Myriam Atz Tammerle stellt sich gerne als glühende Patriotin vor: „In meinen Adern fliesst seit Generationen Heimatgefühl, Kampfgeist und politische Aktivität.“ Dass die Landtagsabgeordnete und Klotz-Nachfolgerin für die Selbstbestimmung eintritt, kann kaum verwundern. Auch der auf ihrer Webseite prangende Appell "Südtirol sprenge deine Ketten" lässt kaum Zweifel aufkommen. Welche Ketten die üppige Wohlstandsprovinz sprengen soll? Offenbar jene der walschen Knechtschaft. Denn Myriam Atz und ihre Kollegen von der Südtiroler Freiheit leben in Denkmodellen, die den Blick auf die Realität so verzerren, dass er ins gewünschte Klischee passt.
In einer ihrer unzähligen Anfragen zu gravierenden ethnischen Unzulänglichkeiten empört sich Tammerle über die Benennung der italienischen Mittelschule in Salurn nach dem Verfasser der „blutrünstigen italienischen Nationalhymne“, Goffredo Mameli. Der einleuchtende Grund: „Den Jugendlichen, die eine nach Mameli benannte Schule besuchen, werden mit dem Dichter des zu Kampf und Tod aufrufenden Liedes falsche, absolut abzulehnende Ideale vorgestellt.“
Zur Benennung des Brunecker Kindergartens nach dem notorischen Kriegsverherrlicher, Frauenfeind und Rassisten Bruder Willram liegt keine Anfrage der patriotischen Familienmutter vor.
Zur Benennung des Brunecker Kindergartens nach dem notorischen Kriegsverherrlicher, Frauenfeind und Rassisten Bruder Willram liegt keine Anfrage der patriotischen Familienmutter vor. Durchaus verständlich. Was die Landtagsabgeordnete in politischer Einäugigkeit ignoriert: ihre eigene politische Tätigkeit wurzelt - wie bei Goffredo Mameli und Bruder Willram - in pathetisch übersteigertem Patriotismus. Mamelis Hymnenvers Giuriamo far libero il suolo natio nähert sich verdächtig Tammerles Südtirol sprenge deine Ketten. Das kann nicht verwundern, denn patriotischer Überschwang bedient sich weltweit desselben Pathos. Myriam Atz freilich ist eine Vorkämpferin für das Deutschtum, die mit dem Deutschen häufig Mühe hat. So wie ihre Partei, die Süd-Tirol im Zeichen orthografischer Selbstbestimmung trotzig mit Bindestrich schreibt.
Francesco Palermo als „zweiter Totengräbers Südtirols“
Deutschtümelei ist auch für Tammerles Mitkämpfer Sven Knoll oberstes Gebot. Die italienische Sprachgruppe in Südtirol habe sich zu integrieren wie die Migranten, fordert Knoll: „Wer jedoch nach Südtirol kommt und hier den Faschismus verherrlicht, sich weigert Deutsch zu sprechen, die Tiroler Kultur als Provokation empfindet und von Südtirol verlangt, sich Italien unterzuordnen“, schimpft Knoll, „will gar nicht Teil der Süd-Tiroler Gesellschaft werden, sondern zelebriert eine nationalistische siamo-in-Italia-Mentalität.“ Symptomatisch ist, dass die Südtiroler Freiheit Faschisten immer ausschliesslich unter den Italienern ortet. Nicht etwa in den eigenen Reihen oder jenen ihres Bundesgenossen und Putin-Verbündeten Heinz Christian Strache.
Der kräftezehrende Kampf an der ethnischen Front trübt häufig den Blick auf die Realität. Etwa, wenn Ethno-Taliban Cristian Kollmann uns weiszumachen versucht, dass es sich beim 700 Jahre alten Markuslöwen und bei der gut 2000 Jahre alten säugenden Wölfin um „faschistische Symbole“ handle.
Symptomatisch ist, dass die Südtiroler Freiheit Faschisten immer ausschliesslich unter den Italienern ortet. Nicht etwa in den eigenen Reihen oder jenen ihres Bundesgenossen und Putin-Verbündeten Heinz Christian Strache.
Oder wenn er Francesco Palermo in peinlicher Weise als „Erfüllungsgehilfen Tolomeis und als zweiten Totengräber Südtirols“ diffamiert. Palermo „demaskiere“ sich mit seinem Vorschlag zur Einführung zweisprachigen Unterrichts als „Mehrsprachigkeitsimperalist.“ Diese offenbar brandgefährliche Spielart des Imperialismus war südlich der Unrechtsgrenze am Brenner bisher unbekannt.
