Vielleicht haben sie sie auch gesehen, vor etwa zwei Wochen: Die Präsentation des Cybertrucks, eines potthässlichen Gefährts aus der Ideenschmiede von Elon Musk. Diese Präsentation war nicht nur deshalb bemerkenswert, weil das Gefährt eben so bemerkenswert hässlich ist (kantig, klobig; so, wie mancher Kindergartler Autos zeichnet), sondern weil die Demonstration, wie sicher dieses Ungetüm ist, ordentlich in die Hose ging: Der Chefdesigner warf, gar nicht mal so schwungvoll, eine Metallkugel gegen das „Panzerglas“, welches in Folge Risse zeigte. Der Versuch wurde an einer anderen Scheibe wiederholt: wieder Risse. Das Bild eines sichtlich verdatterten Musk mit den zwei zerdepperten Scheiben im Hintergrund ging daraufhin um die Welt, und man muss schon ziemlich moralisch tiptop sein, um sich nicht zumindest ein bisschen über diese Blamage zu amüsieren. Ich jedenfalls amüsierte mich, und ich dachte an eine Freundin, die ganz bestimmt auch amüsiert war. Ich wollte ihr das Bild vom konsternierten Musk schicken, das Smartphone hatte ich schon in der Hand, da fiel mir ein: Das geht ja nicht. Es gibt sie ja nicht mehr.
Eine Woche zuvor war es mir ähnlich ergangen, da hatte ich einen Spaziergang gemacht, die Sonne genossen, und da war noch Zeit für einen Kaffee, und wieso nicht sie fragen, ob sie mitkommt? Es ist ein dumpfer Moment, wenn man daran erinnert wird, dass jemand nicht mehr erreichbar ist, nie mehr erreichbar ist, mit dem man sich eben noch in Gedanken fröhlich plaudernd gesehen hat, dass es diesen schnellen Kaffee mit dieser Person nie mehr geben wird. Man ging eben noch beschwingt durch den Tag, und dann drückt einen diese Erkenntnis buchstäblich nach unten, die Schultern fallen, und der Kopf, und die Sonne scheint nicht mehr so hell und die eben noch bestaunten Herbstblätter sind auch nicht mehr besonders. Verdammt, denkt man. Verdammt.
Ja, es ist ein egoistischer Ansatz: Ich kann mich nicht freimachen von dem Gefühl, versagt zu haben. Ihr nicht Beistand geleistet zu haben, obwohl ich so oft die Gelegenheit dazu gehabt hätte
Ich hatte es nicht kommen sehen, anders als die Angehörigen. Die letzte Nachricht auf Whatsapp, ich habe sie oft gelesen seitdem. „Alles ok?“ hatte ich geschrieben, „Olls apposto“ war ihre Antwort. Aber nichts war apposto. Insgeheim hatte ich das gewusst, aber man gibt sich halt damit zufrieden, weil alles andere anstrengend wäre und man selbst so viel zu tun hat, und morgen rufe ich sie an, bestimmt, und dann ruft man doch wieder nicht an, weil irgendein Gack dazwischen kommt, die Bügelwäsche oder die Katze, die zum Tierarzt muss, oder man denkt einfach nicht dran, und wenn doch, dann schickt man schnell wieder eine nichtssagende Whatsapp-Nachricht und hat seine Pflicht getan. Wie oft könnte ich mich jetzt dafür ohrfeigen, diesen Anruf nicht gemacht zu haben. Ich mache mir nichts vor, ich hätte damit wohl nichts verhindert. Vielleicht wäre sie gar nicht rangegangen, vielleicht hätte sie mich schnell abgefertigt, egal. Ich hätte es versucht. Ich hätte ihr gezeigt: Schau, ich bin da. Auch wenn du nicht drüber reden magst. Vielleicht hätte sie das gebraucht. Ganz sicher hätte ich es gebraucht. Ja, es ist ein egoistischer Ansatz: Ich kann mich nicht freimachen von dem Gefühl, versagt zu haben. Ihr nicht Beistand geleistet zu haben, obwohl ich so oft die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Wie viel Aufwand kostet ein simpler Anruf? Stattdessen: Ein paar Wortbrocken, hingeworfen per Chat. Sag schnell, aber dann lass mich in Ruh‘. Wie, wenn man einen Freund in einer Menschenmasse entdeckt, kurz zuwinkt, und dann weitergeht. Sich nicht die Zeit nimmt, stehen zu bleiben. Ich hab dich gesehen, aber zu mehr reicht es grad leider nicht. Und tschüs. Ich habe mir letztens vorgenommen, weniger zu chatten und mehr zu telefonieren, obwohl ich gar keine Telefoniererin bin. Meine Freude sind perplex, wenn ich, ansonsten berühmt für meine einsilbigen Stakkato-Antworten auf Whatsapp, sie jetzt einfach so, apropos gar nichts, anrufe. „Was brauchst du? Nix? Okay…“ Ich höre ihr Stirnrunzeln. Aber da müssen sie jetzt durch.
