Gesellschaft | Frankreich

Der Volksaufstand

Die Proteste gegen eine Ökosteuer sind zur Revolte gegen Emmanuel Macron und seine neoliberalen Reformen eskaliert.
paris
Foto: upi
„Insurrection“, „Jacquerie“, „Soixante-huit“(`68) – diese Schlagworte sind in Frankreich seit dem Wochenende in aller Munde. Dass Vergleiche mit den Jacqueries, den wilden Bauernaufständen vom 14. bis zum 17. Jahrhundert und mit der folgenreichen 1968er-Revolte hergestellt werden, beweist die Dramatik der Krise ebenso wie die Absage des Staatsbesuchs Präsident Macrons in Serbien. Es handelt sich nicht mehr lediglich um eine breite Protestbewegung, sondern es ist Feuer am Dach.
Dass die spontan organisierten Proteste gegen eine geplante Ökosteuer auf Benzin und Diesel in wenigen Wochen so rasant angeschwollen sind und sich bis zu massiven gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei radikalisiert haben, hat alle überrascht: die Regierung, die Parteien, die Medien und letztlich sogar die Protestierenden selbst.
 

Eine autonome Bewegung ohne Führer

 
Ebenso überraschend und auch für französische Verhältnisse vollkommen neuartig ist der Umstand, dass die Bewegung der Gelbwesten von keiner Organisation, von keiner Gewerkschaft oder gar Partei ins Leben gerufen und organisiert wurde. Im Gegenteil. Alle Versuche der Oppositionsparteien - von der extrem rechten Le Pen bis zu den linksradikalen „Insoumis“ Mélénchons sich auch nur aktiv einzubringen, werden von den Demonstranten heftig zurückgewiesen und verhindert.
Entstanden ist die Bewegung durch Aufrufe einzelner im Internet. Schnell wurden Facebook-Gruppen gebildet, echte Homepages gestaltet und vernetzt. Mittlerweile gibt es ein gutes Dutzend Netzwerke, die zum Teil verschlüsselt kommunizieren, um ihre Aktivitäten vor den Behörden, der Polizei und den Medien geheim zu halten.
 
Die soziale Basis und das Profil der Protestbewegung könnte breiter nicht sein: Arbeiter, Handwerker, Gewerbetreibende, Kleinunternehmer und Kleinbauern, Pensionisten und Studenten, Lehrer, Krankenpfleger, Sozialarbeiter, Arbeitslose und Obdachlose – und das Ganze Generationen übergreifend von jung bis alt. Und besonders vielsagend: entflammt sind die Proteste in der Provinz, in kleineren und mittleren Städten und in den Satellitenstädten rund um die urbanen Zentren. Dort sind die Demonstranten auch am nachhaltig-aktivsten. Sie blockieren seit Wochen tagtäglich Autobahneinfahrten, wichtige Überlandstraßen, Einkaufszentren und immer häufiger Treibstoff-Depots und Raffinerien. Die Präfekten mussten schon in zahlreichen Landesteilen das Benzintanken auf 30 Euro pro Auto behördlich einschränken, weil zahlreiche Tankstellen „ausgetrocknet“ sind. Die Versorgungsengpässe und Verkehrsbehinderungen beginnen schon ernste Verlustfolgen für die Wirtschaft und den Handel zu haben. Allein in Paris gab es bis zu 20 Prozent Stornos bei den Hotelbuchungen durch Touristen.
 

Auf den Barrikaden: die Globalisierungsverlierer

 
Die Revoltierenden in Frankreich sind nicht nur die Ärmsten der Gesellschaft, sondern auch jene unteren Mittelschichten, die zwar nicht am Existenzminimum leben, die aber nicht ganz zu Unrecht ihren Abstieg fürchten. Die Globalisierung der letzten drei Jahrzehnte, der rasante Turbo-Finanzkapitalismus, die Digitalisierung und Roboterisierung zentraler Produktionsstätten, die Deregulierung bedeutender sozialer Institutionen – all das hat zu schweren Verunsicherungen und Zukunftsängsten einer Mehrheit der Bevölkerung geführt.
Verwunderlich - und beruhigend in Zeiten wie diesen - ist auch der Umstand, dass bisher bei den Protesten weder nationalistische, fremdenfeindliche, ja nicht einmal EU-feindliche Parolen laut geworden sind. Es geht vor allem um wirtschaftliche, soziale und demokratiepolitische Forderungen. Und weil die derzeitige Protestwelle so breit, heterogen und ohne Zentrum oder Führung ist, sind auch die mittlerweile sage und schreibe mehr als 40 erhobenen Forderungen entsprechend umfassend, ja teils sogar in sich widersprüchlich.
 

