Gesellschaft | Staatsbürgerschaft

Ein gefährlicher Spaltpilz

Braucht Südtirol eine neue soziale Spaltung? Ein kritischer Gastbeitrag des Südtiroler Universitätsprofessors Max Haller zur Frage des Doppelpasses für die Südtiroler.
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Foto: Suedtirolfoto.com / Othmar Seehauser
Seit einigen Jahren schwirrt eine neue Idee zur Stärkung der Autonomie Südtirols bzw. der Verbundenheit der Südtiroler mit Österreich herum, die Verleihung einer österreichischen Staatsbürgerschaft an die Südtiroler.
Sie kam auf, nachdem Italien 2006 ein Gesetz erließ, dass Italiener im ehemaligen Jugoslawien, die vor 1947 italienische Staatsbürger waren, sowie deren Nachkommen die italienische Staatsbürgerschaft erhalten können. Propagiert wurde diese Idee vor allem von konservativen bis rechten Politkern und Parteien in Südtirol und Österreich.
So stellte die FPÖ 2009 einen formellen Antrag dazu im Nationalrat in Wien. Diese Idee ist nun voll auf die politische Tagesordnung gekommen, nachdem auch in Südtirol die Mehrheit der Landtagsabgeordneten diesen Vorschlag aufgegriffen und in einer formellen Resolution unterstützt hat. Von der kommenden neuen blau-schwarzen Regierung in Wien ist auf jeden Fall eine ernsthafte Prüfung dieses Vorschlags zu erwarten.
Rein rechtlich wäre eine solche Maßnahme möglich, wie der Innsbrucker Verfassungsrechtler Prof. Walter Obwexer in einem umfassenden Gutachten schon 2011 festgestellt hat. Wenn man sich jedoch die Implikationen und Folgen einer solchen Maßnahme ansieht, kann man nur ein großes Fragezeichen darunter setzen. All jene Südtiroler Politiker – aber genauso jene in Österreich - die sie dabei unterstützen, scheinen sich ihre Implikationen bei weitem nicht klar gemacht zu haben.
Jene Südtiroler Politiker – aber genauso jene in Österreich - die die Forderung nach einer Doppelstaatsbürgerschaft unterstützen, scheinen sich ihre Implikationen bei weitem nicht klar gemacht zu haben.
Was bedeutet Staatsbürgerschaft? Wer soll sie erhalten?
Das Prinzip der Staatsbürgerschaft, eingeführt im heutigen vollen Sinn erst mit der Französischen Revolution 1789, bedeutet die Abschaffung der Adelsprivilegien und die Durchsetzung des Prinzips, dass alle dauerhaft auf dem Territorium eines Staates lebenden Menschen als volle Bürger anzusehen sind, also in jeder Hinsicht gleichwertig und als solche mit den gleichen Rechte und Pflichten ausgestattet sind. Werden diese Rechte bestimmten Gruppen nicht gewährt, ist dies als Diskriminierung zu betrachten (nicht selten passierte dies auch Romas und Sintis in Österreich).
Die Rechte umfassen die Sicherheit für die Bürger im Innern und gegen äußere Feinde, soziale Absicherung im Notfall, und vor allem das volle Mitspracherecht am politischen Leben. Es bedeutet aber auch Pflichten, die von der Beachtung der Gesetze, der Entrichtung von Steuern, bei Männern der Ableistung des Wehrdiensts bis hin zur politischen Beteiligung in der Minimalform der Wahlbeteiligung gehen.
Diese stellte noch bis vor kurzem ja in vielen Ländern eine Pflicht dar, die leider fast überall aufgehoben wurde. Diese Rechte und Pflichten dürfen auch keinem Staatsbürger genommen werden; nur autoritäre Staaten wie Russland schieben unliebsame Personen ins Ausland ab (so etwa den berühmten Schriftsteller Alexander Solschenizyn).
 
Wie würde dies im Falle Südtirol aussehen? Gelten dann für Südtiroler österreichischer Staatsbürgerschaft auch die österreichischen Gesetze und Vorschriften? Haben Sie Anspruch auf Sozialleistungen?
