Politik | Interview

“Die Dosis macht das Gift”

Der renommierte Populismusforscher Frank Decker spricht über Rechtspopulismus und dessen Erfolgsrezept – und rät: “Konflikte mit der Migration nicht unterschätzen.”
Frank Decker
Foto: Screenshot/phoenix

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Rechtspopulismus. Am Wochenende trafen sich in Belgien Mitglieder der “Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit” – ein Sammelbecken rechtspopulistischer Parteien, dem unter anderem Lega, FPÖ und Marine Le Pens in “Rassemblement National” umbenannter Front National angehören. Sie laufen sich für den Wahlkampf für die Europawahlen im kommenden Mai warm, machen gegen den UN-Migrationspakt mobil. Mittendrin: der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon, der seit einigen Monaten als “Coach” der europäischen Rechtspopulisten in Erscheinung tritt.
In Europa rollen sich die Rechtspopulisten gegenseitig den roten Teppich aus – da ist zum Beispiel ein AfD-Mann Björn Höcke, der sagt, Matteo Salvini sei ein Vorbild für ihn und dass er sich von dessen Populismus inspirieren lasse –, bauen ein immer engmaschigeres Netzwerk auf und fahren einen Wahlerfolg nach dem anderen ein.

Rechtsopulismus, ein Thema, das “seine Konjunkturen hat” stellt Frank Decker fest. “Die Vortragseinladungen sind seit einem Jahr explodiert” meint der deutsche Politologe und renommierte Populismusforscher. Das war 2016.
Nun, zwei Jahre später, sprach Decker auf Einladung des Institutes für vergleichende Föderalismusforschung der EURAC am Montag in Bozen über die “Krise der Demokratie” – die sieht Decker vielmehr als “Wandel bzw. Herausforderung denn als Krise” – und “populistische Tendenzen”.

Seit Mitte der 1980er Jahre haben sich in zahlreichen Ländern Gruppierungen dieser neuartigen Parteienfamilie etablieren können. Heute sind “die rechtspopulistischen Herausforderer in Europa nahezu flächendeckend präsent”, so Decker. Auch bei den nächsten Europawahlen “werden wir ein weiteres Erstarken der Europagegner und der Populisten zu befürchten haben”, sagt der Politologe, der aber zugleich überzeugt ist: “Das Heil im Nationalstaat suchen, wie es uns der Rechtspopulismus einreden will, ist ein Irrweg.”

Welche sind aber nun die Herausforderungen, vor die der Populismus von rechts die Demokratien stellt? “Sorgen muss man sich, wenn die Rechtspopulisten so stark werden, dass sie die Regierungspolitik in ihrem Sinne verändern”, meint Decker im salto.bz-Interview.

salto.bz: Herr Decker, was ist Populismus und insbesondere Rechtspopulismus? Eine Strategie zum Machterwerb? Eine Kommunikationsform? Eine Ideologie? Von allem etwas?

Frank Decker: Ja, von allem etwas. In der Wissenschaft hat sich die Interpretation durchgesetzt, dass Populismus eine “weiche” Ideologie ist, die mit härteren Ideologien Verbindungen eingeht – deshalb kann man zwischen rechtem und linkem Populismus unterscheiden. Kern des Populismus ist die radikale Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen und politischen Eliten – verbunden mit der Vorstellung, man selbst vertrete die wahren Meinungen und Interessen des Volkes.

Rechtspopulisten suchen immer den äußeren Schuldigen und können dadurch von eigenen Fehlern ablenken.

Was haben rechtspopulistische Parteien, Bewegungen und Strömungen gemein?

Der Rechtspopulismus schließt aus seinem Volksbegriff nicht nur die Eliten aus, sondern auch andere Gruppen. Das sind vor allem die zur nationalen Gemeinschaft vermeintlich nicht gehörenden Zuwanderer, es können aber auch andere Minderheiten wie zum Beispiel Homosexuelle sein. Im letztgenannten Punkt gibt es innerhalb der rechtspopulistischen Parteienfamilie deutliche Unterschiede, so ist etwa die AfD gesellschaftspolitisch sehr konservativ, während Wilders’ PVV in den Niederlanden keine Probleme mit sexuellen Minderheiten oder der Gleichstellung der Frau hat. Die liberalen Positionen sollen hier auch als Beleg für die angebliche kulturelle Rückständigkeit der Muslime herhalten.

