Gesellschaft | Südtirol 1918/2018

Zweisprachigkeit ist ein Gefühl

Im Jahre 2018 müsste es eigentlich an der Zeit sein, nicht mehr von Walschen und Deitschen zu sprechen, sondern von Südtirolern.
Staffler, Simon
Foto: Walter Mayrhofer
 
Im Jahre 2018 müsste es eigentlich an der Zeit sein, nicht mehr von Walschen und Deitschen zu sprechen, sondern von Südtirolern – wobei der Begriff „Südtiroler“ als regionale Kulturgemeinschaft in einem europäischen Kontext zu verstehen ist. 
Ich möchte nicht unentwegt hinzufügen müssen, dass ich Südtiroler deutscher Muttersprache und Stefano Südtiroler italienischer Muttersprache ist. Das ist limitierend und kleinkariert! Wir – also jene Menschen, die innerhalb der geografischen Grenzen Südtirols beheimatet sind – sind alle Südtiroler. 
Jetzt, gestern und morgen.
Wir alle wollen Sicherheit, Wohlstand, wirtschaftliche Stärke, soziale Gleichheit, Fairness, Gleichwertigkeit aller Sprachgruppen – schlichtweg das Beste für uns alle. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, wieso das jemand nicht befürworten kann, ja viel schlimmer noch: sogar dagegen arbeitet. Was haben wir denn zu verlieren? Eine sogenannte Identität? Oje. 
Jeder ist frei, seine Tradition zu pflegen, seine Gewohnheiten zu leben. Vielleicht will ein italienischer Südtiroler (da, jetzt muss ich schon wieder spezifizieren!) ja auch den Schützen beitreten (was er meines Wissens kann, nur macht das fast niemand). Oder vielleicht will der Bauer aus dem Tal mal mit Partisanen aus einem „italienischen“ Stadtviertel Bozens boccia spielen? Wieso denn nicht? Die haben vielleicht die gleiche Gesinnung und – viel wichtiger – die gleichen Anliegen und problemi, die sie vielleicht besprechen könnten. 
Wenn man in Südtirol im Jahr 2018 der deutschen und der italienischen Sprache nicht mächtig ist (und ich bin mir durchaus bewusst, dass das noch immer der Fall ist), dann ist das ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft. Das übersteigt – wenn ich ehrlich sein darf – meine Vorstellungskraft. 
Oder vielleicht will der Bauer aus dem Tal mal mit Partisanen aus einem „italienischen“ Stadtviertel Bozens boccia spielen? Wieso denn nicht?
Aus welchem Grund lernt man eine Sprache nicht? Sprache ist DAS Verbindungsglied zwischen diversen Kulturen und verschiedenen Menschen dieser Welt. Wenn man miteinander sprechen kann und seine Gedanken austauscht, baut man Vorurteile ab, kann sich in sein Gegenüber einfühlen und empathisch an einer gemeinsamen Gesellschaft bauen.
Aber nochmal zurück zum Erlernen der Sprache: ich verstehe nicht, warum es in Südtirol noch getrennte Schulen und Kindergärten gibt. Dabei wäre es ganz einfach, beide Landessprachen von Kindesbeinen an zu lernen. Vergessen wir das Ladinische nicht. Ich kann auch kein Ladin – wofür ich mich offen gesagt schäme. Das Lernen der ältesten Landessprache Südtirols habe ich bisher verabsäumt. Es tut mir sehr leid, dass ich in meiner Schulkarriere keinen Ladinisch-Unterricht genießen konnte. Ich wünsche mir, dass in Zukunft die dritte Landessprache landesweit ab der Volksschule unterrichtet wird. 
 
