Touristen
Foto: Othmar Seehauser
Gesellschaft | Fritto Misto

Wir brauchen mehr Touristen!

Ignoranten behaupten ja, Südtirol sei zu überlaufen. Dabei verdanken wir den Touris, dass wir so gesund sind.
Gestern abend bin ich ein wenig erschrocken. Ich fand nämlich auf Twitter folgenden Artikel: „Klein aber fein: Diese fünf Traumtäler in Südtirol sind perfekt für den Wanderurlaub“ , und dachte mir, gleichermaßen empört wie verängstigt: Ja Herrgottsaggra, was wollt Ihr denn noch, Ihr Touris? Ihr seid ja eh schon überall! Sind wir denn nirgends mehr vor Euch sicher? 2018 verzeichnete Meran (wieder) über eine Million Nächtigungen: Könnt Ihr nicht zumindest dort bleiben, müsst Ihr Euch denn auch noch unsere Täler unter den Nagel reißen?
Dann aber hielt ich inne, denn mir wurde klar: Das war natürlich Blödsinn. Die Touristen, wir brauchen sie ja. Sich über sie zu beklagen ist kleinkariert und kurzsichtig. Immerhin verdanken wir ihnen unsere blendende Gesundheit, von der Sie letztens vielleicht auch gelesen haben  . In einer Region zu leben, die mittlerweile zu jeder Jahreszeit von Erholungs- und Erlebnissuchenden förmlich überrannt wird, das ist es nämlich, was uns so fit und fresh hält. Sie glauben mir nicht? Na, dann passen Sie mal gut auf.
Beispiel Bus: Sie wollen mit dem Bus in die Stadt fahren, idealerweise im Hochsommer. Da bekommen Sie die Gratis-Sauna gleich mit dazu. Welch Wohltat für Körper und Geist, in einem vollbesetzten Fahrzeug dicht an dicht durch völlig natürliche Körperwärme aufgeheizt zu werden! Noch dazu werden Sie angenehm durchgeruckelt, was einer Massage entspricht, können aber nicht umfallen, weil schlichtweg der Platz dazu fehlt. Sich faul auf einem Sitzplatz zu fläzen, diese Versuchung stellt sich Ihnen gar nicht, alles besetzt. Trainieren Sie doch im Stehen ihre Gesäßmuskeln.
Und wenn Sie so eng stehen, dass Ihre Nase in der Achselhöhle des Nebenmannes verschwindet, gibt’s ein einzigartiges Geruchserlebnis plus natürliche Immunisierung noch dazu. Wir Südtiroler impfen eh nicht so gern. Auch gut, wenn Sie mit Kinderwagen an der Haltestelle stehen, dann wird das Einsteigen gar nicht erst möglich sein, und Sie müssen zu Fuß gehen. Also Bewegung UND  frische Luft!
Die Touristen, wir brauchen sie ja. Sich über sie zu beklagen ist kleinkariert und kurzsichtig. Immerhin verdanken wir ihnen unsere blendende Gesundheit
Oder aber die Sonne scheint (und sie scheint ja recht oft bei uns), und Sie würden gern in einem schnuckeligen Café an der Passer  im Freien Platz nehmen, aber auch hier: alles besetzt. Grämen Sie sich nicht! Ich sage nur: UV-Strahlung. Denken Sie dran, welchen Dienst Sie ihrer Haut erweisen, wenn Sie missmutig im finsteren Inneren sitzen, während draußen gutgelaunt die Touris ihren Matschiato schlürfen, sich  in ein paar Jahren dann aber mit dem Thema Hautkrebs auseinandersetzen müssen. Außerdem, eh viel zu teuer dort regelmäßig abzuhängen. Und auch vor zufällig vorbeikommenden Psychopathen sind sie drinnen sicherer als draußen. 
 