Viele davon würden sie wohl nicht erhalten, da die meisten davon an den dauernden Aufenthalt in Österreich gebunden sind. Aber wenn sie solche Leistungen erhalten würden, müssten sie wohl auch Steuern an den Staat Österreich entrichten, da ansonsten eine offene Ungleichbehandlung mit in Österreich lebenden Staatsbürgern gegeben wäre.
Beim Wehrdienst (sofern sich jemand dafür melden würde) könnten es sich die Wehrpflichtigen aussuchen, in welchem Land sie diesen ableisten wollen. Im Extremfall könnte dies im Falle eines Krieges dazu führen, dass Südtiroler gegen Südtiroler kämpfen müssten.
Im Extremfall könnte dies im Falle eines Krieges dazu führen, dass Südtiroler gegen Südtiroler kämpfen müssten.
Dies mag vielleicht weit hergeholt sein. Nicht trivial sind jedoch die Probleme bei der dritten Verpflichtung eines Staatbürgers, nämlich sich am politischen Leben zu beteiligen, insbesondere an Wahlen teilzunehmen. Sollen dann die Tiroler (oder Wiener) Parteien und Politiker auch in Südtirol Wahlkampftouren machen? Wer in Südtirol kennt die österreichische Politik, ja ist überhaupt wirklich daran interessiert? Ich kann (als Doppelstaatsbürger) bei Südtiroler Landtagswahlen und italienischen Parlamentswahlen teilnehmen und versuche auch einigermaßen, die Politik in Südtirol und Italien zu verfolgen. Aber schon bei der Vergabe von Vorzugsstimmen in Südtirol und ebenso bei der Wahl einer der vielen Parteien in Italien stehe ich vor dem Problem der mangelhaften Information.
Auch auf Seiten Österreichs würden sich gravierende Probleme aus verfassungstheoretischer Perspektive ergeben. In Österreich lebten gab es Anfang 2017 gut eine halbe Million Ausländer, 13% der Bevölkerung; die meisten von ihnen leben schon jahrelang in Österreich und wollen auch hier bleiben. Wenngleich nicht wenige davon das Recht hätten, eine Staatsbürgerschaft zu beantragen, sind die Hürden für deren Erlangung heute doch so hoch (zehnjähriger ununterbrochener Aufenthalt in Österreich, gesichertes dauerhaftes Einkommen usw.), dass es für die meisten nicht möglich wäre. In Wien beträgt der Ausländeranteil 28%, bei den Wahlen kann damit gut ein Drittel der dauerhaft hier lebenden Erwachsenen nicht teilnehmen! Wenn in Bezug auf das Recht der Staatsbürgerschaftsverleihung in Österreich etwas getan werden sollte, dann hier.
Es erheben sich also Fragen über Fragen, die man nicht ohne weiteres beantworten kann. Sie könnte man verfassungsmäßig wohl nur durch Vergabe einer österreichischen „Staatsbürgerschaft light“ an die Südtiroler lösen.
Sollen dann die Tiroler (oder Wiener) Parteien und Politiker auch in Südtirol Wahlkampftouren machen?
Ziemlich sicher zu sein scheint aber – und dies veranlasste mich zum Schreiben dieser Glosse - dass die Einführung dieser Doppelstaatsbürgerschaft einen gefährlichen Spaltpilz in die Südtiroler Gesellschaft treiben würde. Sie könnte zum Neuausbrechen einer alten Kluft innerhalb Südtirols führen. Dies zeigt sich schon an der von den Proponenten nicht klar beantworteten Frage, ob die Staatsbürgerschaft nur den alteingesessenen „echten“ Südtirolern, d.h. den Deutsch- und Ladinischsprachigen, oder auch den italienischsprachigen Südtirolern (die ja vielfach schon in dritter und vierter Generation hier leben) verliehen werden sollte.
