Wirtschaft | Fachkräftemangel

Fachkräftemangel: Really?

Eine einseitig geführte Diskussion.
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Fachkräfte
Foto: Elisabeth Schnitzer

Die große Sorge um die sogenannten Fachkräfte ist weitverbreitet. Politiker, Gewerkschaften und Unternehmen bemängeln, dass Jung und Alt die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften in den kommenden Jahren nicht abdecken können. Schuld daran sei die mangelnde oder falsche Berufsausbildung, die den Anforderungen der digitalen Technologien scheinbar nicht genügt. Insbesondere soll es an Ingenieuren, Programmierern, Entwicklern und Ähnlichem fehlen, die in der Lage sind komplexe Informationen zu verwalten, eigenständig zu denken, kreativ zu sein, Ressourcen intelligent und effizient zu nutzen und darüber hinaus wirksam zu kommunizieren. Verschlimmert soll die ganze Sache dann noch durch den demografischen Wandel werden. Die, versteht sich von selbst, hervorragend ausgebildeten Fachkräfte von früher fallen weg und die Befürchtung liegt nahe, dass diese eben nicht durch nachkommende jüngere ersetzt werden können.

Zerlegen wir das ganze vorgespielte Horrorszenario des Fachkräftemangels in seine Einzelteile, stellen wir allerdings fest, dass die Probleme letztlich woanders liegen.

Argument zu wenig gut ausgebildete Menschen:

Laut einer Pressemitteilung von Eurostat vom 26. April 2017 steigt der Anteil der 30- bis 34-Jährigen mit tertiärem Bildungsabschluss in der Europäischen Union kontinuierlich. Waren es 2002 noch 23,6% stieg der Prozentsatz 2016 auf 39,1%. Eine statistische Momentaufnahme in Österreich zeigt, dass die Anzahl der ordentlichen Studienabschlüsse an öffentlichen Hochschuleinrichtungen von unter 10.000 jährlich in der Mitte der 1980er-Jahre auf über 50.000 im Studienjahr 2013/2014 stieg. 2015 gab es in den EU-28 Ländern 19,5 Mio. Studierende im Tertiärbereich. Das Argument, es gäbe zu wenig gut ausgebildete Menschen, dürfte unter Berücksichtigung dieser Zahlen also wegfallen.

Noch nie in der europäischen Geschichte hatten so viele Menschen wie heute einen höheren Bildungsstand.

Diese Zahlen geben natürlich keinen Aufschluss darüber, welche Studienrichtungen von den Studierenden gewählt worden sind. Aber ist das eigentlich notwendig, um zu belegen, dass wir gar keinen Fachkräftemangel haben? Werden Kompetenzen wirklich nur über die Wahl des Studienganges definiert? Oder erhöht sich durch den Abschluss einer höheren Ausbildung, die Fähigkeit - eigenständig zu denken oder komplexe Zusammenhänge zu verstehen – unabhängig von der gewählten Fachrichtung? Kommt ein Humanwissenschaftler mit einer betriebswirtschaftlichen Matura nicht als Fachkraft für einen technischen Beruf z.B. als Business Analyst in Frage? Früher war es möglich, mit dem Abschluss einer Handelsoberschule Filialleiter einer Bank zu werden. Aber heute sprechen wir von Fachkräftemangel, wenn für den technischen Support, bei dem es prinzipiell darum geht, in eine bestehende Software Daten einzuspeisen, kein Mathematiker mit Ph.D. zur Verfügung steht.

Argument demografischer Wandel

Wenn man sich rein auf die Tatsache bezieht, dass in der EU-28 der Anteil der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter schrumpft, während gleichzeitig die Zahl der Personen im Rentenalter steigt, dann stimmt die Aussage vielleicht, dass in den nächsten Jahren mehr Arbeitskräfte wegfallen als nachkommen. Berücksichtigt man allerdings die Zuwanderung bzw., dass Arbeitsplätze aufgrund der Digitalisierung wegfallen, dann ist der demografische Wandel vielleicht gar kein so großes Problem. Oder er ist es mehrheitlich nur für diejenigen, die Sorge um ihre Pension und Alterspflege haben und fürchten, dass nicht genügend andere arbeiten, um dafür zu bezahlen. Fachkräfte aus älteren Generationen, und damit meine ich Fachkräfte im Sinne der heutigen Definition von Fachkraft, also mit einem höheren Bildungsstand, können mit Sicherheit auch in der Zukunft hervorragend durch eine Vielzahl von hochqualifizierten jüngeren Menschen ersetzt werden. Außerdem sollte man das Thema Frauen in der Arbeitswelt nicht außer Acht lassen. 2015 waren 54,1 % aller Studierenden im Tertiärbereich in der EU-28 Frauen. Bereits jetzt wollen viele Frauen mehr als weniger arbeiten. Dieses Potenzial sollte man in Zukunft nutzen, anstatt Frauenarbeitslosigkeit wegen unflexibler Arbeitszeiten zu tolerieren und gleichzeitig einen Fachkräftemangel zu bemängeln.

Warum fürchten alle den sogenannten Fachkräftemangel?

Liegt die Angst, nicht genügend Fachkräfte zu haben, vielleicht daran, dass zu hohe Anforderungen an die Arbeitnehmer im Allgemeinen und an ihre Ausbildung im Besonderem gestellt werden? Warum müssen jegliche Kenntnisse und Kompetenzen sowie alles Wissen mit Zertifikaten, Masterdiplomen und LL.M. bestätigt werden? Warum war learning by doing früher akzeptiert, aber warum ist heute nur mehr selten jemand bereit dazu, jemanden im Betrieb auszubilden? Die Last der Ausbildung einer Fachkraft sollte auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen verteilt werden. Aber vielleicht liegt gerade hier das Problem der unqualifizierten Arbeiterschaft: Betriebe sind nicht bereit, in Menschen zu investieren, bei welchen sie sich nicht vorher durch x Bescheinigungen versichert haben, dass das Risiko auf den Falschen gesetzt zu haben, auf ein Minimum reduziert worden ist. 

Zur „Fachkraft“ wurde man früher durch Erfahrung. Erfahrung bekommt man durch Tun. Etwas tun kann man aber erst, wenn man die Möglichkeit dazu hat. Die Möglichkeit muss durch den Arbeitgeber geschaffen werden. In diesem Sinne wird die Diskussion zum Fachkräftemangel einseitig geführt. Fachkräftemangel haben wir nicht, weil die Menschen Geisteswissenschaften anstatt Wirtschaftswissenschaften studieren. Fachkräftemangel haben wir eben auch deshalb, weil Unternehmen nicht bereit dazu sind, auf eigenes Risiko Menschen eine Chance zu geben und in ihr Potenzial zu investieren, das mehr ist als die Qualifikationen auf Papier.