Radikale und teils widersprüchliche Forderungen

 
Neben dem Verzicht auf die Ökotaxe sollen die Steuern und Gebühren insgesamt gesenkt werden, lautet die zentrale Forderung. Überhaupt sollen die Steuern wieder progressiver nach oben geregelt und vor allem die symbolträchtige, erst von Macron abgeschaffte Reichensteuer ISF auf sehr große Vermögen wieder eingeführt werden. Außerdem wird die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes von 1200 auf 1300 Euro und der Mindestpension auf 1.200 Euro gefordert, eine Beschränkung der Wohnungsmieten, die Senkung der Preise für Strom und Gas und die Rücknahme der Privatisierungen der Strom- und Gasversorger.
 
Ganz besonders wird aber auf die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen am Lande gepocht. Die Schließung von Krankenhäusern, Post- und Bankfilialen und Ärztepraxen, die Stilllegung lokaler Zug- und Busverbindungen der letzten Jahre – alles aus Rentabilitätsgründen – sind ein ganz wesentlicher Grund für den angestauten Unmut, der sich jetzt so explosiv entlädt.
 

Zustimmung der Bevölkerung, Hass gegen Macron

 
Trotz der massiven Gewaltausbrüche und Sachbeschädigungen, die vorwiegend aber nicht ausschließlich von rechtsextremen und links-anarchistischen Schlägertrupps begangen wurden, scheint die enorm hohe Zustimmung der Bevölkerung zu den Protesten anzuhalten: mehr als 80% in den letzten Umfragen. Und selbst die friedlichen Demonstranten, die in der Dauer- Sonderberichterstattung der französischen Medien zu Wort kommen, distanzieren sich zwar von der Gewalt, meinen aber auch, es diene der Sache doch letztendlich, denn ohne die spektakulären Aktionen, würden sie kein Gehör finden. Diese weit verbreitete Haltung spiegelt die große Unzufriedenheit und den tiefsitzenden Vertrauensverlust großer Teile der Bevölkerung wider. Immer wieder bezeichnen sich die „Gilets Jaunes“ als die Stimme der „oubliés“, der Vergessenen, der Zurückgelassenen, für die die Regierenden, die Politiker, die Funktionäre und die Eliten in Paris kein Ohr mehr haben.
Selbst die friedlichen Demonstranten distanzieren sich zwar von der Gewalt, meinen aber auch, es diene der Sache doch letztendlich, denn ohne die spektakulären Aktionen, würden sie kein Gehör finden.
Damit hat dieser Aufstand in Frankreich im Grunde dieselben Wesenszüge und Ingredienzien wie ein großer Teil der Wählerschaft von Donald Trump, der im Wahlkampf und selbst in seiner Angelobungsrede versprochenen hat, er werde für die bisher Vergessenen, die „forgotten men“ da sein. Und was in Amerika der „forgotten man“, das ist in Deutschland der „Wutbürger“, der „Abgehängte“ (vor allem im Osten), der gegen „die da oben“ und gegen die „Lügenpresse“ rebelliert, ganz wie in Italien das Volk gegen die „casta“.
Der Inbegriff des verhassten Establishments, der casta und der Macht, das ist in Frankreich seit jeher der Präsident. Denn im Unterschied zu Ländern wie Deutschland, Österreich oder Italien spielt der französische Präsident nicht in erster Linie den ausgleichenden Vermittler bei Konflikten, sondern er ist der höchste und entscheidende Vertreter der Regierungsmacht. Er leitet die Sitzung des wöchentlichen Ministerrates und bestimmt dessen Tagesordnung, ernennt und entlässt den Regierungschef und die Minister nach Belieben und keine wichtige Entscheidung fällt ohne seine Zustimmung.
 