Würde es im ersteren Sinne geregelt (was anzunehmen ist, da auch das entsprechende italienische Gesetz so lautet), würde dies zu einer Kluft zwischen den diesfalls „wirklichen“, d.h. italienischsprachigen Staatsbürgern in Südtirol führen und jenen, die eigentlich nur halben Herzens italienische Staatsbürger sind. Selbst wenn die österreichische Staatsbürgerschaft allen in Südtirol Ansässigen angeboten würde, wäre anzunehmen, dass die italienischsprachigen Südtiroler nur zum geringsten Teil davon Gebrauch machen würden.
 
Neuerlich verschlechtern würde sich dadurch das Verhältnis zwischen diesen beiden Volksgruppen, das sich inzwischen im alltäglichen Leben weitgehend entspannt hat und einem friedlichen Zusammenleben und –arbeiten Platz gemacht hat. Darauf sind die Südtiroler zu Recht und werden international als Vorbild hingestellt. Durch die Verleihung einer österreichischen Staatsbürgerschaft an einen Teil der Südtiroler würde der vielbeschworene, wenn auch objektiv wenig begründete „disagio“, das Unbehagen der Italiener in Südtirol - neuen Zündstoff erhalten.
Letztes Jahr wurde eine große, von apollis Sozialforschung Bozen gemeinsam mit Soziologen aus Österreich und Trient durchgeführte Studie über Ethnische Differenzierung und soziale Schichtung in Südtirol veröffentlicht. Sie hat gezeigt, dass man von einer wirklichen Benachteiligung in Südtirol heute nur bei den neuen Zuwanderern von außerhalb Italien sprechen kann; ihr Anteil an der Südtiroler Bevölkerung wird in absehbarer Zeit auf 20% zunehmen.
Ziemlich sicher zu sein scheint aber – und dies veranlasste mich zum Schreiben dieser Glosse - dass die Einführung dieser Doppelstaatsbürgerschaft einen gefährlichen Spaltpilz in die Südtiroler Gesellschaft treiben würde.
Diesem Problem sollte die Südtiroler Politik ihre volle Aufmerksamkeit widmen und wirksame Schritte zur Integration setzen, anstatt durch eine fragwürdige symbolische Maßnahme eine unnötige neue Konfliktlinie zu eröffnen. Hier sollte sich Südtirol auch klar von der Tiroler Politik distanzieren, von der man manchmal den Eindruck hat, dass sie sich noch immer nicht zu einer Verabschiedung einer restaurativen Haltung durchgerungen hat.
So weisen etwa die Straßen-Wegweiser südlich von Innsbruck nur in deutscher Sprache auf die Südtiroler Landeshauptstadt Bozen hin. Absurderweise ist es in Wien genau umgekehrt: dort verweisen die Schilder nur auf Praha, Brno usw., verschweigen also die alten, noch immer gebräuchlichen deutschen Stadt-Bezeichnungen. Es wäre naiv anzunehmen, dass die Bundesstraßenverwaltung ASFINAG für diese Unterschiede verantwortlich ist und nicht die jeweiligen Landeshauptleute bzw. -regierungen.
Welche Vorteile würde die österreichische Staatsbürgerschaft für die Südtiroler mit sich bringen?
Als erstes Argument dazu kann man auf der website der „Süd-Tiroler Freiheit. Freies Bündnis für Tirol“ lesen: Absicherung der Autonomie Südtirols. Dazu stellt der Verfassungsrechtler Obwexer in dem genannten Gutachten trocken fest: „Als Instrument des Minderheitenschutzes eignet sich der Erwerbs der österreichischen Staatsbürger durch ‚Südtiroler‘ … nur ganz eingeschränkt. Rechtlich wird dadurch weder die Schutzmachtfunktion Österreichs gestärkt noch die Ausübung des diplomatischen Schutzrechts gegenüber Italien eröffnet.“
Selbst die Südtiroler Studierenden in Innsbruck dürften in der Regel wenig Interesse und Partizipation an der österreichischen Politik entwickeln, da sie am Freitag zu Hunderten über den Brenner in ihre heimatlichen Gefilde zurückpendeln.
