Nomadische Wahrnehmungen
In meinen Kindheitserinnerungen hat ein „Zigeuner“ einen festen Platz, der Zigeuner-Guido. Sein richtiger Name – wie ich Jahre später recherchiere – war Vincenzo Taumann. Er führte, zumeist im kleinen überschaubaren Gemeindegebiet Überetsch, einen nomadischen Lebensstil, hielt sich nicht an bürgerliche oder bäuerliche Verhaltensregeln und war dennoch mit seiner alten Geige und einer Flasche Rotwein Teil des Dorflebens. Doch wer er wirklich war, wusste kaum jemand. Guido gab nicht viel preis.
Wenn deine Hautfarbe dunkler ist, dann bist du ein Zigeuner und wenn du ein Zigeuner bist, dann wirst du diskriminiert.
1971 einigen sich Roma, Sinti, Jenische, Traveller, Manouches, Kale und viele andere Bevölkerungsgruppen auf die gemeinsame Bezeichnung Roma. Die Roma bilden nicht nur die größte Minderheit in Europa, sondern leben seit rund tausend Jahren verstreut auf dem Kontinent. Die österreichische Schriftstellerin Simone Schönett hat vor kurzem den Roma-Roman Andere Akkorde vorgelegt, in welchem sie der Frage nachgeht, was wohl wäre, wenn alle Roma an einem Strang ziehen würden, mit dem Ziel einen Roma-Staat auszurufen. Einen Staat ohne Territorium. Vor wenigen Jahren war die Aktivistin für Jenische und Roma für eine Veranstaltung von Kulturelemente in Südtirol und warf folgende Frage in den Raum: „Fragen Sie einmal Jugendliche, was sie von Roma wissen. Und dann fragen Sie einen Richter. Die Wissensschnittmenge wird fast gleich hoch bzw. niedrig sein. Sie werden hier wie dort auf ähnliche Vorurteile treffen; vor allem in Bezug auf vermeintliche Kriminalität, die scheinbar ja schon im Blut liegt. In der Justiz sind es eben auch diese Reproduktionen der Reproduktion, die als wahr gelten, dieses unhinterfragte Secondhand-Wissen, diese Unbildung in Sachen Roma-Geschichte, die gilt es zu verdeutlichen, zu vermitteln. Und wenn man bedenkt, was zum Beispiel bei all den Bettelverboten alles mit hineinspielt an Ressentiments, dann gilt es, diese bürgerlichen Sichtweisen zu hinterfragen; sich seiner persönlichen Roma-Bilder einmal gewahr werden und zu prüfen, woher man diese Informationen eigentlich bezieht.“
Viele Vorstellungen, die sich im Zusammenhang mit dem Volk der Roma über die Jahrhunderte verknüpft haben, gilt es zu beseitigen. Auch in Südtirol. Durchstöbert man das digitale Zeitungsarchiv der Landesbibliothek Teßmann mit dem Suchbegriff Zigeuner, finden sich im Zeitraum 1820-1940 über 400 Zeitungseinträge im Tiroler Raum. Die Bezeichnung Zigeuner steht häufig in Zusammenhang mit einem Strafdelikt, als Problemfall im gesellschaftlichen Alltag, als literarisches Sujet der Freiheitsliebe und Ungebundenheit oder als Liedtext über die Lustigkeit des Zigeunerlebens.
In den 1990er Jahren löste das Bekanntwerden des Zigeuner-Sagers des SVP-Politikers Roland Atz einen Skandal aus. In einem Streitgespräch über am Bozner Stadtrand siedelnde Roma kam ihm der Satz „wir können die Zigeuner doch nicht alle erschlagen und vergasen“ über die Lippen. In der Folge wurde Politiker Atz nach außen benützt, um Stimmen im rechten Wählerspektrum zu sichern. Parteiintern verlor er zugleich an Zuspruch. Einige Jahre später landete der polternde Politiker beim lokalen Ableger der Lega Nord. Sein politischer Stil hat sich bedauerlicherweise zwei Jahrzehnte später vor allem in den sozialen Netzwerken etabliert und schlängelt sich auf die politischen Bühnen. Gefordert werden Säuberungsmaßnahmen. In welcher Form auch immer.
