen wir das Spiel der Populisten aufgehen, riskieren wir, die ganze EU in Gefahr zu bringen.”

Herr Dorfmann, das Ergebnis des Brexit-Referendums steht fest: 51,9 Prozent haben sich für den Austritt Großbritanniens aus der EU ausgesprochen. Für Sie unerwartet?
Herbert Dorfmann: Ja, das habe ich mir wirklich nicht erwartet. Ich glaube, wenige haben damit gerechnet. Ich halte mich gerade in Berlin auf und war gestern bei einer Veranstaltung des Deutschen Bundestages. Dort habe ich Abgeordnete getroffen und der Brexit war eines der großen Themen. Niemand hat sich das wirklich erwartet. Vor allem wie sich die Dinge in den letzten Tagen entwickelt haben, sind wir zwar schon davon ausgegangen, dass es relativ eng, aber am Ende doch anders ausgehen würde.

Ihre erste Reaktion?
Mein Gott, es war eine demokratische Entscheidung, die aber selbstverständlich viele Fragen offen lässt. Übrig bleibt ein zerrissenes Land. Man darf ja nicht vergessen, dass Großbritannien aus vier Nationen besteht. Darunter zwei, die eh schon immer wenig Freude mit London haben.

Schotten und Nordiren werden militantere Töne anschlagen.

Die internen Spannungen sind auch bei diesem Referendum überdeutlich zutage getreten.
Schottland und Nordirland haben deutlich für die Europäische Union gestimmt. Ebenso wie die Stadt London. England und Wales haben dagegen gestimmt. Am meisten leid tut mir das Ergebnis für die jungen Menschen, die mit großer Mehrheit für einen Verbleib in der EU gestimmt haben. Den Ausschlag haben leider Leute mittleren und höheren Alters in England und Wales gegeben. Aber mein Gott, das ist eine Wahl und sie ist zur Kenntnis zu nehmen.

Ist das Abstimmungsergebnis ein Sieg der Populisten?
Auf jeden Fall. Wenn man die Sache rein rational durchüberlegt, dann fällt mir kein Grund ein, warum ein Land wie Großbritannien nicht Teil der Europäischen Union sein sollte. Die Meinung, dass man danach als Staat besser dastehen würde, ist kein rationaler Grund, nur einer von vielerlei populistischen Gefühls-Gründe sozusagen. Mit diesen wurde in Großbritannien gespielt.

Vor allem im rechten Lager wurde ja kräftig Stimmung gegen die EU und für einen Brexit gemacht.
Der große Macher Nigel Farage (Chef der rechtspopulistischen UKIP, Anm.d.Red.) sitzt seit ich im EU-Parlament auch dort. Ich kenne ihn, er ist ein Populist wie er im Bilderbuch steht. Er ist nur einer der Vertreter des neuen Nationalismus’, den es in Europa gibt. Und leider muss ich sagen, dass auch Südtirol davon nicht verschont bleibt. Ich warne seit Monaten vor dieser Entwicklung. Ein Land wie Südtirol kann mit dieser nationalistischen Stimmung in Europa wenig anfangen und wird darunter sogar vielleicht leiden.

Der wenig erbaulich Umgang mit der Flüchtlingsfrage hat am Ende viele Stimmen gekostet.

Wird das Ergebnis des Referendums in Großbritannien nationalistischen Strömungen in anderen europäischen Ländern weiteren Aufschwung geben?
Man darf sicher nicht vergessen, dass es in vielen anderen Staaten, um nicht zu sagen in allen Staaten der Europäischen Union inzwischen Kräfte gibt, die sich mit den britischen Populisten von UKIP sehr gerne verbünden würden. Ob das jetzt der französische Front National ist oder in Italien der Movimento 5 Stelle oder die Lega Nord, die FPÖ in Österreich oder Geert Wilders in den Niederlanden. Sie alle haben logischerweise nur darauf gewartet, dass es einmal ein solches Ergebnis irgendwo gibt.

