Gesellschaft | salto-Gespräch

„Lernen wir von Katalonien“

Das katalanische Modell könnte Südtirols Autonomie einen Schritt weiter bringen, sagt Minderheitenforscher Andrea Carlà. Wenn auch nicht im Sinne der Südtiroler Freiheit.
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Foto: Foto: Salto.bz

salto.bz: Herr Carlà, in Katalonien überschlagen sich in diesen Tagen die Meldungen zum angestrebten Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober. Sie haben sich in einer ausführlichen Forschungsarbeit mit der autonomen spanischen Region befasst – können Sie abschätzen, wie der Konflikt zwischen Madrid und Barcelona ausgeht?
Andrea Carlà:
Nein, das ist zur Zeit schwer abzuschätzen und dafür wäre ich auch nicht die richtige Person.  Wir haben uns in der Eurac weniger auf die aktuellen Sezessionsbestrebungen konzentriert, sondern das Autonomiemodell Kataloniens dem Südtiroler Modell gegenübergestellt. Und zwar in einer breiten Studie zu den unterschiedlichen Ansätzen in der Migrationspolitik. Aus dieser Studie, an der wir zwischen 2011 und 2013 gearbeitet haben, sind dann verschiedene Spin-Offs, also Artikel und Papers hervorgegangen. Darunter ein Artikel, den ich kürzlich veröffentlicht habe und in dem auf die Mechanismen eingegangen wird, mit denen der historisch gewachsenen Vielfalt in beiden Regionen begegnet wird.

Auf den Punkt gebracht – was sind die größten Unterschiede?
Sehr verkürzt gesagt, kann man sagen: In Katalonien wird seit jeher auf Inklusion gesetzt, hier in Südtirol dagegen auf Trennung. Und das zeigt sich auch in der Migrationspolitik, die direkt mit den unterschiedlichen Erfahrungen der beiden Regionen mit der internen Migration aus dem restlichen Spanien bzw. Italien zu tun hat. Die wurde in Katalonien weit weniger traumatisch erlebt als in Südtirol.

Gab es unter Franco nicht auch eine Unterdrückung der katalanischen Kultur und Sprache?
Doch, die gab es. Aber in einem anderen wirtschaftlichen Kontext. Die Wirtschaft Kataloniens wurde damals vom katalanischen Bürgertum kontrolliert und für die kastilischen Einwanderer, die aus dem restlichen Spanien zuwanderten, hatte dieser katalanische Kapitalismus etwas verheißungsvolles, war direkt mit dem Traum vom sozialen Aufstieg verbunden. Umgekehrt sahen die katalanischen Nationalisten die Masse der Zuwanderer nicht als Bedrohung. Vielmehr hieß es damals: Lasst uns diese Menschen in unser Projekt gegen das Franco-Regime einbinden.

Sie wurden also nicht als Invasoren, sondern als mögliche Verbündete gesehen?
Genau, es gab eine bewusste Wahl, sie zu integrieren. Und aus dieser Erfahrung heraus hat sich dann nach dem Ende des Franco-Regimes auch ein anderes Modell als hierzulande entwickelt, mit dem Schutz der sprachlichen Minderheiten umzugehen. Wobei der Begriff der sprachlichen Minderheit in Katalonien nicht einmal existiert, dort spricht man eher vom Umgang mit der kulturellen und sprachlichen Diversität.

"Alle können Katalanen sein, sofern sie in Katalonien wohnen."

Die Katalanen fühlen sich also nicht als sprachliche Minderheit?
In Katalonien selbst sicher nicht. Weil die katalanische Autonomiepolitik eben historisch, aber auch heute noch darauf ausgerichtet ist, alle Menschen, die dort leben, in die katalanische Gemeinschaft aufzunehmen. Also, ab den Achtziger Jahren wurde politisch auf Basis des Autonomiestatutes von 1979 stark an einer Aufwertung der katalanischen Kultur und Sprache gearbeitet. Da wurde auch viel Geld investiert, aber eben nicht nur für katalanische Vereine oder die alteingesessenen Katalanen, sondern in die gesamte Gesellschaft. Zum Beispiel mit einem breiten Angebot an Katalanisch-Sprachkursen.

Für die Zuwanderer aus dem restlichen Spanien?
Katalonien hat seit Beginn des 20. Jahrhunderts mehrere Einwanderungswellen aus Spanien erlebt, es ist schließlich eine der prosperierensten Regionen des Landes. Und so sind seit 1910 immer wieder gewaltige Massen in diese reiche Region abgewandert, um ihr Glück zu suchen.