So wollte es 1958 General Charles de Gaulle mit der Schaffung der Fünften Republik. Sein Widersacher Francois Mitterrand klagte das in einem Pamphlet zwar als „permanenten Staatstreich“ an, bediente sich dann aber als Präsident selbst uneingeschränkt dieser Befugnisse. Emmanuel Macron versprach seinerseits  schon im Wahlkampf, er werde nach seinem Vorgänger Francois Hollande dem Präsidentenamt wieder die nötige Autorität und Würde verleihen. Dass er sich selbst dabei mit Jupiter, dem obersten Gott der römischen Mythologie, verglichen hat, fällt jetzt bitter auf ihn zurück. Denn dank der komfortablen Mehrheit seiner Partei „La Republique en Marche“ in der Nationalversammlung ist Macron in der Tat das Haupt der sprichwörtlichen französischen Wahlmonarchie und außer bei Landesverrat auch nicht absetzbar.
Trotzdem erschallen bei den Protesten die Rufe „Macron Demission“ immer lauter. In der Tat ist Macrons Verantwortung für die derzeitige Krise nicht von der Hand zu weisen. Schon im Wahlkampf hatte er einschneidende Reformen angekündigt. Als erstes müsse die Wirtschaft in Schwung gebracht werden, dann stünden auch die Mittel für die nötigen Sozialmaßnahmen zu Verfügung. Diesen Plan hat der so blitzschnell zum Präsidenten aufgestiegene Anhänger der Effizienz und des Perfektionismus in Riesenschritten umgesetzt. Reform des Arbeitsmarktes mit Flexibilisierung, weniger Gewerkschaftsrechten und Garantien für Arbeitnehmer, Deregulierung vieler Wirtschaftsbereiche und eine für Unternehmen sehr günstige Steuerreform. Einschränkungen im Gesundheitswesen, Schulreform und trotz wochenlanger Streiks zumindest eine teilweise Verschlechterung des Statuts der Eisenbahner, dem letzten Sektor der wirklich noch gewerkschaftlich stark organisierten, ehemaligen Vorhut der Arbeiterschaft.
 

Kompromiss oder Radikalisierung

 
Nach sehr langem Zögern hat Macron heute Verhandlungsbereitschaft signalisiert und zumindest ein vorläufiges Moratorium für die geplante Ökosteuer gepaart mit sozialen Ausgleichszahlungen für Pendler ankündigen lassen. Das wird natürlich bei weitem nicht ausreichen, um die Protestierenden zu beruhigen. Die Krise ist längst eine politische geworden und droht sich auszuweiten. Seit gestern haben auch die Oberschüler mit Demonstrationen begonnen und 150 Schulen blockiert. Die Bauern haben für nächste Woche Aktionstage angekündigt und von heute ist die Nachricht, dass auch die linke Gewerkschaft CGT Kampfmaßnahmen erwägt. Damit würde es zum Übergreifen der Aufstände auf bedeutende Teile der Gesellschaft kommen, die nur allzu sehr an das Jahr 1968 erinnern. Damals hatte es mit den Studenten begonnen, die gegen die Trennung von Mädchen und Burschen in den Wohnheimen der UNI von Nanterre bei Paris protestierten. Nach heftigen Straßenkämpfen mit der Polizei solidarisierten sich die Arbeiter und Gewerkschaften – in Kürze war das gesamte Land in Aufruhr und Präsident De Gaulle musste vorübergehend im Hubschrauber das Land verlassen.
 
Denn auch das liegt sozusagen in der historischen DNA der Franzosen aufgrund des seit jeher so strengen Zentralismus der Macht: wenn sich soziale Krisen ausweiten, kommt es schnell zur Zuspitzung und zur direkten Konfrontation zwischen der Straße und dem Palast. Beim derzeitigen Präsidenten kommt hinzu, dass er in anderthalb Jahren bei seinen Reformen versucht hat, die Rolle der traditionellen Zwischenebenen und Stoßdämpfer des sozialen Dialogs, wie der Gewerkschaften und anderer Interessensvertretungen, möglichst klein zu halten.
Eines der größten Probleme bei der Suche nach einem Kompromiss liegt  allerdings bei der Bewegung der „Gilets Jaunes“ selbst: sie haben bisher weder eine Organisation noch anerkannte Sprecher hervorgebracht. Letzter Beweis dafür ist das heute abgesagte Treffen einiger ihrer Vertreter mit dem Regierungschef Philippe. Sie hatten von anderen Gelbwesten schwere Drohungen erhalten, für den Fall dass sie zu Verhandlungen gehen würden. Der Regierung und dem Präsidenten fehlen somit einfach Ansprechpartner, die etwas Verbindliches vereinbaren könnten.