Wie Südtirol an 1918 denkt
Oswald Überegger forscht am Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte zu den politischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Kriegsendes auf Tirol und Südtirol. Anlässlich des heurigen 100-jährigen Jubiläums des Vertrags von St. Germain, bringt er seine Forschungserkenntnisse in einem Buch heraus. Im Interview erzählt Herr Überegger über die fragmentierte Erinnerungskultur in Südtirol, wie die Folgen des ersten Weltkrieges die Südtiroler Gesellschaft heute noch beeinflussen und welche Parallelen zwischen der heutigen- und der Vorkriegszeit in Europa zu finden sind.
Wir feiern heuer das 100-jährige Jubiläum des Vertrags von St. Germain, der das Ende des Ersten Weltkrieges markierte. Mittlerweile scheint Europa durch die Gründung der Europäischen Union ihre historischen Feindschaften überwunden zu haben. Wie ist ihre Bilanz dazu?
Die Pariser Friedensverträge haben Europa insgesamt wohl tiefgreifender als alle vorherigen Friedensschlüsse der Neuzeit verändert. Die hehren Ziele der neuen Friedensordnung, die vor allem von dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vertreten wurden, sollten einen künftigen Krieg verhindern. Durch die Schaffung des Völkerbundes, eine stärkere Demokratisierung und demokratische Teilhabe. Und durch eine Stabilisierung der Staatenwelt im Rahmen der Verwirklichung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes. Dieses Unterfangen scheitert aber. Der Krieg setzt sich nach 1918 durch eine Vielzahl von Bürgerkriegen fort – vor allem im ost- und südosteuropäischen Raum. Und aus den ehemaligen Nationalitäten der zusammenbrechenden Großreiche entwickeln sich keine stabilen Demokratien. Um es kurz zu sagen: Am Ende dominierte auch in Paris Interessens- und Machtpolitik in Reinkultur. Ein Feilschen um Grenzen, Territorien und andere Begünstigungen. Die Pariser Ordnung schuf keine stabile Friedensordnung.
Der europäische Einigungsprozess nach 1945 war hingegen ein zentraler Beitrag zur Erhaltung des Friedens und zum Abbau ausufernder Nationalismen. Auch ihm ist es zu verdanken, dass Europa in den letzten Jahrzehnten prosperierte. Gegenwärtig scheinen Europa und der Europagedanke allerdings eine in politischer Hinsicht äußerst schwierige Phase zu durchleben: Die Flüchtlings- und Eurokrise, der Brexit und die rasche Zunahme antieuropäischer Kräfte verdeutlichen, wie fragil die gegenwärtige Ordnung ist. Es ist derzeit nicht abzusehen, wohin Europa steuert, und ob es auch in Zukunft die in der Vergangenheit eingenommene prägende Rolle spielen wird.
Dem Krieg gehen meist nationalistische Parolen und das Schaffen von Feindbildern voraus. Erleben wir gerade ein sich wiederholendes Muster mit dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien, oder ist es diesmal anders?
Der Aufstieg rechtspopulistischer – vielfach auch rechtsextremer – Bewegungen ist unleugbar Realität. Er geht Hand in Hand mit dem allgemeinen Prozess einer verstärkten Renationalisierung. Salvinis Slogan „Prima l’Italia“ – und man könnte an dieser Stelle noch viele andere europäische Beispiele anführen – ist Ausdruck dieser Entwicklung. Die zunehmende Konzentration auf (den eigenen) Staat und (die eigene) ‚Nation‘ tendiert dazu, nur die vermeintlich negativen Aspekte des Integrationsprozesses hervorzuheben. Für alle – häufig auch national verursachten – Fehlentwicklungen scheint man in „Europa“ einen angenehmen Verantwortungsträger gefunden zu haben. Insofern ist die EU zum Feindbild vieler erstarkter ‚nationaler Kräfte‘ geworden, denen es offensichtlich weniger um eine – zweifellos notwendige – Reform des europäischen Projektes geht, sondern vielmehr um die Infragestellung des Projektes an sich. Gefährlich daran ist, dass immer stärker und selbstverständlicher das Trennende vor dem Verbindenden gestellt wird. Die Tatsache, dass der EU aus vielen nationalen Perspektiven nur mehr eine Art ‚Fußabstreifer-Funktion‘ zukommt, destabilisiert das gemeinsame Projekt „Europa“ zusehends. Die Frage ist, wie viel Europa aushält, und wie lange das gutgehen kann.
Ein wichtiger Aspekt zur Überwindung von Kriegstraumata und um Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen ist eine reflektierte Erinnerungskultur. Wie schätzen sie Südtirols Erinnerungskultur ein? Hat das Land seine Vergangenheit in ausreichendem und konstruktivem Maß bewältigt, oder werden weiterhin „Tabus“ verschwiegen?
Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ist in den letzten Jahrzehnten sehr viel passiert. Grundlegende Themen der Südtiroler Zeitgeschichte sind historisch aufgearbeitet worden. Es liegen etwa unzählige wissenschaftliche Studien zur regionalen Geschichte von Faschismus, Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg vor. Freilich gibt es, speziell mit Blick auf die Geschichte nach 1945 und die rezenten Jahrzehnte, noch viel zu tun. Eine stärkere Institutionalisierung der Regionalgeschichte in Südtirol wäre deshalb sehr zu begrüßen. Eine Art „Haus der Geschichte“, im dem Forschung und Geschichtsvermittlung verbunden werden könnten, wäre eine Möglichkeit, diesbezüglich neue Akzente zu setzen.
Mit Blick auf die Südtiroler Gesellschaft muss man wohl von Erinnerungskulturen im Plural sprechen. Die Erinnerung an die eigene Geschichte ist hierzulande sehr fragmentiert. Sie variiert in sozialer, generationeller, politischer und nicht zuletzt auch ethnischer Hinsicht. Die Südtiroler italienischer Muttersprache haben einen anderen Blick auf die Geschichte des Landes als jene deutscher Muttersprache. Über lange Zeit hinweg stellte vor allem die Thematisierung der Geschichte von Faschismus und Nationalsozialismus ein erstrangiges Konfliktfeld dar, an dem sich die Geister schieden. Mythen, Klischees und eine gewisse, wohl historisch bedingte, scheuklappenartige Wahrnehmung sind zweifellos noch heute Teil dieser Erinnerungskulturen, auch wenn sich vieles entkrampft und zum Besseren entwickelt hat. Denken Sie etwa beispielsweise nur an die Errichtung der Dokumentations-Ausstellung am Siegesdenkmal.
Wie nimmt die Südtiroler Gesellschaft das Thema Erster Weltkrieg und St. Germain wahr? Gibt es generationelle (oder sonstige) Unterschiede?
Ja. Die jüngere Generation assoziiert mit dem Begriff „St. Germain“ wohl zuallererst den Fußballklub Paris St. Germain und den brasilianischen Top-Spieler Neymar. Es gibt ganz sicher generationelle Unterschiede. Für die älteren Südtiroler, die mit der Südtirolfrage, der Forderung nach Selbstbestimmung und dem ‚Kampf‘ um die Autonomie aufgewachsen sind, haben der Erste Weltkrieg und der Vertrag von St. Germain eine andere Bedeutung als etwa für einen Maturanten Geburtsjahrgang 2001. Für unsere Elterngeneration war St. Germain eindeutig ein negativ belegtes Reizwort, der verlorene Krieg und seine Folgen eine Art traumatische Erfahrung. Nichtsdestotrotz stelle ich immer wieder auch im Rahmen meiner Vorträge zum Thema fest, dass speziell die Geschichte des Ersten Weltkrieges – durchaus Generationen übergreifend – noch viele Südtirolerinnen und Südtiroler in den Bann zu ziehen vermag. Die Tatsache, dass das Land damals unmittelbarer Kriegsschauplatz und Frontgebiet war, deren Spuren in den Dolomiten heute noch sichtbar sind, befördert ein gewisses Interesse an diesem Krieg. Gerade im Vorfeld des Centenaires von 2014, als der Erste Weltkrieg auch in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit rückte, war das deutlich spürbar. Lange stand die Geschichte des Ersten Weltkrieges auch im Schatten des Zweiten Weltkrieges, auf den sich das Interesse primär konzentrierte. Das hat sich in letzter Zeit zweifellos geändert.
In ihrer Forschungsarbeit beschäftigen Sie sich mit den politischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen des Kriegsendes in der Region Südtirol. Bald werden Sie ein Buch dazu herausbringen. Welche Einsichten haben Sie am meisten überrascht?
