Gesellschaft | Kommentar

Der schwere Weg von "Italy" zu "E-taly"

Die Regierung will das Bezahlsystem und die Bürokratie Italiens endlich digitalisieren. Dabei könnten wir viel von Estland, dem Vorreiter Europas, lernen.
Digitalisierung: moneta elettronica
Foto: pixaby

Seit Beginn meines Studiums in Estland plagt mich jedes Jahr dasselbe Dilemma, wenn ich während der Ferien in die Heimat zurückkehre: Kaum betrete ich die erste italienische Bar, um mich endlich von genießbarem Kaffeeduft umgeben zu können, hole ich meine Bankomatkarte hervor, und schon heißt es: „non accettiamo bancomat“. Noch nicht vom Jetlag erholt, und mich in der Bezahlzone Estlands des 21. Jahrhunderts befindend, statt im italienischen Zahlmodus des 19. Jahrhunderts, habe ich kein Bargeld dabei. Der Espresso muss also bis zum nächsten Bankautomaten warten, meine Freude über die Heimkehr sich gedulden. Doch von den kleinen Alltagsplagen mal abgesehen: dass Italien im Bereich Digitalisierung Europa hinterherhinkt, ist bekannt. Dafür braucht man nur die Webseite eines italienischen Unternehmens aufzurufen. Ganz anders hingegen steht es um das kleinste und nördlichste Land im Baltikum, auf englisch „Estonia“, oder „E-stonia“, wie es gern genannt wird. Davon kann sich Italien in Sachen Digitalisierung einiges „kopieren-und einfügen“.

Der erste Schritt ist immerhin getan: Nachdem das Ablenkungs- und Stimmenfangthema „Flüchtlinge“ an zweite Stelle rückt, lautet das neue Schlagwort der Regierung: „moneta elettronica“. Die Regierung will den Bürgern die Bezahlung mit Bankomat- oder Kreditkarte schmackhaft machen. Dafür könnte zum Beispiel für elektronisch bezahlte Artikel die Mehrwertsteuer verringert werden. Das liegt nicht daran, dass Bargeld zum neuen Staatsfeind erkoren wurde und von der Regierung abgeschoben werden will. Es geht darum, Finanztransaktionen transparenter zu gestalten, um so Geldwäsche und Steuerflucht zu bekämpfen.

Das neue Schlagwort der Regierung lautet: "moneta elettronica". Finanztransaktionen sollen transparenter gestaltet werden, um Steuerflucht zu bekämpfen.

Italien bewegt sich also in Richtung neueste Technologien, eine tolle Nachricht für viele Bürger, die entweder mobil oder jung oder beides sind. Eine kürzlich von Giuseppe Conte vorgestellte Maßnahme ist die „carta unica“, eine Art Bürgerkarte, die Identitätskarte, Gesundheitskarte und Bankomatkarte in einem einzigen Dokument vereint und so die öffentliche Verwaltung digitalisieren und vereinfachen soll. Der Vorschlag wird von der Regierungskoalition als ultimative „digital revolution“ hochgepriesen. Jeden estnischen Staatsbürger würde dieser Babyschritt zum Lachen bringen. 

Dafür haben die Esten gute Gründe. Das mit 1,3 Millionen Einwohnern besiedelte Land besitzt das am höchsten entwickelte digitale Ausweissystem weltweit. Mit seiner digitalen Identität kann ein Este fast alle Dienstleistungen von seinem Computer aus beziehen. Was man vom italienischen System nicht behaupten kann, berechnet man die Durchschnittsanzahl an Schaltern, durch die sich ein Italiener plagen muss, um den einfachsten Service zu erhalten. Ein Este kann die Steuern für seine Führerscheinerneuerung bezahlen, und das Dokument aktualisieren, ohne dabei das Haus verlassen zu müssen. Dafür unterschreibt er das Dokument digital, indem er seine Identitätskarte in ein Gerät steckt, das mit dem Computer verbunden ist. Und während sich eine Italienerin an mindestens einen Arzt wenden muss, um zum Beispiel ein Rezept für ein Medikament zu erhalten, kann ein Este sich mit der Bürgerkarte online identifizieren und das Rezept direkt elektronisch erhalten. Mit derselben Karte kann eine Estin auch an Wahlen teilnehmen. Estland war das erste Land weltweit, das eine digitale Abstimmung bei Nationalwahlen einführte. Bei den Parlamentswahlen 2019 gaben mehr als 40 Prozent der Wähler ihre Stimme von ihrem Computer zu Hause aus ab. Ich will an dieser Stelle gar nicht erst vom bürokratischen Aufwand erzählen, den ich aufwenden musste, um von Estland aus meine Stimme für die italienischen Parlamentswahlen abzugeben. Es fängt bei ewiger online Recherche, um die nötige Information zu erhalten, an, geht weiter mit Warten auf den Wahlzettel per Post, und hört bei zwei Stunden Busfahrt in die Hauptstadt Tallinn zur italienischen Botschaft auf.