„Alles ok?“ hatte ich geschrieben, „Olls apposto“ war ihre Antwort. Aber nichts war apposto.
Fast jede Woche nimmt sich in Südtirol ein Mensch das Leben, jeden Tag versuchen es ein bis drei. Wir kennen die Todesanzeigen, in denen vom „plötzlichen“ Abschied die Rede ist, „ohne ein Wort“, und „unerwartet“. In vielen Fällen, das weiß ich jetzt, schalten die Angehörigen von Suizid-Opfern gar keine Todesanzeigen. Sei es aus Überforderung mit der Situation, sei es aus Scham. Denn was des einen Leid, befriedigt des anderen Sensationsgier. Wer, wie was, wo: Das wussten alle schon, bevor ich es wusste. Und auch das „warum“ war schon geklärt. Von Menschen, die sie nicht einmal gekannt hatten, die nie mit ihr gesprochen hatten, zu hören, weshalb sie sich das Leben genommen hatte, machte mich rasend. Als gäbe es nur einen Grund, alles wäre alles ganz einfach, logisch, Ursache, Konsequenz. Ich hätte sie schütteln wollen, so wie ich auch sie selbst hatte schütteln wollen, bei ihrer Beisetzung. Was hast du gemacht?, wollte ich rufen, die Erde mit einem Fußtritt runterkicken auf ihre Urne in dem Loch da unten, voller Zorn, bist du jetzt zufrieden? Schau deine Familie an, schau uns an! Und gleich danach musste ich lachen im Gottesdienst, weil ich sie hörte, wie sie alles kommentierte: Was singt‘s ihr so falsch? Strengt’s euch mal an! Hast du nichts Besseres gefunden im Kleiderschrank? Pah! Und ich schaute die Freundin neben mir an, und die lachte auch, weil’s ihr genauso ging.
Jede Woche eine/r. Und hinter jedem und jeder eine Familie, die zurückbleibt. Freunde, die zurückbleiben. Mindestens sechs Menschen sind direkt betroffen, wenn sich ein Mensch das Leben nimmt, schätzt die WHO. Sie sind die diejenigen, die zurechtkommen müssen mit dem Schock, mit der Trauer, leider auch mit der Scham, weil wir halt immer noch nicht verstanden haben, dass eine psychische Krankheit ebenso tödlich sein kann wie eine Krebserkrankung, ebenso unerbittlich und ebenso unverschuldet. Sie müssen zurechtkommen damit, dass der geliebte Mensch nicht mehr da ist, mit den Schuldgefühlen, die unweigerlich auftauchen, mit der Frage: Aber was wäre gewesen, wenn..?
Macht keinen Bogen um die Trauernden, redet mit ihnen. Hört ihnen zu.
Am schlimmsten finde ich, wie banal das Leben einfach weitergeht, obwohl du nicht mehr da bist. Die Müllabfuhr kommt, und der blöde Weihnachtsmarkt macht auf, und das Radio spielt „Wake me up before you go go“, und heute morgen ging so strahlend schön die Sonne auf hinter den schneebedeckten Bergen, dass es fast nicht auszuhalten war, weil ich denken musste, dass du sowas Schönes nicht mehr sehen kannst. Und es schmerzt, und ich hoffe, dass es in zehn Jahren noch genauso schmerzt, weil ich dich nicht vergessen will, weil dich niemand vergessen soll.
Deshalb macht keinen Bogen um die Trauernden, redet mit ihnen. Hört ihnen zu. Erinnert an die, die gegangen sind. Und ruft eure Freunde an, nehmt euch Zeit. Zeigt, dass ihr da seid, wenn’s auch mal nicht rund läuft. Und zeigt euch, wie ihr seid. Zeigt euch auch mal schwach. Wir alle wären gern Cybertrucks, vielleicht nicht so hässlich, aber so effizient, unbezwingbar, widerstandsfähig. Dabei bersten uns allen die Scheiben dann und wann. Es ist okay, schwach zu sein. Es ist okay, zu versagen, Es ist okay, sich der Welt manchmal nicht gewachsen zu fühlen. Es ist okay, Hilfe zu suchen. Gestehen wir uns das zu. Wir nehmen damit viel Druck von manchen Menschen.