Gesellschaft | Rechte im Fokus

Am Anfang die Erinnerung

Um der erstarkten Rechten zu begegnen, reicht Kurzsicht nicht.
Casagrande, Steurer, Pfeifer
Foto: Salto.bz

“Haben wir wirklich den Anfängen gewehrt?” Erbarmungslos wirft Michel Friedman die Frage am 27. Jänner dieses Jahres in den Raum. Am Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus war der deutsch-französische Journalist, selbst Sohn verfolgter jüdischer Eltern, in Berlin zu Gast. Er stellt noch eine Frage: “Und alle sagen überrascht, jetzt sei es wieder da, aber wann, frage ich, wann war es nicht da?

 

Abend im Zeichen der Erinnerung

 

Nie. Nie nach 1945 war “es” nicht da. Rechtsextremistisches, nationalsozialistisches, antisemitisches Gedankengut hat die Jahre überdauert. Unter einem Mantel des Schweigens, des Vergessen-Wollens, des Unwillens, sich zu erinnern, quillt braune Ideologie hervor. Überall in Europa. “Die Rechte hat verstanden: Mit Nationalismus wird von sozialen Problemen abgelenkt.” Karl Pfeifer meint Ungarn, er meint aber auch sein Geburtsland. Nach dem “Anschluss” Österreichs an das Deutsche Reich verließ Pfeifer als 10-Jähriger das Land.

Pfeifer ist Jude, als solcher kehrt er nach dem Krieg nach Österreich zurück. Als Journalist erfährt er Isolation, das Aufschrecken der akademischen Welt als er es wagt, öffentlich die Frage nach der “österreichischen Lebenslüge” aufzuwerfen. “Dass Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus war, ist für den Staat Österreich wohl richtig, aber die österreichische Gesellschaft war nicht das erste Opfer, viele waren Täter.” Obwohl nicht gern gehört, spricht Pfeifer Themen an, über die erst Jahrzehnte später eine offene Diskussion startet. Auch und vor allem wegen eines Sagers des damaligen ÖVP-Bundespräsidenten Kurt Waldheim, der 1986 meinte: “Ich habe im Krieg nichts anderes getan als hunderttausende Österreicher auch, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt.”

Damit sei Waldheim “ungewollt zum politischen Aufklärer geworden”, befindet Leopold Steurer. Infolge der “Waldheim-Affäre” wurde in Österreich erstmals offen die Beteiligung von Österreichern an NS-Verbrechen diskutiert.
Dabei “steht bereits in der Unabhängigkeitserklärung Österreichs vom 27. April 1945 die Lebenslüge drin: An der Stelle, an der die Rede vom ‘Krieg, den kein Österreicher gewollt hat’ ist”, nickt Steurer. Und meint bitter: “Bekanntlich war ja auch Adolf Hitler kein Österreicher...”
Der Historiker sitzt an diesem Abend mit Karl Pfeifer und Thomas Casagrande am Tisch im Meraner Anne-Frank-Zentrum und spricht über “Die Geschichte der Rechten im Fokus”. Geschichte und Geschichten können alle drei viele erzählen.

 

Karl Pfeifer, der 2007 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Recht gegen die Republik Österreich bekommt nachdem er zuvor schuldig gesprochen worden ist, den Politologen Werner Pfeifenberger als Teil einer “linken Jagdgesellschaft” mit einem Artikel in den Selbstmord getrieben zu haben.
Thomas Casagrande, der nach dem Tod seines Vaters – Otto Casagrande war ein gebürtiger Neumarkter – dessen Vergangenheit in der Waffen-SS aufarbeitet.
Leopold Steurer, der unbeirrt und schonungslos die personellen und ideologischen Kontinuitäten des Rechtsextremismus in der Südtiroler Geschichte nach 1945 aufzeigt.

Eines wird an diesem Abend klar: Wer sich mit der Vergangenheit nicht beschäftigt, sie verdrängt oder totschweigt, bereitet gewollt oder ungewollt neuen Extremismen den Boden, die zugleich die alten sind.
Beispiel doppelte Staatsbürgerschaft, das Leopold Steurer verdeutlicht:
Wenn heute gern auf den italienischen Staat verwiesen wird, der den Auslandsitalienern in Istrien die italienische Staatsbürgerschaft zugestanden hat, dann ist das einem Faschisten zu verdanken. Mirko Tremaglia, Initiator des entsprechenden Gesetzes, diente unter Benito Mussolini in der Repubblica Sociale Italiana, saß für den MSI im Parlament und wurde zum “Ministro per gli italiani nel mondo” bestellt – als Silvio Berlusconi seine dritte Amtszeit als Ministerpräsident antrat, in Koalition mit der MSI-Nachfolgerpartei Alleanza Nazionale. “Als Hebel” sei die Verleihung der doppelten Staatsbürgerschaft Anfang der 2000er Jahre verwendet worden, erklärt Steurer, “um in die Innenpolitik eines anderen Staates einzugreifen und die Grenzdiskussion wieder aufflammen zu lassen. Genauso wie das Dritte Reich die Auslandsdeutschen instrumentalisiert hat”.