Die in Bozen letztens mit menschenverachtenden Phrasen aufgefallene Partei der Lega unterhält auf Landesebene eine Regierungskoalition mit der Südtiroler Volkspartei - in einer Zeit, in welcher Rassismus und Vorurteile gegenüber Minderheiten, Flüchtlingen, auch den Roma und Sinti, wieder an der politischen und medialen Tagesordnung sind. Ein Armutszeugnis.
Wer sich dem Alltagsleben von Roma und Sinti ohne überholte Floskeln, Pauschalurteile und politische Meinungsmache nähern möchte, kann sich mit ein wenig Kulturverständnis zwei jüngst produzierte Kinoproduktionen vornehmen: den italienischen Spielfilm A Ciambra von Jonas Carpignano und den österreichischen Spielfilm Zerschlag mein Herz von Alexandra Makarová. A Ciambra, Siegerfilm des Bozner Filmfestival 2018, erzählt „die Geschichte über das Erwachsenwerden und den Verlust der Unschuld. Auf einem schmalen Grat zwischen Fiktion und Dokumentation zeigt er authentisch und eindringlich einen menschlichen Kosmos an den Rand gedrängter Existenzen, aus dem der 14-jährige Roma Pio herausragt.“
Unwesentlich älter sind die Hauptprotagonisten des Spielfilmes Zerschlag mein Herz. Der Film war erstmals bei der Diagonale 2018 in Graz zu sehen und läuft 2019 im Wettbewerb beim Filmfestival in Bozen. Der Streifen wird durch eine Gruppe von in Wien lebenden slowakischen Roma bestimmt, die ihren Lebensunterhalt durch Betteln bestreiten.
Beide Roma-Filme leben von erzählerischer Poesie und einer immer wieder an den Tag gelegten harten Realität. Großes europäisches Kino!
„Als ich gewählt wurde, beschloss ich, die Stimme der Roma auf die europäische Ebene zu heben“ erzählte die ungarische Politikerin Lívia Járóka und Roma-Aktivistin in einem Gespräch, nachdem sie vor Jahren frisch ins Europäische Parlament gewählt wurde: „Wir müssen mehr mit den nationalen Regierungen zusammenarbeiten, sie müssen Projekte und Ideen starten, um die Situation der Roma zu verbessern.“ Járóka wurde 1974 in Tata, im Gebiet der sogenannten ungarischen Toskana geboren. Aufgewachsen ist sie in Sopron/Ödenburg, der Partnerstadt Bozens. Bevor sie nach Brüssel kam, war sie als Aktivistin innerhalb der Roma-Bewegung tätig. Auch während ihres Studiums der Anthropologie beschäftigte sich Járóka mit der Roma-Thematik, vor allem mit dem Identitätswechsel und dem kulturellen Wechsel nach dem Wandel des politischen Systems 1989: „Wenn deine Hautfarbe dunkler ist, dann bist du ein Zigeuner und wenn du ein Zigeuner bist, dann wirst du diskriminiert. Die Vorstellungen über Kultur und Identität von Roma, die wir haben, entspricht nicht der Wirklichkeit! Es gibt keine unveränderte Identität oder Kultur innerhalb der Roma. Ich versuche dieses Zigeunersein zu entmystifizieren.“
Salto in Zusammenarbeit mit KULTURELEMENTE
Ich habe einige Zeit im Roma
Ich habe einige Zeit im Roma-Viertel Shutka in der mazedonischen Hauptstadt Skoplje gelebt und viel über die Kultur und Mentalität der dortigen Roma erfahren. Als Hauptproblem habe ich die patriarchalische Gesellschaftsstruktur erlebt, die - zumindest in Mazedonien - Mädchen den Weg zu jeder Bildung versperrt. Dabei wäre genau dies der Ausweg aus der Misere.