Wie geht man in Katalonien mit dem Thema Schule um?
Die Schule ist ein zentrales Element dieser Inklusions-Strategie. Eine Segregation, also Trennung der Sprachgruppen in der Schule, ist in Katalonien ausdrücklich verboten. Es gibt nur eine Schule, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte Schritt für Schritt immer katalanischer wurde. Am Beginn ging man von einem paritätischen Verhältnis zwischen den beiden Sprachen aus. Das hat sich nun immer mehr zu Gunsten der katalanischen Sprache verschoben. Doch es ist weiterhin Pflicht, dass Schulabgänger beide Sprachen beherrschen. Wie viel des Unterrichts in welcher Sprache abgehalten wird, unterscheidet sich dann auch zwischen den einzelnen Schulen, da gibt es eine ziemliche Vielfalt.

 

Ist es nicht weit leichter, Katalanisch zu lernen, wenn man Spanisch spricht, als Deutsch, wenn man Italienisch spricht?
Ja natürlich, das macht wirklich einen Unterschied und erleichtert die  Mehrsprachigkeit in Katalonien sicherlich. Aber wie gesagt, es wird gleichzeitig aktiv dafür etwas getan, indem alle Nicht-Katalanen sozusagen im Schoß der katalanischen Gemeinschaft aufgenommen werden.

In Südtirol hat man den Schutz der deutschsprachigen Minderheit immer auf andere Art zu garantieren versucht.
Hier wird bekanntlich bis heute eine Vermischung der Sprachgruppen tunlichst vermieden, allem voran durch die getrennten Schulen. Also, wir haben hier ein gemischtes System, einerseits eine Territorialautonomie, eine Autonomie für alle. Gleichzeitig werden die Sprachgruppen mit Elementen einer Konkordanzdemokratie fein säuberlich getrennt und garantiert, dass jede Gruppe Zugang zur Macht erhält, aber auch weiterhin ihre Kultur und Sprache leben kann. Deshalb haben wir den Proporz, getrennte Schulen, drei unterschiedliche Kultur- und Bildungsressorts. In Katalonien gibt es beispielsweise keine Trennung zwischen einem katalanischen und kastilischen Kulturressort.

Wenn also die Südtiroler Freiheit Katalonien als Vorbild für Südtirol preist, meint sie damit wohl nicht sein Schulmodell oder generell diese Politik der Inklusion?
Wohl kaum. Sonst müssten sie ja aufhören, gegen mehrsprachige Schulen zu mauern. Da pickt man sich vielmehr die Rosinen heraus, also in dem Fall die Unabhängigkeitsbestrebung.

Warum will Katalonien überhaupt unabhängig werden? Zumindest das Modell des Zusammenlebens scheint gut zu funktionieren...
Bis in die Nuller Jahre hinein wurde auch nicht von Unabhängigkeit gesprochen. Bis dahin war die Region ein Modell für ein multinationales friedliches Zusammenleben, einen bürgerlichen Nationalismus, in dem die Identität nicht von der Herkunft geprägt wird, keine Frage des Bluts ist. Alle können Katalanen sein, sofern sie in Katalonien wohnen.  

"Ich mache kein Geheimnis daraus, das ich das bestehende System kritisch sehe und eine mehrsprachige Schule besser finden würde. Genauso wie ich all diese Bestimmungen ein wenig aufweichen würde, die die Sprachgruppen so stark trennen."

Auch Zugezogene, die keine Spanier sind?
Ja, zumindest bis zu einem bestimmten Grad. Denn wie wir in unserem Forschungsprojekt aufgezeigt haben, verfolgt man in Kataloniens Migrationspolitik denselben Ansatz wie bei den spanischen Zuwanderern. Wir machen sie zu Katalanen, auch wenn wir gleichzeitig ihre Andersartigkeit anerkennen und den Pluralismus innerhalb der  Gemeinschaft fördern. Das ist die Idee einer Zivilbürgerschaft oder, wie sie in Katalonien heißt, Wohnbürgerschaft. Sprich: alle im Land ansässigen Menschen haben unabhängig von der jeweiligen Staatsangehörigkeit gleiche Rechte, die gleiche Verantwortung und gleiche Chancen. Die Gemeinsamkeit, das verbindende Element der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen ist die gemeinsame Sprache, das Katalanische. Die Philosophie lautet: Wir können verschieden sein, solange wir alle Katalanisch sprechen. 

In Südtirol hält man sich dagegen noch immer an Anton Zelger: Je besser wir trennen, desto besser verstehen wir uns.
Die Auswirkungen davon zeigen sich auch beim Thema Migration. Denn hierzulande stoßen Migranten auf bereits klar getrennte Gruppen – und werden zu einer weiteren Gruppe. Die Integration in die Südtiroler Gesellschaft wird dadurch um einiges schwieriger. Besteht sie doch aus drei unterschiedlichen Sprachgruppen mit ihrer eigenen Identität. Und dann gibt es da immer noch die Angst unterwandert zu werden....