Besteht nun die Gefahr, dass andere Mitgliedsstaaten einen EU-dem Beispiel Großbritanniens folgen und einen Austritt anstreben werden?
Populisten haben in ganz Europa bereits heute (Freitag, Anm.d.Red.) Morgen begonnen, lautstark ein Referendum für ihr Land zu fordern. Ich denke, das hängt jetzt von den verbliebenen 27 Mitgliedsstaaten ab. Die britischen Populisten haben propagiert, dass Großbritannien Teil des gemeinsamen Binnenmarktes bleiben wird ohne alle weiteren Pflichten der Europäischen Union einhalten zu müssen. Wenn wir den Briten dieses Spiel nun zugestehen und erlauben, dass sie sich die Rosinen aus dem Kuchen herauspicken, dann sind wir selbst blöd. Denn dann geht die Rechnung der Populisten auf.

Wie kann das verhindert werden?
So leid es mir für die Briten tut, wir müssen jetzt egoistisch sein.

Was heißt das konkret? Wie muss die EU reagieren?
Wir müssen schauen, dass die Finanzmärkte London so schnell und umfassend als möglich verlassen; dass es zu einer Verlagerung von Arbeitsplätzen vor allem von London in die restliche Europäische Union kommt. Das heißt, wir müssen zu verstehen geben, dass dieses populistische Spiel nicht aufgeht. Ansonsten riskieren wir effektiv, dass die EU in ihrer Gesamtheit in Gefahr gerät.

Wie geht es nun auf politischer Ebene weiter?
Das erste große Problem werden die Briten einmal selbst haben. Die Abstimmung im Parlament über den Austritt wird nicht einfach werden. Wenn sie aber gemacht ist, dann muss es laut EU-Vertrag zu einem Austritts-Ansuchen kommen und binnen zwei Jahren sollte an und für sich dann der Austritts-Vertrag folgen. Aber das ist logischerweise alles Theorie.

Wenn wir das populistisches Spiel aufgehen lassen, riskieren wir, dass die EU in ihrer Gesamtheit in Gefahr gerät.

Wie sieht die Realität aus?
Zum Beispiel soll Großbritannien 2017 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Wir können doch nicht zulassen, dass ein Land, ein Austritts-Ansuchen gestellt hat, die Präsidentschaft der Europäischen Union übernimmt. Oder wir haben zum Beispiel einen britischen Kommissar in der EU-Kommission, der für Finanzmärkte zuständig ist. Wir können doch nicht zulassen, dass genau jener Bereich, in dem wir jetzt besonders schauen müssen, dass unsere Interessen gewahrt werden, in den Händen eines britischen Kommissars ist. De facto werden wir also sehr schnell reagieren müssen und schauen, dass wir unsere eigenen Interessen wahren.

Wird die EU auch darüber hinaus reagieren müssen? Ihr wird vielfach Reform-Unwilligkeit vorgeworfen. Viele Menschen nicht nur in Großbritannien haben das Gefühl, nicht Teil der Union zu sein, nicht mitentscheiden zu können und von Brüssel aus regiert zu werden. Damit haben auch die Brexit-Befürworter argumentiert. Wird sich die EU an die Menschen annähern müssen?
Ich glaube schon. So werden wir insgesamt in den Bereichen, in denen wir zuständig sind, klarer und effizienter werden müssen. Und die anderen Punkte, wo es die EU nicht unbedingt braucht, es gescheiter ist, dass sich die Regionen darum kümmern. Es wäre daher jetzt etwas zu einfach vonseiten des EU-Parlaments zu sagen, dass das Ergebnis nur auf den britischen Populismus zurückzuführen ist. Dass es so weit gekommen ist, hat natürlich seine Ursachen, an denen die Briten zum Teil auch selbst Schuld sind.

Inwiefern?
Ein Problem, das die EU seit jeher gehabt hat und immer wieder haben wird, weil sie einfach eine Staatengemeinschaft ist, ist die ewige Suche nach einem Kompromiss. Die dauert oft lange. Wenn man speziell die letzten Monate anschaut, war der Umgang mit der Flüchtlingspolitik beziehungsweise der Flüchtlingsfrage alles andere als erbaulich. Ich denke, das hat am Ende viele Stimmen gekostet.