Die brachiale Wucht der Ereignisse von 1918/19. Sie müssen sich vorstellen, dass die Donaumonarchie – trotz aller Vorboten – quasi ‚über Nacht‘ zusammenbrach. Am 4. November 1918 gab es diesen Staat nicht mehr. Es gab auch das Land Tirol in der bisherigen Form nicht mehr. Als unumstößlich geltende Gewissheiten gehörten mit einem Mal der Vergangenheit an. Es war eine Zeit großer gesellschaftlicher Unsicherheit, vielfach fehlte schlichtweg auch die Zukunftshoffnung. Nach viereinhalb Jahren Krieg wieder zur Tagesordnung überzugehen war selbstredend unglaublich schwer, ja kaum möglich. Zu beobachten und zu analysieren, wie sich die Menschen – die politischen Eliten gleichermaßen wie das ‚Volk‘ – in dieser Krisensituation verhalten haben, ist herausfordernd und zugleich spannend. Mir war es wichtig, mit diesem Buch, das im August erscheint, eine gut lesbare Überblicksstudie vorzulegen, die sich nicht nur auf die Teilung Tirols konzentriert. Die Geschichte dieser Zeit war mehr, als ein bloß politischer oder staatsrechtlich bedingter Epochenbruch und der Verlust eines Territoriums. Es war mir ein Anliegen, auch auf soziale, gesellschaftliche, ökonomische und mentale Aspekte dieser Umbruchszeit einzugehen. Brüche, aber auch Kontinuitäten aufzuzeigen. Und die Analyse konzentriert sich auch nicht nur auf Südtirol. Sondern das Buch versucht die Entwicklung in allen ehemaligen Teilen des Kronlandes vergleichend zu analysieren.
Würden Sie sagen, das Kriegsende bzw. der Vertrag von Germain prägt die Südtiroler Gesellschaft noch heute? Wenn ja, inwiefern?
Vielleicht eher unbewusst als bewusst. Man muss sich vorstellen, dass die Geschichte Südtirols im 20. Jahrhundert auf das Engste mit der Entscheidung der Sieger in Paris vor hundert Jahren verbunden ist. Auch wenn es in den Bereich der kontrafaktischen Geschichte gehört: Ohne den Weltkrieg und die Friedensschlüsse hätte es wohl keine ‚Annexion‘ des Landes an Italien gegeben. Die Geschichte Südtirols wäre grundlegend anders verlaufen. Deshalb kann man auch das gegenwärtige Südtirol ohne das Wissen über diese Zäsur von 1918/19 nicht verstehen. All das, was Südtirol heute ausdrückt und verkörpert – von den gegebenen territorialen Grenzen bis hin zum Status einer autonomen Provinz – ist letztlich eine indirekte Konsequenz der Teilung von 1919. Das Kriegsende, St. Germain und seine Folgen markieren den Ursprung des modernen Südtirolproblems, so wie wir es kennen.
Historische Ereignisse sind immer schwer zu erforschen, insbesondere wenn Sie den Anspruch verfolgen, objektiv über Geschichte zu berichten. Gibt es ihrer Meinung nach wirklich eine „objektiv wahre Geschichte“? Gibt es nicht vielmehr eine Reihe subjektiver Standpunkte, die, zusammengelegt ein Bild ergeben, das aber immer vom jeweiligen Kontext aus betrachtet werden muss? Wie gehen Sie in Ihrer Forschung mit diesem Widerspruch in den Geschichtswissenschaften um?
Natürlich ist jeder Mensch, auch jeder Historiker und jede Historikerin, standortgebunden und auf unterschiedliche Weise sozialisiert. Die Objektivität liegt meines Erachtens eher darin, im Bemühen um die Rekonstruktion historischer Ereignisse und Entwicklungen verschiedene Standpunkte aufzuzeigen, die unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und einzuordnen. Es geht vor allem darum, Handlungsoptionen, Motivationen und Verfahrensweisen sichtbar zu machen. Zu verstehen, warum Menschen in bestimmten Situationen genau so und nicht anders handeln. In diesem Zusammenhang spielt die Berücksichtigung des historischen Kontextes und der spezifischen Lebenswelt in all ihren Facetten eine große Rolle. Weniger der viel zitierte „erhobene Zeigefinger“ ist zentral, sondern das abwägende und analytische Verstehen-Wollen. Dies umso mehr, als Geschichte ja immer auch politisch und gesellschaftlich instrumentalisiert wurde – und noch immer wird. Beste Voraussetzung, um die in diesem Sinne verstandene Objektivität zu gewährleisten, ist im Übrigen die Unabhängigkeit der Forschung. Sie muss gewährleistet sein. Dass das heute, selbst in Europa, nicht mehr überall selbstverständlich ist, weiß ich aus vielen Kontakten zu Historikerinnen und Historikern in Ost- und Südosteuropa. Das sollte uns zu denken geben.
Man kann die Uni Bozen
Man kann die Uni Bozen kritisieren (mit Fakten, bitte), aber man muss sie auf jeden Fall zur Kenntnis nehmen (sonst kann man sie ja gar nicht kritisieren.) Im konkreten Fall geht es aber nicht um die Uni Bozen, sondern um den Historiker Oswald Überegger, der bisher recht gute Sachen vorgelegt hat. Man wird sein neuestes Buch zunächst einmal lesen müssen, bevor man eine Meinung äußert.