Gesellschaft | Füchtlinge

„Reiner Appell genügt nicht“

In einem offenen Brief an Landesregierung und Landtag liefern Vereine und Freiwillige einen wichtigen Impuls für die Weiterentwicklung der Südtiroler Flüchtlingspolitik.

Die sogenannte Zivilgesellschaft ist in Süditrol mit dem wachsenden Zustrom von Flüchtlingen ohne Zweifel sichtbarer geworden. Denn neben den einschlägigen Organsationen engagieren sich seit der ersten großen Welle am Bozner Bahnhof viele Freiwillige in der Betreuung von Menschen, die angesichts der vielen Lücken im System sonst verloren wären. Gemeinsam antworten sie nun in einem offenen Brief auf den Appell, den Landeshauptmann Arno Kompatscher und Landesrätin Martha Stocker in ihrer Flüchlingsbilanz vor Weihnachten an die Zivilgesellschaft gerichtet haben. Eine realistische Bestandsaufnahme des Status quo und vor allem ein wichtiger Impuls, wie die Aufnahme und Begleitung in Südtirol nachhaltig weiterentwickelt werden kann. 

Sehr geehrter Herr Landeshauptmann, sehr geehrte Abgeordneten des Südtiroler Landtags, sehr geehrte Südtiroler Landesräte, und sehr geehrte interessierte Bürgerinnen und Bürger,

Ein schöner, guter und wichtiger Schritt in der Flüchtlingsthematik: So bewerten engagierte Vereine und Privatpersonen den Appell, den Landeshauptmann Arno Kompatscher und Landesrätin Martha Stocker im Rahmen einer Pressekonferenz am 19. Dezember an die Zivilgesellschaft gerichtet haben. Kompatscher hatte sich „für die humanistischen Grundwerte und gegen populistisch instrumentalisierte Fremdenfeindlichkeit“ ausgesprochen und gemeinsam mit Stocker „ein Bekenntnis, Menschen in Not helfen zu wollen“ ablegt.

Die unterzeichnenden Vereine und Helfer-Gruppen zeigen sich sehr erfreut über diese klare Positionierung: Sie ist ein klares Signal an die Südtiroler Gesellschaft, dass es keine Alternative zum Weg der Hilfe und Menschlichkeit, aber auch keine einfachen, populistischen Antworten auf ein sehr komplexes Thema gibt. Gleichzeitig machen sie darauf aufmerksam, dass ein reiner Appell an die Verantwortung der Zivilgesellschaft nicht genügt. Für eine wirklich nachhaltige Hilfe müssen alle Beteiligten nun den Weg weiter gehen und so intensiv und effizient wie möglich Hand in Hand arbeiten. Gefordert sind Politik, Wirtschaft und Hilfsorganisationen, Vereine und Privatpersonen – und das auf Landes- wie auf Gemeindeebene. Der Appell ist sicher hilfreich, wenn es darum geht, weitere Partner – vor allem bei den Südtiroler Arbeitgebern – mit ins Boot zu holen.

Politik muss tragfähige Rahmen schaffen

Die Unterzeichner erinnern daran, dass es in der Zivilbevölkerung schon lange eine starke Hilfsbereitschaft, solidarische Energie und Motivation gibt. Leider fühlen sich gerade diese zivilgesellschaftlichen Kräfte vielfach ausgebrannt und allein gelassen mit ihren Bemühungen und Ideen. Es braucht einen strukturellen Rahmen, um dieses Engagement möglichst gebündelt und effizient einsetzen zu können, den Freiwilligen Rückendeckung zu geben und die Arbeit – auch bürokratisch – zu erleichtern. Einen solchen Rahmen zu schaffen, ist Aufgabe der Politik. Die Unterzeichner sind bereit, weiterhin mit Vorschlägen und ihrem Einsatz aktiv daran mitzuarbeiten.

Konkrete Schritte

Aus ihrer Erfahrung heraus sehen die Unterzeichner vor allem folgende Maßnahmen als besonders dringend bzw. ausbaufähig:

1. Zuständige Ressorts vernetzen

Zwei unterschiedliche Ressorts sind für die Bereiche „Flüchtlinge“ (Stocker) und „Integration“ (Achammer) zuständig. Eine intensivere Koordination würde Synergien stärken;

2. Koordinierungsstelle für Integration aufwerten

Um eine echte Fachstelle für Integrationsfragen zu werden, ist diese Stelle derzeit unterbesetzt. Es braucht ausreichend Fachpersonal mit Kompetenzen im interkulturellen Bereich, beim Projektmanagement und der Prozessbegleitung sowie die nötigen Ressourcen;

3. Die Freiwilligen koordinieren, entlasten, unterstützen

Die Landespolitik sollte gezielt in eine professionelle Begleitung und Koordination der ehrenamtlichen/freiwilligen „Flüchtlingshelfer“ investieren: mit flächendeckenden, professionellen, leicht zugänglichen Beratungsstellen sowie Fortbildungs- und Supervisionsangeboten für Freiwillige. Leider übernehmen Freiwillige derzeit aus Mangel an offiziellen Ansprechpartnern oft Tätigkeiten, die eigentlich in den Aufgabenbereich der öffentlichen Behörden oder der damit beauftragten, offiziellen Hilfsorganisationen fallen würden – und sind damit vielfach überbelastet und überfordert.