Allerdings schreibt er weiter, die Doppelstaatsbürgerschaft würde „auf politischer Ebene die Bindung zwischen den davon Gebrauch machenden ‚Südtirolern‘ und dem Vaterland Österreich festigen.“ Zu dieser These gibt es in seinem Gutachten allerdings keinerlei empirische Evidenz. Alles, was mir persönlich über die Stellung der Südtiroler zu Österreich bekannt ist, spricht eher dagegen.
Zwar ist m.W. das österreichische Fernsehen noch immer das meist Gesehene in Südtirol (was ich sehr gut finde und angesichts der geringen Qualität der Privatfernsehprogramme in Italien und anderswo auch nicht überraschend ist). Dass durch die Doppelstaatsbürgerschaft aber die Bindung an Österreich etwa durch häufigeres Ansehen der ORF-Programme gestärkt würde, scheint mir höchst unwahrscheinlich.
Vor Jahren nahm ich an einer Diskussion des Senders Bozen, die in Sarnthein stattfand, zu diesem Thema teil; Titel der Sendung: “Warum jubeln die Südtiroler, wenn ein österreichischer Skifahrer stürzt?“ Selbst die Südtiroler Studierenden in Innsbruck dürften in der Regel wenig Interesse und Partizipation an der österreichischen Politik entwickeln, da sie am Freitag zu Hunderten über den Brenner in ihre heimatlichen Gefilde zurückpendeln.
Anzumerken ist hier auch, dass die Österreicherinnen und Österreicher einer Verleihung der Staatsbürgerschaft an die Südtiroler sehr reserviert gegenüber stehen würden – im Gegensatz zu einigen veröffentlichten, nicht repräsentativen Umfragen. Als ich im Herbst 1966 mein Studium in Wien aufnahm, waren Reaktionen der Wiener auf meine Herkunft noch stets von Bemerkungen der Art begleitet wie „Südtirol – ach wie schön.., ach wie schade, dass es nicht mehr bei Österreich ist“. Heute ist die typische Reaktion eher, dass die Südtiroler in vieler Hinsicht privilegiert sind und keinerlei Unterstützung von außen mehr benötigen.
Die Bundesrepublik Deutschland verleiht ihre Staatsbürgerschaft nicht automatisch allen „Volksdeutschen“, die in Russland und anderswo in Osteuropa leben, sondern nur jenen, die nach Deutschland einwandern
Anzumerken ist schließlich, dass das vielfach genannte Argument für die Verleihung der Doppelstaatsbürgerschaft – diese werde bereits in vielen anderen Ländern Europas gewährt – auf den Fall Südtirol nicht zutrifft. Die Bundesrepublik Deutschland verleiht ihre Staatsbürgerschaft nicht automatisch allen „Volksdeutschen“, die in Russland und anderswo in Osteuropa leben, sondern nur jenen, die nach Deutschland einwandern und dort bleiben wollen; das Gleiche gilt für Spanien in Bezug auf lateinamerikanische Länder.
Im Zeitalter einer hohen globalen Mobilität ist die Doppelstaatsbürgerschaft eine sinnvolle Einrichtung um den Menschen, die sich in einem neuen Land niederlassen wollen, die Integration zu erleichtern, ohne dass sie damit alle Bande zur Herkunftsnation abschneiden müssen. Wohl nur das autoritär regierte Ungarn verleiht seine Staatsbürgerschaft auch den in Rumänien wohnhaft bleibenden „ethnischen“ Ungarn. Die Verleihung der Staatsbürgerschaft nur als ein „emotionales Anliegen“ zu betrachten (so SVP-Obmann Philipp Achammer in Die Presse, 23,11,2017), scheint mir diesem grundlegenden Element moderner politischer Gemeinschaften nicht gerecht zu werden.
 

Lesen Sie morgen: Marco Boato, ehemaliger grüner Parlamentarier aus Trient über die geplante Doppelstaatsbürgerschaft für die Südtiroler.