Migranti
Foto: upi
Gesellschaft | Grenzen der Grenzen

Fairtrade-Stempel im Pass

Von Schengen bis Dublin sind es etwa 1200 Kilometer. Von Tunis bis Palermo keine 400.

Auch politisch scheint Dublin von Schengen weiter entfernt als das aus der Schlauchbootperspektive ersehnte Europa. 

Wer die Reisefreiheit im Inneren gewähren will, muss die Außengrenzen schützen, heißt es. Das Mittelmeer ist breiter und tiefer als Zäune in Kiefersfelden oder am Brenner jemals hoch sei könnten. Und doch kommen sie zu Tausenden, überleben zu Hunderten, und denen, die es auf eine Aquarius schaffen, wird das Anlanden verweigert. 

Wir wollen schließlich wissen, wer zu uns kommt. Kaum vorstellbar, dass es jemand übers Mittelmeer schafft, ob jetzt im Schlauchboot oder auf der Aquarius, ohne registriert zu werden. Wenn mancher es tatsächlich unregistriert, ohne biometrisch erfasst zu werden, nach Europa schafft, dann liegt der Grund nicht auf einem Schiff im Mare Nostrum sondern im weit entfernten Dublin. Weil für Immigranten kein Schengen gilt. Weil wahlwerbende Innenminister immer noch Kuhhandel abschließen, wie denn „Illegale“ wieder hinter die nach Schengener Lesart gar nicht mehr existierenden Grenzen zurücktransportiert werden können. Weil Registrierung für die Ankommenden und für die aufnehmenden Staaten ein satter Nachteil ist.

Es ist nur so eine These, aber was, würde die Registrierung mit Rechten einhergehen, würde eben die Registrierung und der Erhalt eines Immigrantenausweises zur Teilhabe am Schengen-Recht des freien Personenverkehrs in Europa befähigen? Hätten wir dann noch hässliche Szenen bei Kontrollen in grenzüberschreitenden Zügen, hätten wir leb- und namenlose Körper auf den Geleisen unseres hochziviliserten Kontinents? Ist es sicherheitspolitisch denn ein eklatanter Unterschied, ob sich auf Asylbescheid Wartende auf italienischem Territorium frei bewegen, oder die Nase auch einmal über den Brenner stecken? 

Dann würden die sich ja alle niederlassen, wo es am schönsten ist. Sicherlich, bei einem Obolus von ein paar Euros würden alle Immigranten sich gezielt in den teuersten Luxuswohnorten ansiedeln, nicht etwa dort wo Landflucht leergefegte Landstriche samt leerstehenden Häusern hinterließ. Oder doch dort, wo die Lebenserhaltungskosten unterdurchschnittlich sind, wo der Bäcker sonst keine jugendlichen Auszubildenden mehr findet? Außerdem kann man den öffentlichen Obolus auch gezielt ortsgebunden auszahlen. Jeder Immigrant hätte damit das Recht, durch Verzicht auf den staatlichen Beitrag, sich anderswo niederzulassen, als wo die öffentliche Hand bezuschusst. Wer sich es leisten kann...

Aber was soll dieses Konzept der „staatlichen“ Beiträge überhaupt? Warum Immigranten in Europa den unterstützenden Obolus von den Mitgliedsstaaten und nicht etwa direkt von der EU ausbezahlt bekommen, versteht wohl nicht einmal jemand in Dublin. Orban freut sich, immerhin. Staatliche Zuschüsse sind eines der für Populisten schönsten Argumente.

Und so scheitert unsere Politik weiterhin an der Unlösbarkeit der selbstgemachten Probleme, träumt mittelfristig von außerterritorialen Lösungen, von Exklaven, „Zentren“, mit meterhohen Zäunen, als wären die Bilder aus Ceuta nicht hässlich genug. Langfristig freilich, spricht man von gerechteren Verhältnissen für Afrika. Die erreicht man, in dem man genau zwischen echten Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen unterscheidet und Einwanderung gezielt steuert. Ergo: Afrika soll sich die Armen bitte behalten, aber danke, dass ihr die Creme de la Creme, die wir so gerne abschöpfen wollen würden, für uns gratis ausgebildet habt. Letztere sind willkommen und bekommen noch einen Fairtrade-Stempel in den Reisepass.