Bildung wehrt bekanntlich sämtlichen negativen Anfängen verhängnisvollen Denkens. Wer dreisprachig lesen (und sprechen) kann, ist klar im Vorteil. Auch finanziell. Wenn ein Oberschullehrer heute einen patentino A, also die höchste Stufe der Zweisprachigkeitsprüfung hat, bekommt er 250 Euro mehr Gehalt im Monat. Wobei ich mir ernsthaft die Frage stelle: wozu? Ganz ehrlich, wozu? Wieso bekommt jemand im öffentlichen Dienst Geld für etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte? Das ist, gelinde formuliert, zum Schämen. 
Wieso bekommt jemand im öffentlichen Dienst Geld für etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte? Das ist, gelinde formuliert, zum Schämen. 
Die von mir mitgegründete Band VINOROSSO betrachte ich als einen Spiegel meiner Südtiroler Sprach-Wunschgesellschaft. Wir sind sieben Bandmitglieder, kommen vorwiegend aus Südtirol, aber auch aus Nordtirol. Wir wechseln mit froher Lust vom Deutschen ins Italienische. Manchmal helfen uns Musikerkollegen aus dem Trentino bei einem Konzert aus. Die sprechen nur Italienisch und beklagen, dass sie kein Deutsch können. Sie sind aber natürlich nicht in einer zweisprachigen Provinz aufgewachsen und haben andere Rahmenbedingungen als wir. 
Unsere Lieder sind vielsprachig – wir singen auf Deutsch, Italienisch und im Südtiroler Dialekt – gerade so, wie’s uns vorkommt und wie wir uns fühlen. Denn die Zweisprachigkeit in Südtirol ist ein Gefühl. Wenn man nicht fühlt, was man spricht, denkt und tut, dann sollte man es lieber bleiben lassen. 
Das Schöne dabei ist, dass die Menschen für ein paar Stunden miteinander tanzen und fröhlich sind. Das Traurige dabei ist, dass es nur für ein paar Stunden ist und danach wieder jeder seinen getrennten Weg geht.
Zu unseren „Konzerten der Mehrsprachigkeit“ kommen Menschen von 0 bis 99 Jahren: Männlein, Weiblein, Rechtsanwälte, Mechaniker, Krankenpflegerinnen, Politiker, Raumpfleger, Busfahrer, Gewerkschafterinnen, Ärzte, Hoteliers, Schwule, Lesben, Christen, Moslems, Atheisten und ja: Italiener und Deutsche, Deitsche und Walsche. 
Nicht möglich? Doch! Das Schöne dabei ist, dass die Menschen für ein paar Stunden miteinander tanzen und fröhlich sind. Das Traurige dabei ist, dass es nur für ein paar Stunden ist und danach wieder jeder seinen getrennten Weg geht – so hat es manchmal den bitteren Anschein. Dennoch muss ich zugeben, dass immer mehr Menschen nach einem Konzert auf mich zukommen, sich für die schöne Musik bedanken und gleichzeitig unterstreichen, dass wir als VINOROSSO einen Bildungsauftrag haben, dass wir die Sprachgruppen in Südtirol durch Musik und Tanz zusammenbringen, dass wir eine Brücke zwischen den Kulturen schlagen. Das ist schön. Sehr schön sogar und wohltuend. 
Ganz und gar nicht wohltuend war das vom Wahlkampfgetöse durchjammerte Jahr 2018. Ich habe vermehrt konstatiert, dass es in Südtirol zwar nicht unbedingt zwei „Fronten“ zwischen Deutschen und Italienern gibt, aber mehrere „Seifenblasen“. Jede Sprachgruppe lebt in ihrer eigenen Seifenblase – die deutschen Rechten, die italienischen Linken, die Sportvereine, die Feuerwehren, die Musikkapellen, die italienischen Pfadfinder, die Pfarrgemeinden, die Oberschicht, die Unterschicht, die Städter, die Bewohner der ländlichen Gegenden, die Bauern, die Industriellen, die Kaufleute, die Unternehmer, die Arbeitnehmer. Wenn wir nicht im Stande sind, aus diesen geisttötenden Blasen rauszutreten und aufeinander zuzugehen, wird die Abschottung irgendwann zu drastischen Konfrontationen führen. 
 
 
Es gibt in Südtirol zwar nicht unbedingt zwei „Fronten“ zwischen Deutschen und Italienern, aber mehrere „Seifenblasen“. 
Entschärfung lautet das Wort der Stunde. Niemand soll sich benachteiligt oder vernachlässigt, an den Rand gedrängt oder gar nicht wahrgenommen fühlen. Jeder Bürger Südtirols hat das Recht, gehört und ernst genommen zu werden – sofern er das möchte. Ich möchte klarstellen, dass ich niemanden zwinge, für seine Idee einzustehen, aber ich möchte dennoch die Leser dieser Zeilen dazu animieren, ihre Zivilcourage soweit einzusetzen, dass durch sie ein friedliches Zusammenleben gefördert wird. 
Dieses Buch des Kulturvereins La Fabbrica del Tempo/Die Zeitfabrik thematisiert die gesellschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung Südtirols seit 1918. Ich frage mich oft, wo Südtirol in 100 Jahren stehen wird. Wird es noch dieselben Landesgrenzen haben wie heute? Wie viele Menschen werden in Südtirol leben? Werden wir noch bei Italien sein, oder bei Österreich, bei Bayern oder der Schweiz? Oder gar ganz unabhängig sein? 
Wie wird unsere Bevölkerung aussehen? Welche Sprache(n) werden wir sprechen? 100 Jahre sind eine lange Zeit – aber irgendwie doch nicht. Vieles ändert sich rasant, anderes fast gar nicht. Ich habe keine Kristallkugel, kann folglich nicht sagen, wie unser Land in 100 Jahren aussehen wird. 
Ich wünsche mir nur, dass die Sonne weiterhin 300 Tage im Jahr scheint, das Klima angenehm ist, das Bergwasser klar bleibt und die Einwohner zufrieden leben. Vielleicht gibt es in diesem „Zukunftssüdtirol“ dann auch ein bedingungsloses Grundeinkommen und jeder kann einer Tätigkeit nachgehen, die ihm gefällt – und die gewonnene Zeit verwenden, eine neue Sprache zu lernen und somit den Frieden im Lande zu sichern. Das wär’s.