Katalonien, 1. Oktober 2017. Lombardei und Veneto, 22. Oktober 2017. Andere Vorzeichen, andere unschöne Begleiterscheinung, aber doch genau das gleiche Thema: In Selbstbewusstsein erstarkte Regionalisten gegen Zentralisten, die ihrerseits den Vorwurf retournieren, dass eben die Regionalisten Nationalisten seien, Mikronationalisten eben, im Wettbewerb sich gegenseitig mit nationalistischen Argumenten nationalistische Motivation vorzuwerfen. Stagnierende Nationen, die im Prinzip pulsierenden und weniger florierenden Regionen gerecht werden wollen, und aus eben diesem Prinzip, beziehungsweise aus pflichtbewusster Panik, diesem Prinzip nicht mehr gerecht werden zu können, den florierenden Regionen ihr Selbstbewusstsein vermiesen, anstatt sich von deren Tatkraft beflügeln zu lassen.
Darüber die Klammer der EU, der EU der Nationen, die von Nationen gegründet wurde, von Nationen bezahlt wird und letztlich aus Nationen besteht. Eine EU, die eine EU der Bürger, eine EU der Werte sein wollte, die aber wir, das Wahlvolk der einzelnen Nationen, gerade dazu explizit nicht legitimierten. Nun ringt sie mit sich, diese unsere EU, ob sie sich deutlich gegen ihr Mitglied Spanien stellen sollte, ob Klienteldiplomatie und Legalität von dieser zur Zeit nur durch Verträge und nicht etwa von Empathie zusammengehaltenen EU hinten angestellt werden sollten, um Bürger und moralisches Recht wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Im Falle Kataloniens hat die EU wohl ganz Europa enttäuscht, wird aber gerade von jenen empört angeprangert, die die EU bis dato am lautesten daran gehindert hatten, sich aus der EU der Nationen zu schälen, um wirklich eine EU der Bürger und Bürgerinnen zu werden. Das Bashing hat System und ist mit Sicherheit nicht konstruktiv.
Nationalisten gibt es überall, in Katalonien, in Flandern, in Venetien, das durchschauen wir Südtiroler nur allzu gut. Es gibt sie aber auch in Spanien, in Italien und sie bleiben sich nichts schuldig. Die Mehrheit der Katalanen ruft aber nicht „Wir sind das Volk!“. Ich widerspreche all den gelehrten und gelernten Kommentatoren, dass Begriffe wie Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Freistaat der Katalanischen Gemütswelt gerecht werden würden. „To be or not to be a nation“ ist nicht die Frage. Der Eindruck, dass dem so wäre, entspringt nur unserem phantasielosen, bipolaren Verständnis der Welt, das in der Logik der Nationen, der Logik der EU der Nationen gefangen ist.
Letztlich geht es schlicht um Emanzipation. Wer wirtschaftlich erfolgreicher ist, dem ist es kaum zuzumuten, sich als Juniorpartner behandeln zu lassen. Der Vergleich zu Eheleuten mag hinken, beschreibt es aber doch sehr anschaulich: Dort ist man Gott sei Dank von der Schuldfrage abgekommen. Es gehört zur Erkenntnis der Menschheit, dass beide sich stets und dauernd für einander bemühen müssen, wenn es auf Dauer klappen soll, und zu deren Errungenschaft, diesem „bis dass der Tod euch scheidet“ mit aufgeklärtem Traditionsbewusstsein relativierend zu begegnen. Als Gesellschaft können wir uns nur wünschen, dass das mit dem Dialog, zur Not mit der Mediation klappt, weil wir nur zu gut wissen, welche Scherben und Narben bleiben, bei Geschiedenen und auch bei ihrem Umfeld. Manchmal kann Scheidung aber doch der sinnvollere Weg sein.
Regionale Selbstbestimmung zu dämonisieren bringt genauso wenig wie sie zu befeuern. Die Regionen suchen ihren Platz auf der Welt. Irgendwo zwischen Globalisierung und Regionalkreisläufen, zwischen Patriotismus und Weltoffenheit, zwischen den bald acht Milliarden Erdenbewohnerinnen und dem Individuum, dem Bürger, warten neue Aufgaben auf die Regionen. Wir können es uns nicht leisten, auf ihre Tatkraft zu verzichten, auf ihren teils euphorischen Willen, ihren Beitrag zu leisten, sich emanzipatorisch der Verantwortung zu stellen.
Die Regionen suchen ihren Platz in Europa. Ob jetzt Europas Nationen ganz gemäß dem Menasse’schen Narrativ überrollt werden, oder irgendwie anders, die Regionen werden sich mittelfristig gegenüber den Nationen emanzipieren. Es liegt an der EU, also an uns, ob wir sie in aller Phantasielosigkeit auf diesem Weg dazu zwingen, Mikronationen zu werden, hässliche Bilder wie in Barcelona frei Haus, oder ob wir ihnen einen anderen, würdigeren Weg ins Zentrum der EU ebnen. Schließlich geht es nicht darum, Regionen und Nationen gegeneinander auszuspielen, wie heutzutage die Begriffe „Selbstbestimmung“, „Postnationalität“ und „Europa der Regionen“ wohl verstanden werden. Es geht um ein erfolgreiches und natürlich friedliches und emanzipiertes, aber auch flexibles Miteinander mehrerer Governance-Ebenen. Augenhöhe ist das Schlüsselwort.
Wir können den Fall Katalonien als Chance denn als Problem sehen. Spanien wird weder das Problem lösen noch die Chance ergreifen, genauso wenig wie Italien das mit der Lombardei und Venetien auf die Reihe bringen wird. Es ist die EU, die ein Angebot machen werden muss, und es liegt an uns, der Nationen Wahlvolk, die EU dazu zu legitimieren. Dann, und nur dann, werden es genau besagte Regionen sein, die als Avantgarde den Karren Europas aus dessen Krise ziehen.