Also gibt es auch hier Parallelen zwischen den Grundsätzen der Autonomie und der Ausländerpolitik?
Ja, es ist ein ähnlicher Diskurs. Erinnern wir uns an das Integrationsgesetz aus dem Jahr 2011 mit der berühmten 5-Jahres-Klausel, die den Zugang zu bestimmten Sozialleistungen für Zuwanderer einschränken sollte. Die wurde in der Zwischenzeit vom Verfassungsgericht gekippt und nun versucht man es eben mit Achammers Integrationspakt. Also, dann wird das Recht auf Sozialleistungen eben an den Besuch von Sprachkursen geknüpft. Doch es bleibt immer ein ausgrenzender Ansatz, den es in Katalonien nicht gibt. Also, dort spricht man wie in vielen Teilen Europas zwar nun auch ein wenig auf diesen Zug auf, den Zugang zu Leistungen an den Spracherwerb zu koppeln. Es gibt dann ein sogenanntes Aufnahmezertifikat, das jedoch nicht verpflichtend gemacht werden muss. Es hilft und erleichtert, aber wenn man es nicht hat, ist es nicht das Ende der Welt und grenzt niemanden aus.

Wenn man Ihnen zuhört, klingt es so als wären Katalanen bessere Menschen als Südtiroler?
Das mag vielleicht danach klingen. Doch tatsächlich geht es hier nicht um gute oder schlechte Menschen, sondern um ein knallhartes Eigeninteresse. Dieser Ansatz ist ihr Weg, um ein klares Ziel zu erreichen: das Projekt einer eigenen Identität, die nun auch noch in einem unabhängigen Staat enden soll. Es geht einfach um die Abgrenzung von Madrid. Wir integrieren die Menschen in unser Modell, nicht in jenes der spanischen Zentralregierung. Und wenn man genauer hinsieht, gibt es natürlich auch in Katalonien Fälle von Rassismus. Und es ist auch spürbar, dass ein zugewanderter Katalanier meist einen anderen sozialen Status als ein alteingesessener hat. Dennoch wiegt der Wohnsitz im Verhältnis zu Südtirol stärker als die ethnische Zugehörigkeit.

Haben die Sezessionsbestrebungen etwas an diesem Modell der Inklusion verändert?
Nein, das bleibt unverändert. Auch die Migranten werden dazu aufgerufen, für die Unabhängigkeit zu stimmen.

Wie kam es zu den Bestrebungen einen eigenen Staat zu bilden?
Im Zug der Überarbeitung des Autonomiestatus im Jahr 2006 versuchte man in Katalonien die eigene Autonomie noch einmal auszubauen. So wurde die Region im Statut als Nation bezeichnet und die katalanische Regierung bekam einige wichtige neue Kompetenzen dazu. Außerdem wurde auch ein Konzept übernommen, das bereits seit den Neunziger Jahren das davor geltende Modell ablöste, die Verbreitung und den Erhalt des Katalanischen so gut wie möglich zu fördern. Statt dessen begann man, dem Katalanischen klar den Vorrang einzuräumen und dieser Ansatz wurde auch im überarbeiteten Autonomiestatut verfestigt. Doch alle diese Punkte wurden nach einem Rekurs schließlich vom spanischen Verfassungsgericht gekippt.

"Die Bevölkerung wird sich immer mehr vermischen – mit oder ohne mehrsprachige Schulen. Und so wird es irgendwann definitiv vorbei sein mit den getrennten Sprachgruppen im Land. Wenn nicht jetzt, dann in 20 oder eben in 40 Jahren."

 

Und als Reaktion darauf startete die Unabhängigkeitsbewegung?
Genau. Dazu beigetragen hat aber sicherlich auch, dass man damals mitten in der Wirtschaftskrise steckte. Katalonien ist ein Nettozahler, es fließt sehr viel Geld an den Zentralstaat ab, und man hat dort bis heute keine Finanzautonomie. Und dann hat Madrid sicherlich Fehler gemacht, weil man immer nur gemauert hat, das Referendum unterbunden hat. So hat sich die Situation ständig zugespitzt.

Haben Sie die Abspaltungsbestrebungen in Südtirol im Rahmen Ihres Forschungsprojekts mit jenen in Katalonien verglichen?
Ich habe es mir schon angeschaut. Doch hier gibt es eben wiederum einen deutlichen Unterschied, der mit den entgegengesetzten Schutzmodellen in Zusammenhang steht. Durch das Festhalten an der Trennung der Sprachgruppen ist die sezessionistische Bewegung in Südtirol gewissermaßen blockiert.  Denn es gibt nicht nur das Spannungsfeld Rom-Südtirol, sondern auch eines innerhalb der Provinz, den Konflikt zwischen der deutschen und der italienischen Sprachgruppe. Und nachdem die Sezessionsbestrebungen nicht von der italienischsprachigen Gruppe mitgetragen werden, kann sie nicht wachsen. Deshalb bleibt die sezionistische Bewegung hier auch ohne große Bedeutung.