Die Unterzeichner sehen es daher als eine der dringlichsten Herausforderungen, erstens klar zu definieren, welche Aufgaben die öffentlichen Institutionen zu erfüllen haben und welche Aufgaben die Freiwilligen übernehmen können – und zweitens den Freiwilligen den nötigen Rückhalt zu verschaffen.

4. Neue Unterbringungs- und Beschäftigungsmodelle

Die Landesregierung sollte in neue Modelle der Unterbringung, Ausbildung und Beschäftigung der Flüchtlinge investieren. Nur so ist es möglich, dem Phänomen der sich anbahnenden Obdach- und Arbeitslosigkeit aktiv entgegen zu wirken. Schon in den kommenden Monaten werden landesweit hunderte Menschen Antwort auf ihren Rekurs zum Asylantrag erhalten. Diese Antwort fällt entweder negativ aus oder sie spricht einen internationalen Schutztitel zu. Doch dieser sieht keine sozialen Unterstützungsmaßnahmen vor (protezione umanitaria). Ohne griffige Unterstützung in der Arbeits- und Wohnungssuche sind viele dieser Menschen auf sich alleine gestellt, sprich arbeits- und obdachlos. Auch die finanzielle Grundsicherung wird ihnen nicht gewährt. Um ihr Überleben zu sichern, drohen die Betroffenen in die Schattenwirtschaft oder gar in kriminelle Branchen abzurutschen.

Aktiv entgegenwirken könnten unter anderem neue Konzepte der Unterbringung. So gibt es bereits Modelle der Unterbringung bei Privatpersonen. Bestehende Modelle in Italien und im deutschsprachigen Ausland könnten teilweise adaptiert und übernommen werden. Ebenso dringend sind Programme zur Integration in die Arbeitswelt. Die Unterzeichner begrüßen, dass erste Projekte entworfen und aktiviert werden und hoffen, dass die Landesregierung diesen Weg zügig weiter geht und ausbaut.

5. SPRAR-Modell anbieten

Das staatliche SPRAR-Modell sieht die Umsetzung der oben genannten Punkte vor, baut auf transparente Richtlinien und auf koordinierte Zusammenarbeit aller sozialen Akteure auf (www.sprar.it). Dafür stellt Rom pro Flüchtling sieben Euro mehr zur Verfügung als bei den Zweitaufnahmestrukturen (seconda accoglienza), wie es sie derzeit in Südtirol durch die  Beauftragung des Landes an Caritas und Volontarius gibt. Es handelt sich also um ein sinnvolles Modell mit stabiler und nachhaltiger Finanzierung. 

Die Unterzeichner sind der Meinung, dass Südtirol auf diese Möglichkeit nicht verzichten und die Gemeinden und Gemeindeverbänden zum Einstieg ins SPRAR-Modell motivieren und dabei unterstützen sollte. Die Landesregierung und Landesverwaltung gibt sich diesbezüglich immer noch äußerst bedeckt.

6. Lokale Ressourcen sinnvoll nutzen

Spätestens nach den Workshops zu „Menschen auf der Flucht – Herausforderungen & Chancen für Gemeinden“ vom 22. und 23. November, organisiert vom Gemeindenverband und der Alexander Langer Stiftung, ist klar, was in Südtirol ansteht, falls die politisch Verantwortlichen das „Wir-wollen-helfen“ ernst meinen. In Südtirol gibt es mittlerweile viel KnowHow zur Begleitung von Asylanwärter/innen und zur interkulturellen Kompetenz. Es wartet darauf, anerkannt und aktiviert zu werden (interkulturelle Mediator/innen, Sozial- und Kulturanthropolog/innen, erfahrene Freiwillige ...). Es liegt an den politischen Verantwortlichen, die lokalen Ressourcen auch wirklich zu erfassen, anzuerkennen und effizient einzusetzen – oder zumindest die Voraussetzungen zu schaffen, dass sie sich aktivieren können, anstatt  überfordert und demotiviert das Handtuch zu werfen. 

Insofern ist das Bekenntnis der Landesregierung sehr erfreulich und wichtig – mit der dringlichen Anregung, jetzt nicht nachzulassen, sondern konsequent die weiteren nötigen Schritte zu setzen.

Mit freundlichen Grüßen und in Erwartung entsprechender Maßnahmen,

Südtirol, am 29. Dezember 2016

AMIN

Binario1 / Bahngleis1

BOZENACCOGLIE

Donne NISSA' Frauen

Empezamos -Verein für Eine solidarische Welt

EVAA - Ethnologischer Verein Südtirol

Human Rights International

OEW – Organisation für Eine solidarische Welt

 

Bild
Profil für Benutzer Michael Bockhorni
Michael Bockhorni Sa., 31.12.2016 - 09:38

wichtig ist, dass öffentliche Geld so einzusetzen, dass die Flüchtlinge sich sobald als möglich (weitestgehend) selbst erhalten können. Dementsprechend sind die Häuser auszuwählen bzw. zu adaptieren, die Aufträge an die privaten Organisationen zu formulieren, die Erfolge bzw. Zielerreichungen zu kontrollieren und daraus die Massnahmen weiterzuentwickeln. Damit kann ich auch einen Großteil der Ängste und Vorurteile in der Bevölkerung abgebaut werden. Aus eigener Erfahrung der Mitarbeit in einem Haus schaut die Realität derzeit leider ganz anders aus.

Sa., 31.12.2016 - 09:38 Permalink