Bild
Profil für Benutzer Benno Kusstatscher
Benno Kusstatscher Do., 04.10.2018 - 10:16

Liebe/r Frau/Herr Karcher, "steuern" zum eigenen Vorteil bedeutet steuern zum Nachteil anderer. Was Sie so hübsch mit "auswählen" umschreiben, ist nichts weniger als das Ausbluten qualifizierter Humanresourcen jener krisengeschüttelten Länder, die genau diese Resourcen zum (Wieder)Aufbau dringend benötigen. Man muss nicht sehr weitsichtig sein, um zu erkennen, dass sich das doppelt rächen wird.

PS. Was falsch und was richtig ist, hängt auch von der subjektiven Sichtweise und wohl auch vom Textverständnis ab. Ich lasse Ihr "falsch" gerne als Ihr falsch stehen. Meines ist es nicht.

Do., 04.10.2018 - 10:16 Permalink
Bild
Salto User
Sepp.Bacher Do., 04.10.2018 - 11:47

Benno, ich wollte zuerst zu deinen letzten Sätzen im Artikel etwas schreiben. Nun möchte ich aber zuerst zu deinem folgenden Satz Stellung nehmen „Was Sie so hübsch mit "auswählen" umschreiben, ist nichts weniger als das Ausbluten qualifizierter Humanressourcen jener krisengeschüttelten Länder, die genau diese Ressourcen zum (Wieder)Aufbau dringend benötigen. Man muss nicht sehr weitsichtig sein, um zu erkennen, dass sich das doppelt rächen wird.“
Ich glaube, das wäre so, wenn wir sie angeworben hätten. Aber sie kommen ja freiwillig – wahrscheinlich aus verschiedenen Gründen. Ich zitiere hier einen afrikanischen Schriftsteller aus einem Interview im Geo: „Es gibt ein Grundbedürfnis nach Bewegung. Jede Gesellschaft kennt Märchen, in denen junge Männer sich aufmachen, um sich anderswo zu erproben. Bevor du eine Familie gründest, erfahre, was deine Muskeln und dein Hirn leisten können. Und: Diejenigen die durch die Sahara gehen, sind keine hinterwäldlerischen Analphabeten, sondern gebildete, offene Leute, die sich Gedanken über ihre Zukunft machen.“ Das klingt ja gar nicht so abwegig, machen unsere jungen gut ausgebildeten Kinder, Neffen und Nichten ja auch. Meine bz. in USA, China, Australien, usw. Deutschland, Österreich und Schweiz sowieso.
Und weiter: „Nachdem sie dort ein paar Jahre Busfahrer waren und Alten den Hintern abgewischt und gleichzeitig ihre Papiere in Ordnung gebracht haben, sind sie frei und können hier sein oder dort. (Das war wohl noch vor eine paar Jahren möglich!?) All die neuen Häuser in Dakar sind vom Geld der Emigranten gebaut. Ich bin sicher, dass 80% Prozent von ihnen illegal nach Europa gegangen sind.“
Vor Jahren sind viele gut ausgebildete Menschen von Osteuropa zu uns gekommen. Die meisten nicht angeworben. Angeworben wurden hingegen indische Informatiker. Und Indiens IT-Industrie ist deswegen nicht ausgeblutet.
Das ist der Übergang um zu deinen letzten Sätzen deines Artikels zu kommen: Um auf an gerechtere Verhältnisse in Afrika zu denken, müssen wir, die vielen, die schon hier sind, beruflich gut ausbilden oder besser qualifizieren. Dann können wir sie - vielleicht ausgestattet mit einem Startkapital - gerne wieder „zurückschicken“. Einige werden auch bleiben, haben inzwischen vielleicht Bindungen usw. Gemeinsam mit denen, die gekommen sind um Europa kennen zu lernen und sich zu erproben, werden sie ihr Land dann weiterentwickeln, wie es viele asiatische Länder vorgemacht haben. Da schon viele da sind und nicht zu viele ausgebildet und am Arbeitsmarkt aufgenommen werden können, sollten wir die Einwanderung regeln, sodass die Gesellschaft nicht überfordert wird und politisch kippt!