Die Endlosschleife: Toponomastik & faschistische Symbole
An der heissen ethnischen Demarkationslinie ist Hysterie freilich an der Tagesordnung. Was den Ladinern längst gestattet ist, soll dem Rest der Südtiroler untersagt bleiben: eine mehrsprachige Schule. In ganz Europa erfreuen sich zwei- oder mehrsprachige Schulen wachsender Beliebtheit. Was in einsprachigen Ländern längst zur Normalität gehört, verursacht im mehrsprachigen Südtirol einen Aufschrei. Ganz nach der Devise des ehemaligen Kultur-Landesrats Anton Zelger: „Je klarer wir trennen, desto besser verstehen wir uns.“
Schliesslich leben wir in einem besonderen Landstrich, in dem die Berge den Blick auf die Welt verstellen. Während in anderen Ländern Immigration, islamischer Terror oder der wachsende Populismus die Gemüter erregen, ereifert man sich in Südtirol 70 Jahre nach dem Sturz des Faschismus noch immer über dessen Symbole. Diskutiert man ein halbes Jahrhundert nach dem Tode Ettore Tolomeis noch immer verbissen über die existentielle Frage, ob die Naturnser Alm malga di Naturno heissen soll. Vergibt man öffentliche Stellen noch immer nach einem längst obsoleten Proporz, der das Leistungsprinzip unterläuft. Klagen ethnische Hardliner wie Kollmann über „Italienisierung in Mussolini-Manier“. Alles ist stets vergangenheitsorientiert und scheint doch allgegenwärtig: vom jetzt gefeierten Volkshelden Andreas Hofer, der den Frauen das Tanzen und Tragen kurzer Ärmel verboten hat, bis hin zu Benito Mussolini, der 72 Jahre nach seinem Tod noch immer als Bedrohung dargestellt wird. Reminiszenzen ersetzen die Realität
Das Kriegsgeschrei dient vor allem einem Zweck: es soll von der Tatsache ablenken, dass in Südtirol das genaue Gegenteil passiert: die Zahl der Italiener im Land sinkt seit Jahren unaufhaltsam.
Die Italienisierung wird angeprangert, als sei sie noch im Gang.
Das Kriegsgeschrei dient vor allem einem Zweck: es soll von der Tatsache ablenken, dass in Südtirol das genaue Gegenteil passiert: die Zahl der Italiener im Land sinkt seit Jahren unaufhaltsam. Während die deutschsprachige Bevölkerung seit der Volkszählung von 1971 um fast 20 Prozent gestiegen ist, hat jene der Italiener um über 16 Prozent abgenommen. Während die Geburtenrate in Südtirol steigt, sinkt sie im mehrheitlich italienischen Bozen. Aus 20 Gemeinden des Landes sind die Italiener überhaupt verschwunden. Die Anzahl der italienischen Landtagsabgeordneten ist in zehn Jahren von 23 auf 14 Prozent gesunken. Die von ethnischen Scharfmachern beschworene Bedrohung entpuppt sich so als reiner Phantomschmerz.
Il Sudtirolo non è Italia
Zu den selbsternannten Wächtern an der ethnischen Front gehört auch der Obmann des Südtiroler Heimatbundes, Roland Lang. Sein zur Fussball-EM verteilter Aufkleber „Möge der Bessere gewinnen, nur Italien nicht“ ist an Originalität kaum zu überbieten. Auch die in Rom plakatierten 1000 Poster „Il Sudtirolo non é Italia“ stellen eine geglückte Sympathiewerbung für unser Land dar. „Unsere derzeitige politische Vertretung in Rom erweckt ja bei den Italienern den Eindruck, dass wir uns mit der Zugehörigkeit zu Italien abgefunden haben und lediglich sogenannte Privilegien herausschinden wollen“, rechtfertigt Lang seine anachronistische Kampagne.
Restposten seiner Plakate könnte Lang nach dem jüngsten „Hymnen-Skandal“ um die Skirennläuferin Stephanie Venier in Nord- und Osttirol aufkleben lassen, wo die Südtiroler bereits seit Jahrzehnten nicht als geknechtete Brüder, sondern als wohlhabende und durch satte Subventionen bevorteilte Landsleute beneidet werden.