 
Ähnlich verhält es sich mit Eiscafés: Ärgern Sie sich nicht über die lange Warteschlange, widerstehen Sie der Versuchung, auch anzustehen, sondern gehen Sie diszipliniert dran vorbei und kaufen Sie sich stattdessen im Supermarkt eine Banane. Ihre Hüften werden es ihnen danken,  ebenso ihr Blutzucker, die Touris hingegen: Hautkrebs, Diabetes UND Übergewicht. Das kann Ihnen nicht passieren. Zudem sparen Sie das Tschelati-Geld.
Oder das winterliche Pendant, der Weihnachtsmarkt: Weiträumig umgehen, wobei: Wenn Sie es tatsächlich durchs Verkehrschaos in die Stadt geschafft haben, kollabieren Sie spätestens bei der Parkplatzsuche. Die Gefahr, dass Sie es überhaupt auf den Weihnachtsmarkt schaffen, ist also gar nicht so groß. Somit sind Sie sicher vor fettigen Krapfen und picksüßem Glühwein (Hüftgold UND drohender Alkoholismus!), erleiden keinen „Senta, senta!“- Tinnitus, verlieren ihre Angehörigen nicht im Getümmel (wobei, könnte auch ein Vorteil sein) und riskieren nicht, Ihr sauer Verdientes für Nippes auszugeben. Nicht zu vergessen, die Terrorgefahr! Würden sich die Touristen nicht dafür opfern, Ihr Wohlergehen wäre ernsthaft in Gefahr. Danken Sie Ihnen dafür!
Nicht zu vergessen, die Terrorgefahr! Würden sich die Touristen nicht dafür opfern, Ihr Wohlergehen wäre ernsthaft in Gefahr. Danken Sie Ihnen dafür!
Vielleicht sind Sie aber auch traurig darüber, dass Sie noch nie ein Selfie am Karersee, dem Pragser Wildsee oder anderen landschaftlichen Hotspots schießen konnten, zumindest nicht, wenn’s dort am schönsten ist, während der Rest der Welt damit auf Instagram angibt. Trösten Sie sich: Bei Schlechtwetter ist dort bestimmt auch für Sie ein Plätzchen frei. Und ein Foto unter trübem Himmel, im Regen oder vielleicht sogar im Gewittersturm ist doch viel spannender als die immergleichen strahlenden Perfekt-Aufnahmen.
Gelassenheit bietet sich auch an, wenn Sie bei besagtem Wetter im Stau zu den Stadteinfahrten stehen. Fluchen Sie nicht! (Okay, fluchen Sie ein bisschen, aber nicht so sehr, dass es die Touris im Auto vor ihnen mitkriegen. Die haben sonniges Südtirol mit sonnigen Menschen gebucht, und nicht Regen und Grantler. Also lächeln und Zähne zusammenbeißen). Betrachten Sie dann die völlig unverhofft erhaltene Zeit mit sich selbst als Geschenk. Andere Leute machen einen Yogakurs und müssen teures Geld dafür hinblättern, Sie hingegen können bequem im Auto meditieren und in sich gehen, wenn draußen gar nichts mehr geht. Stellen Sie sich die großen Fragen des Lebens: Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und warum staut es hier gefühlt jeden verdammten Tag? Halten Sie auch stets Stifte im Auto bereit, dann können Sie Mandalas ausmalen, wenn’s mal besonders lange dauert. Andere Leute finden dazu gar keine Zeit. Sie sind also wieder klar im Vorteil, nicht nur geistig, sondern auch körperlich: Meditation senkt den Blutdruck, stärkt gegen Depressionen, Migräne und vieles mehr..
Da kann Ihnen auch Ihr Chef nichts anhaben, der mault, weil Sie schon wieder zu spät zur Arbeit kommen.  
 
 
Nicht zu unterschätzen auch der Bildungseffekt: Sie haben ja keine Ahnung, wie sehr Ihre interkulturelle Kompetenz davon profitiert, wenn Sie ständig mit Touristen in Kontakt kommen. Sie lernen fremdländische Gepflogenheiten kennen (Socken in Sandalen, Spaghetti mit dem Löffel, Cappuccino nach dem Essen, im Badeanzug in die Sauna und mit Plüschtier auf dem Kopf am Weihnachtsmarkt), erfahren wie mannigfaltig die Aussprache von „Strakiatela“ und „Notschi“ sein kann, und sind in der Lage, in mehreren Sprachen „Darf ich bitte durch?“ zu sagen.  Sehr hilfreich in den ständig überfüllten Stadtzentren.
Mag ja sein, dass unser Augenlicht regelmäßig darunter leidet, was Partnerlook und Rentnerbeige uns antun. Viel größer aber wären die Schäden für unser ästhetisches Empfinden, wenn man die unansehnlichen Schlafplätze der Obdachlosen nicht stante pede entsorgte.
Die Liste ließe sich noch endlos fortsetzen, so groß und zahlreich sind die Vorteile, die wir haben, indem wir unser Land den Touristen überlassen. Deshalb sei zum Abschluss nur noch ein Aspekt genannt: Mag ja sein, dass unser Augenlicht regelmäßig darunter leidet, was Partnerlook und Rentnerbeige uns antun. Viel größer aber wären die Schäden für unser ästhetisches Empfinden, wenn man die unansehnlichen Schlafplätze der Obdachlosen nicht stante pede entsorgte. Zum Glück kümmert sich die Stadt Bozen des Winters darum, dass die unappetitlichen Decken und farblich wenig ansprechenden Schlafsäcke der senzatetto verschwinden, sie passen nämlich stylemäßig so gar nicht zur Weihnachtsdeko. Nicht auszudenken, wenn das die Touris sähen. Denn die brauchen wir unbedingt.  Wir brauchen sogar noch mehr von ihnen. Wir können gar nicht genug von ihnen haben. Vielleicht verlassen wir dann irgendwann unsere Häuser gar nicht mehr und werden 150 Jahre alt.

Fotos: Othmar Seehauser