 

Fanatismus im Grenzraum

 

Der Diskurs vom “bedrohten Volkstum” falle besonders in Grenzräumen auf fruchtbaren Boden, legt Steurer dar – dort, wo seit dem Aufkommen der Nationalismen im 19. Jahrhundert ein “Kampf gegen ein anderes, fremdes Volkstum um Territorium, Sprache, Schule, Arbeit, Ortsnamen und dergleichen” heraufbeschworen wird. Für die Nationalsozialisten waren die “grenz- bzw. auslandsdeutschen Minderheiten” nach 1918 ein “potentielles Betätigungsfeld”, so Steurer. In der Steiermark, in Kärnten und auch in Südtirol habe sich das gezeigt: “Dort hat sich das Grenzlanddeutschtum auffällig radikalisiert.”

Bestätigen kann das Thomas Casagrande, der in akribischer Recherchearbeit Namen von 2.000 Südtirolern in der von Nazi-Deutschland als Elitetruppe propagierten SS ausfindig gemacht hat. Otto, sein Vater, war beim Völkischen Kampfring Südtirol (VKS), führte später die ebenso illegal formierte Hitlerjugend im Unterland an. “Davon haben sich alle freiwillig für die SS gemeldet, wozu die VKS-Führung stark gedrängt hat”, weiß Casagrande zu berichten.

Auch nach 1945 bleiben die Südtiroler als “bedrohtes Volkstum” und daher “radikalisierbares Potential”  für die rechtsextreme Szenerie in Deutschland und Österreich interessant, gibt Steurer zu bedenken. Spuren für die Verbindungen über den Brenner gibt es zuhauf, sie reichen über die Bombenjahre hinaus bis in die heutige Zeit.

 

Zwischen Hoffen und Bangen

 

Dass das Gespenst des Rechtsextremismus nicht ausgemerzt ist, zeigt sich in ganz Europa. “Wir erleben die Stabilisierung einer Rechten, die nicht mehr einfach als ‘Nazis’ abgetan werden kann, aber autoritäre, anti-emanzipatorische und ansatzweise rassistische Züge aufweist. Der Faschismus hat den Krieg nicht verloren, es kursiert etwas, das auf Ab- und Ausgrenzung setzt.” Thomas Casagrande malt ein pessimistisches Bild vom Zustand Europas: “Linke und Sozialisten haben gezeigt, dass sie nicht in der Lage sind, die Gesellschaft zu organisieren. Der Faschismus hat das noch nicht bewiesen, er hat noch eine historische Chance.”

 

Schwarzmalerei ist Karl Pfeifers Ding nicht. Wenn die Rechte europaweit erstarkt sei, dann deshalb, weil “die Linken radikale Fehler gemacht haben”: “Die Linke muss sich der Probleme und Ängste der Menschen annehmen, mit den Leuten reden und nicht abgehoben daherkommen.” Auch für Österreich, wo seit einigen Monaten mit der FPÖ eine “deutschnational-russophile” Partei in der Regierung sitzt, zeigt sich Pfeifer optimistisch: “Das Deutschnationale der FPÖ kommt in Österreich nicht an, dort fühlt man sich als Österreicher und nicht als Deutsche. Über kurz oder lang wird es zu einer Änderung kommen, weil diese Radikalisierung von den meisten Menschen nicht gewollt ist.”

An dieser Stelle lacht Pfeifer, weil er sich des Wortspiels um den Namen des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz bewusst wird. Er lacht viel an diesem Abend, die wachen 90 Jahre alten Augen blitzen immer wieder schelmisch auf. Am Tag darauf wird er wieder an einer Schule sein. Auch für Thomas Casagrande absolviert eine Reihe von Schulbesuchen, wie sie Leopold Steurer unzählige hinter sich hat. Wissen, Erfahrungen, Geschichten weitergeben – erinnern. Um den Neuanfängen zu wehren.