Populismus gibt es nicht nur von rechts. Warum aber feiert gerade dieser nicht nur in Europa, sondern auch anderswo, wie zum Beispiel in den USA oder Brasilien, einen Siegeszug? Plump gefragt: Wer oder was hat diese Populisten stark gemacht?

Die Erklärungen sind von Land zu Land unterschiedlich, insofern muss man mit Generalisierungen immer vorsichtig sein. In Lateinamerika ist der Populismus überwiegend von linken Parteien und Bewegungen ausgegangen. Dass mit Bolsonaro in Brasilien jetzt ein Rechtsextremist triumphieren konnte, hängt vor allem mit den Korruptionsskandalen in der Arbeiterpartei zusammen. In den USA lässt sich Trumps Erfolg als eine Protestreaktion der weißen Noch-Mehrheit im Lande interpretieren, die angesichts der demografischen Entwicklung um ihre kulturelle und gesellschaftliche Dominanz fürchtet.

Ich halte es für eher kontraproduktiv, wenn man diese Parteien – und damit auch ihre Wähler – “dämonisiert”.

Nach den heurigen Parlamentswahlen regieren in Italien zwei Parteien, denen das Prädikat “populistisch” zugeschrieben wird, gemeinsam. Dabei verliert die eine – der Movimento 5 Stelle – in Umfragen zunehmend an Zustimmung, während die andere – Lega – zulegt. Was unterscheidet den Populismus eines Matteo Salvini von dem eines Luigi Di Maio?

Die Lega ist rechtspopulistisch, der M5S eher linkspopulistisch. Salvini kann dabei stärker davon profitieren, dass er sich innerhalb der Regierung weiterhin als Oppositionspolitiker darstellt – vor allem im Verhältnis zur Europäischen Union. Rechtspopulisten suchen immer den äußeren Schuldigen und können dadurch von eigenen Fehlern ablenken. Die Linkspopulisten werden dagegen mit ihren eigenen Wahlversprechen konfrontiert, die sie in der Regierung häufig nicht einlösen können.

Welche Strategie fahren die europäischen Rechtspopulisten, wenn sie von einem “Europa der Völker” sprechen? Eine Reform Europas und der EU? Oder deren Zerschlagung?

Es geht ihnen vor allem darum, eine weitere Vertiefung der europäischen Integration im Sinne einer Souveränitätsverlagerung zu verhindern.
Eine Zerschlagung der EU wird nicht angestrebt, denn eine solche Position wird vom weit überwiegenden Teil der Wählerschaft abgelehnt. Der Brexit hat die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft zuletzt sogar wieder deutlich ansteigen lassen.

Populisten in die Regierungsverantwortung einzubeziehen bedeutet nicht automatisch, dass sie in der Folge schwächer werden.

Rechtspopulistische Parteien sind keine Eintagsfliegen, stellen Sie nach über 20 Jahren Populismusforschung fest. Zugleich betonen Sie, dass die Tatsache, dass rechtspopulistische Parteien inzwischen nahezu in allen westeuropäischen Ländern bestehen, Anlass zur Sorge geben sollte. Wem konkret? Und wie kann dem Rechtspopulismus langfristig das Wasser abgegraben werden?

Sorgen muss man sich, wenn die Rechtspopulisten so stark werden, dass sie die Regierungspolitik in ihrem Sinne verändern – sei es durch Druck aus der Opposition heraus oder indem sie selbst Regierungsmacht ausüben bzw. – wie in Ungarn und Polen – sogar die Regierungen anführen. Realistischerweise kann es nur darum gehen, das Phänomen einzudämmen. Dazu muss man bei den Ursachen ansetzen – dem schwindenden sozialen und kulturellen Zusammenhalt unserer Gesellschaften.

In diesem Zusammenhang, “müssen wir über Migration” sprechen, sagen Sie – und über “Identitätsfragen”. Was meinen Sie damit? Und wen meinen Sie mit “wir”?