Zumindest im Vergleich zu Katalonien...
Dort hat die Autonomiepolitik dazu geführt, dass es nur den Konflikt mit dem Zentralstaat gibt, weil es eben eine gemeinsame katalanische Identität gibt. Und so gibt es auch viele Kastillianer, die für die Unabhängigkeit sind.

Wie viele es tatsächlich sind, würde man nun gerne mit dem Referendum herausfinden...
Es gibt zumindest Schätzungen in einer Größenordnung zwischen 40 und 50 Prozent. In Südtirol würde man dagegen laut vergangenen Wahlergebnissen der sezessionistischen Parteien nicht weit über 20 Prozent hinauskommen. Und ich glaube auch nicht, dass viel mehr Wachstum drinnen ist. Selbst wenn versucht würde, die Italiener für einen unabhängigen Staat zu begeistern – das wird nicht gelingen, solange wir getrennt leben.

Können Sie als Forscher sagen, aus Sicht des Minderheitenschutzes ist ein Modell der Inklusion besser als eines der Trennung?
Ich würde eher sagen, ein solches Modell ist für die gesamte Gesellschaft besser. Eine Gesellschaft, in der alle Gruppen zusammengeführt werden, ist stärker als eine, in der sie getrennt bleiben. Wir haben im Zuge unserer Studie deshalb vor vier Jahren auch eine Reihe von Vorschlägen für eine Migrationspolitik auf Basis des katalanischen Modells gemacht. Kernpunkt ist dabei die Idee einer Zivil- bzw. Wohnbürgerschaft, hinter der eben der Wille zu vollständigen und aktiven Inklusion aller Menschen steht, die in einer Gemeinschaft leben.

Würden Sie aber auch empfehlen, an Südtirols Autonomiemodell und seinen Grundpfeilern in Anlehnung an Katalonien weiterzufeilen?
Ich mache kein Geheimnis daraus, das ich das bestehende System kritisch sehe und eine mehrsprachige Schule besser finden würde. Genauso wie ich all diese Bestimmungen ein wenig aufweichen würde, die die Sprachgruppen so stark trennen.

Aus ideologischen Gründen oder weil sie aufgrund Ihrer Forschung erkennen, dass andere Modelle Minderheiten besser tun?
Eher auf  Basis der negativen Beispiele anderer Minderheiten, deren Modell unserem ähnelt.

Zum Beispiel?
Zum Beispiel Bosnien-Herzegowina, das als Staat einfach nicht funktioniert. Natürlich kann die Situation dort nicht direkt mit unserer verglichen werden, aber es geht um dieselben Prinzipien. In Nordirland versteht man derzeit nicht ganz wohin geht, aber auch dort haben wir ein solches Konkordanzmodell. Und dann muss man auch sagen: Wir haben die problematischen Seiten eines solchen Modells vor unseren Augen. Wir haben eine Bevölkerung, die nicht zweisprachig ist. Die Landespolitik wird immer noch regelmäßig von ethnischen Fragen wie der Toponomastik blockiert. Und das in einer Gesellschaft, die seit langem friedlich zusammenlebt. Ich meine, die letzte Bombe hatten wir im Jahr 1988 und in der Provinz gibt es einen außergewöhnlichen wirtschaftlichen Wohlstand. Und dennoch sind wir immer noch von ethnischen Spannungen gebremst.

Dennoch kommen aber auch Delegationen aus aller Welt nach Südtirol, um die Autonomie hier als Erfolgsmodell zu studieren.
Natürlich gibt es auch positive Seiten. Es ist ein Modell, mit dem Gewalt und ethnische Spannungen befriedet wurden. Es gibt Vertrauen und heute wird die Vielfalt auch als Reichtum wahrgenommen. Doch es bleibt eine Spannung aufrecht und wir haben konkrete Probleme, wie die Tatsache, dass in einem zweisprachigen Land viele Menschen nicht zweisprachig sind.

Sie würden das Erfolgsmodell also gerne noch weiter optimieren?
Natürlich wäre das gut. Doch wenn die Politik nicht dafür sorgt, wird es ohnehin die Demografie erledigen. Denn die Bevölkerung wird sich immer mehr vermischen – mit oder ohne mehrsprachige Schulen. Und so wird es irgendwann definitiv vorbei sein mit den getrennten Sprachgruppen im Land. Wenn nicht jetzt, dann in 20 oder eben in 40 Jahren.