Über 95 Prozent der Steuererklärungen werden in Estland online gemacht, weshalb der Staat für die Einnahme von 100 Euro nur 40 Cent bezahlt

Noch ein paar Zahlen, um das Ausmaß estnischer Digitalisierung und die Vorteile davon zu verdeutlichen: Über 95 Prozent der Steuererklärungen werden in Estland online gemacht, weshalb der Staat für die Einnahme von 100 Euro nur 40 Cent bezahlt. Durch das System der digitalen Signatur spart sich Estland bis zu zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Eine Studie ergab, dass für die Parlamentswahlen 2011 durch das online Wahlsystem mehr als eine halbe Million Euro gespart werden konnten. Ich könnte noch weitere Beispiele aufführen. Fakt ist, E-stonia, das Land, in dem Skype erfunden wurde, hat die digitale Revolution, die in Italien noch unter meterhohen Papierstapeln liegt, 2007 bereits begonnen und gehört heute zu den Vorreitern nicht nur in Europa, sondern auch weltweit. Das gesamte Territorium ist mit Breitband ausgestattet (Ich betone nochmals mit vorwurfsvollem Blick auf die Südtiroler Landesregierung: Das gesamte Land, bis ins hinterste Tal), weshalb Estland wohl der einzige Ort weltweit ist, in dem man im Wald Pilze pflücken und gleichzeitig mit gratis Wifi auf Facebook surfen kann.

Kommen wir zurück auf die unterste Ebene des bürgerlichen Alltags, der Bezahlung täglicher Produkte. Auch das Bargeld wurde in Estland seit langem überwunden. Man bekommt Euroscheine kaum mehr zu Gesicht. Krame ich im estnischen Supermarkt manchmal, in alten Gewohnheiten gefangen, nach den 80 Cents, die ich für den Kauf einer Kaugummipackung benötige, rollt der Kassierer schon mit den Augen: Wieder so eine Ausländerin, die ihm die lästige Tätigkeit aufzwingt, 20 Cent Restgeld zu suchen.

Estland ist wohl der einzige Ort weltweit, in dem man im Wald Pilze pflücken und gleichzeitig mit gratis Wifi auf Facebook surfen kann.

In Italien sind wir noch weit von elektronischer Bezahlung entfernt, wie kürzlich Studien ergaben: Mit 15 Millionen Kredit- und etwas mehr als 56 Millionen Bankomatkarten im Umlauf, steht Italien auf Platz 24 von den 28 Mitgliedern der Europäischen Union. Kein Wunder also, dass die Geldlücke, die durch Steuerhinterziehung entsteht, in Italien die größte unter den EU-Staaten ist, dicht gefolgt von Deutschland, das ebenso zu den Ländern gehört, in dem am häufigsten mit Bargeld bezahlt wird. 

Doch wir könnten von den Esten lernen, deren digitale Entwicklung durch ein traumatisches Ereignis vorangetrieben wurde. 2007 wurde Estland Opfer eines landesweiten Hackerangriffs auf Staatsorgane und Banken, der mehrere Wochen lang öffentliche Betriebssysteme lahmlegte. Aus dieser Erfahrung zog Estland seine Konsequenzen und entwickelte sich innerhalb weniger Jahre zur digitalen Nummer Eins. Das Land wollte aus seiner Verletzlichkeit treten, seine Schwäche in eine Stärke verwandeln, und siehe da: heute steht „E-stonia“ an erster Stelle im Globalen National Cyber Security Index. Ähnlich könnte Italien sich zum Vorreiterstaat in der Bekämpfung von Steuerflucht durch Digitalisierung von Bezahlsystemen entwickeln. Die Best-Practice Beispiele bieten Länder wie Estland. Und wer weiß, vielleicht tritt in einigen Jahren die „carta unica“ nach dem estnischen Modell auch bei uns ein. Anstelle des, wie im 19. Jahrhundert noch üblich, aufklappbaren Papierausweises im DIN-A 5 Format.