„Nach ausdauernder ethnischer Zündelei können die patriotischen Eiferer nun endlich Erfolge verzeichnen. Nach Jahrzehnten friedlicher Koexistenz wächst die Spannung zwischen den Sprachgruppen wieder.“
Doch nach ausdauernder ethnischer Zündelei können die patriotischen Eiferer nun endlich Erfolge verzeichnen. Nach Jahrzehnten friedlicher Koexistenz wächst die Spannung zwischen den Sprachgruppen wieder. Der halbvergessene disagio degli italiani ist erneut Diskussionsthema. Vor allem im Tagblatt Alto Adige, dessen Verkauf an Athesia viele Italiener in ihrer Überzeugung des „dominio dei tedeschi“ bestätigt hat. Ein Aufruf internationaler Sprachwissenschaftler warnt vor der Auslöschung italienischer Ortsnamen. In Italiens grossen Tageszeitungen hält das Thema erneut Einzug. „In questo pezzo d'Italia essere italiani é eroico“, titelt die Corriere-Beilage Sette eine ausführliche Reportage. In der minoranza italiana ortet das Blatt „malumore, frustrazione e la marginalitá etnica, linguistica, sociale ineluttabile“. Fast scheint es die Umkehrung der Todesmarsch-Parolen der Fünfziger Jahre.
Senator Francesco Palermo beschwichtigt und warnt im Alto Adige gleichzeitg davor, den Bogen zu überspannen: „I sudtirolesi hanno vinto. Ora non esagerino. Devono essere generosi. Sono la maggioranza economica, politica, culturale e sociale. Sono una maggioranza vincente con il complesso della minoranza. La partita è stata vinta dal gruppo tedesco, che deve imparare a vincere. Stravincere fa male. È un percorso da fare insieme.“
Südtirol - ein bröckelndes Modell
Die Jahre, in denen Südtirol als europäisches Modell gepriesen wurde, sind vorüber. Das Modell bröckelt, die ethnischen Fronten brechen wieder auf. Die Skandale um die Energiegesellschaft SEL, die goldenen Politikerrenten und die Landessparkasse sowie die massive Verschuldung der Sammelpartei haben das Bild der Musterprovinz getrübt. Und sie haben sich auf die Mitgliederzahl der SVP folgenschwer ausgewirkt. Während das Trentino konsequent auf eine dreisprachige Schule zusteuert und das Gesundheitssystem der Nachbarprovinz als das beste Italiens gilt, herrscht in Südtirol entnervendes Dauergezänk um die Krankenhäuser und die mit Streik drohenden Hausärzte. Die Primare verlassen reihenweise die Krankenhäuser.
Verkehrte Welt: eine Zweidrittelmehrheit lebt in einer satten und reichen Provinz noch immer in der Überzeugung, eine schutzbedürftige Minderheit zu sein. In einer Provinz, in der Nabelschau und Selbstmitleid zu festen Bestandteilen der Südtiroler Befindlichkeit gehören. Und in der die Identität einer Person nach wie vor über die Muttersprache definiert wird und nicht über ihre Qualität.
Die Zahl der Scharfmacher steigt - in beiden Lagern. Bozen gebührt der zweifelhafte Rekord, italienweit die meisten Mitglieder von Casapound im Gemeinderat zu haben.
Die Liga der Streithähne ist durchaus interethnisch - von Alessandro Urzí bis zu Andreas Pöder, der sich selbst als Populist outet und mit der Gründung eines AfD-Ablegers in Südtirol liebäugelt.
Die Töne der Konfrontation grenzen oft an Hysterie - wie bei der die jüngsten Kruzifixdiskussion, die übelsten Bodensatz an die Oberfläche gespült hat. Oder in Kollmanns Kommentar zur Toponomastik-Einigung in der Sechserkommission: „Die SVP hat dem faschistischen Kulturverbrechen endgültig zum Durchbruch verholfen.“
Viele jener, die im ethnischen Kräftemessen unerkannt bleiben wollen, äussern ihr Unbehagen anderweitig . Etwa all jene anonymen Patrioten, die sich am Wochende Filzschreiber in die Windjacke stecken, um die Wegweiser in ihrem Sinne zu „korrigieren.“ Wenn in vielen Jahren der endlose Toponomastikstreit offiziell bereinigt wird, wird es im Wanderparadies Südtirol fast keinen Wegweiser mehr geben, der nicht verschmiert ist.
Kleinkariert, aber autonom.