Do., 04.10.2018 - 11:47 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Benno Kusstatscher
Benno Kusstatscher Do., 04.10.2018 - 12:52

Das mit dem Ausbluten kann man sogar in Deutschland zwischen neuen und alten Bundesländern beobachten. Da war erst kürzlich eine Statistik in den Medien, dass von den ostdeutschen Studienabgängern sich ein Großteil in den westdeutschen Wirtschaftskreisläufen integriert, umgekehrt die Zahl gegen Null geht. Wieviele davon zurückkehren, bzw. Geld zurück schicken, wurde nicht gesagt. Viele wohl erst im Pensionsalter, wenn überhaupt.

Merkels Willkommenspolitik wurde ein Sogeffekt nachgesagt bzw. vorgeworfen, dass sich Leute erst dadurch auf den Weg gemacht hätten. Ein ähnlicher Effekt wird wohl auch eine Anziehungskraft auf die Eliten auswirken, wenn wir "kontrolliert" einwandern lassen. Wenn diese Eliten aber aus tendenziell überbevölkerten Ländern mit geringem Ausbildungsgrad kommen, weniger ausgebildete und sozial schwächere aber keinen Zugang haben, hat das mit globalem Verantwortungsbewusstsein wenig zu tun.

Ich kenne übrigens von Arbeitskollegen die Situation so, ob Afrika, Osteuropa oder Indien, dass die Zurückgebliebenen sich vom geschickten Geld abhängig machen. Ähnliches kennt man von gut gemeinter Entwicklungshilfe.

Der Vergleich mit Indien hinkt dahingegen, dass die technischen Universitäten in Bangaluru und co unseren in vielen Punkten überlegen sind und schon lange die Mittelschicht ausbilden.

Dein Kommentar enthält aber noch einen weiteren guten Punkt, dem bis jetzt viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde: Heimkehrer, egal ob abgewiesene Asylanten oder pensionierte Akademiker exportieren europäische Sprachen, Kultur und auch Wirtschaftwissen in ihre Heimatländer. Dies könnte man aktiv ausgestalten. Jeder Sprachkurs für einen Asylbewerber ist so gesehen eine Investition. Jede Auseinandersetzung mit Religionsfreiheit, Frauengleichberechtigung ist eine Chance auf Multiplikatoreneffekt, von dem wir, ohne missionarisch sein zu wollen, mittel- bis langfristig profitieren werden.

Do., 04.10.2018 - 12:52 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Benno Kusstatscher
Benno Kusstatscher Do., 04.10.2018 - 15:23

(Krieg ist übrigens nicht der einzige Fluchtgrund.) Keine Ahnung, was Dir als mein Weltbild vorschwebt, aber die Vermischung hat ihren Ursprung keineswegs bei mir: Das mit dem Einwanderungsgesetz wird von der Immigrantendebatte vor sich hergetrieben und versucht mit dem Begriff "gesteuerte Einwanderung" die Populismen eben derart zu beruhigen, dass nur jene reingelassen werden, die unsere Wirtschaft bzw. Gesellschaft unbedingt braucht. Und das sind nun einmal die gut Ausgebildeten, oder? Gleichzeitig wird versprochen, dass man sich um mehr Fairness mit Afrika bemühen wolle, um den Emigrationsgründen entgegenzuwirken.

Do., 04.10.2018 - 15:23 Permalink