Mit “wir” meine ich in diesem Fall den Teil der Gesellschaft, der die mit Migration verbundenen kulturellen und sozialen Konflikte unterschätzt. Das sind vor allem die linksliberalen Kräfte. Es ist doch kein Zufall, dass die Rechtspopulisten vor allem in den wettbewerbsstärkeren Volkswirtschaften Nord- und Westeuropas erfolgreich sind, die sich einerseits durch ein hohes Maß an Arbeitsmigration, andererseits durch einen inklusiven Sozial- und Wohlfahrtsstaat auszeichnen. Hier werden die Zuwanderer von der eingesessenen Bevölkerung häufig als unerwünschte Konkurrenten beargwöhnt – um Wohnungen, Arbeitsplätze und soziale Leistungen. Auch über die kulturellen Grenzen der Aufnahmefähigkeit brauchen wir eine ehrlichere Diskussion.

Kern des Populismus ist die radikale Kritik an den herrschenden gesellschaftlichen und politischen Eliten.

Wird sich das Parteiensystem jener Länder, in denen sich solche Kräfte etablieren können, nachhaltig verändern?

Das ist längst der Fall. In vielen Ländern hat das Erstarken des Rechtspopulismus zur Folge, dass die Parteien im Zentrum nur noch gemeinsam mehrheitsfähig sind und zusammen regieren müssen, wodurch sie an eigenständigem Profil noch weiter verlieren. In anderen Ländern versucht man die Populisten in die Regierungsverantwortung einzubeziehen, was aber nicht automatisch bedeutet, dass sie in der Folge schwächer werden.

Die Grenzen zwischen den “alten” Parteien verschwimmen, weil sozusagen ein gemeinsamer neuer Feind das politische Parkett dominiert, von dem es sich abzugrenzen gilt, der zugleich aber maßgeblich den politischen Ton angibt. Ist das zusätzliches Gift für die Demokratie?

Bei Giften kommt es bekanntlich immer auf die Dosis an. Überschreiten die Rechtspopulisten bei den Wahlen eine kritische Schwelle und gewinnen in den rechtspopulistischen Parteien extremistische Kräfte die Oberhand, muss man sich um die Stabilität der Demokratien tatsächlich sorgen. Diesen Punkt sehe ich mit Ausnahme von Ungarn jedoch in keinem Land der EU erreicht. In Ungarn ist der Übergang des Landes zu einem quasi-demokratischen autoritären System weit fortgeschritten und vermutlich nicht mehr revidierbar. Ich glaube nicht, dass die EU das hinnehmen kann und darf.

Beim Europäischen Mediengipfel Ende November in Vorarlberg warnte Heribert Prantl davor, den Rechtspopulismus als solchen zu bezeichnen. Vielmehr müsse von rechtem Extremismus gesprochen werden, der die Demokratie gefährdet. Können Sie als Politologe der Argumentation des Journalisten Prantl etwas abgewinnen?

Nur bedingt. Der Rechtspopulismus kann auch rechtsextreme Züge aufweisen, wie wir das bei der AfD oder FPÖ sehen, ansonsten hat er aber mit dem klassischen Rechtsextremismus nicht mehr viel gemein. Gerade mit Blick auf die Ursachen halte ich es daher für eher kontraproduktiv, wenn man diese Parteien – und damit auch ihre Wähler – “dämonisiert”.

Waren es Rechtspopulisten die Abdel-Samad von Facebook gesperrt haben? Nur weil er folgendes gesagt hat: Muslime verlangen bei uns Sonderrechte für sich, verweigern diese aber in der Türkei und in der arabischen Welt für andere.

Di., 11.12.2018 - 08:43 Permalink

Herr Karcher, diesmal bin ich bei Ihnen. Eine ersthafte Analyse des Phänomens ist notwendig. Auch wenn man den Schlusssatz von Herrn Decker als eine Aufforderung dazu verstehen muss: "Gerade mit Blick auf die Ursachen halte ich es daher für eher kontraproduktiv, wenn man diese Parteien – und damit auch ihre Wähler – “dämonisiert”.
Den Beitrag den Sie empfehlen halte ich, im Sinne einer Weiterführung des Diskurses, für lesenswert, weshalb ich hier die deutsche Version anbiete:

https://www.merkur-zeitschrift.de/2018/04/03/dann-waehlen-wir-uns-ein-a…

Lesenswert finde ich auch noch folgende Beiträge:

https://www.heise.de/tp/features/Warum-wir-einen-linken-Populismus-brau…

https://www.heise.de/tp/features/Ueber-den-Erfolg-des-rechten-Populismu…

Di., 11.12.2018 - 12:15 Permalink