Für mich gibt es keinen rationalen Grund, warum ein Land wie Großbritannien nicht Teil der Europäischen Union sein sollte.

Die Uneinigkeit innerhalb der EU hat den Brexit-Befürwortern also in die Hände gespielt?
Dass wir als EU hier nicht imstande waren, gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten eine effiziente Vorgangsweise zu finden, war sicher ein ganz wichtiger Punkt in der ganzen Debatte. Wobei man sagen muss, dass Großbritannien dort ganz deutlich mitverantwortlich ist, als eines der Länder, die sich ganz massiv gegen die Umverteilung von Flüchtlingen gewehrt haben.

Im Hinblick auf die Flüchtlingsthematik könnte man jetzt sagen: ein unwilliges EU-Land weniger...
Wenn man etwas Positives sehen will, muss man sagen, dass bei einem ‘Remain’, also einem Verbleib in der EU gekommen wäre, die EU den Briten einige Zugeständnisse machen müssen. Die waren mit David Cameron schon ausgehandelt und werden jetzt logischerweise nicht mehr gemacht. Es war immer vereinbart, dass die ausgehandelten Punkte nur umgesetzt werden, wenn die Briten den Austritts-Vertrag nicht machen.

Was wird in Großbritannien nun passieren?
Es war ein nicht bindendes Referendum für das britische Parlament, das jetzt abstimmen muss. Wenn ich mir das Wahlergebnis anschaue, erwarte ich mir, dass es in den kommenden Tagen und Wochen zu großen Verwerfungen innerhalb des Vereinigten Königreichs kommen wird. Das hat ja schon angefangen. Betracht man das Ergebnis, sieht man, dass genau jene zwei Nationen, mit denen Großbritannien schon seit jeher Probleme hat, Schottland und vor allem Nordirland, sofort gesagt haben, dass sie das Ergebnis nicht akzeptieren werden. Alte Wunden brechen wieder auf, die über lange lange Zeit mühevoll zugekittet worden sind.

Die Populisten in ganz Europa haben auf so ein Ergebnis nur gewartet.

Gehen Sie davon aus, dass Schottland wie bereits 2014 und vielleicht auch Nordirland jetzt ein Referendum in die Wege leiten, um vom Königreich unabhängig zu werden um in der EU zu bleiben? Wäre das überhaupt möglich?
Das hängt vor allem vom Vereinigten Königreich selbst ab. David Cameron hat ja im Hinblick auf Schottland immer gesagt ‘Das Referendum hat es gegeben und es wird kein zweites mehr geben’. Aber man darf nicht vergessen, dass Schottland inzwischen von der Scotish National Party (linksgerichtete Regierungspartei, die sich für die Unabhängigkeit einsetzt, Anm.d.Red.) regiert wird. Beide Großparteien, weder die Tories noch die Labour Party, haben dort eigentlich noch etwas zu sagen.

Wie wird sich das auf die Stimmung in Schottland und im gesamten Königreich auswirken?
Meiner Meinung nach wird es zu einem sehr viel aggressiveren Ton kommen als beim letzten Mal. Weil eine Sache ist sicher: Dieses Mal wissen auch die Engländer, dass wenn die Schotten ein neues Referendum provozieren und es ihnen zugestanden wird, dann kommt es mit allergrößter Wahrscheinlichkeit zu einer Spaltung. 2014 hat David Cameron genauso riskiert, wie er jetzt riskiert hat. Mit dem Brexit-Referendum wollte er der ganzen UKIP-Geschichte ein Ende bereiten. Wäre alles so gegangen, wie er es sich vorgestellt hat, wäre der ganze Spuk vorbei gewesen. In Schottland ist es vor zwei Jahren in seinem Sinne ausgegangen. In diesem Fall nicht. Und jetzt werden die Schotten und auch die Nordiren sicher militantere Töne anschlagen. War für das Vereinigte Königreich und insgesamt für Europa nicht gut ist.


Während dem Interview mit EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann hat der britische Premierminister am Freitag Vormittag seinen Rücktritt angekündigt.