Gesellschaft | Zeitgeschichte

Ebners Weihnachtsgeschenk

Meinungsfreiheit, Vergangenheitsbewältigung und öffentliche Beichte: Toni Ebner und die Freiheit von Forschung, Lehre und Wissenschaft.
Gamoer, Michael
Foto: Landesarchiv Bozen
Die Beichte ist ein Sakrament, das meines Erachtens zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Es ist nämlich eine Wohltat, sich von Zeit zu Zeit der eigenen Unvollkommenheit zu stellen, Gott um Vergebung zu bitten und seine barmherzige Liebe zu erfahren. Dieser ehrliche Blick in den Spiegel zeigt mir immer wieder eindrucksvoll, wie sehr ich noch an mir arbeiten muss. Er stärkt den Realitätssinn, macht kritikfähiger und bewahrt vor Übermut.
In den ersten Jahrhunderten war es üblich, dass man seine Sünden öffentlich beichtete. Der große Kirchenlehrer Augustinus schrieb gar ein Buch, in dem er seine Sünden, aber auch seinen christlichen Glauben öffentlich bekannte (vgl. Aurelius Augustinus, Confessiones). Auch ich möchte hier einiges beichten und gleichzeitig mutig Haltung bekennen.
 

Das Buch

 
Im Sommer 2018 schloss ich mein Lehramtsstudium in Wien mit einer Diplomarbeit zum Thema „Kirche und Option in Südtirol (1939/40)“ mit Auszeichnung ab. Meine umfangreiche Abschlussarbeit, für die ich unter anderem im vorbildlich geführten Brixner Diözesanarchiv und im von der Familie Ebner wohl behüteten Nachlass von Michael Gamper recherchieren durfte, lieferte neue Erkenntnisse und einen brauchbaren Überblick über dieses komplexe Thema.
Im Herbst 2018 informierte ich mich beim größten Südtiroler Verlag darüber, ob ich diese wissenschaftliche Arbeit veröffentlichen und vor ihrem sonstigen Schicksal, in großen Bibliotheken ungelesen Staub anzusammeln, bewahren könnte. Tatsächlich stimmte der Athesia-Tappeiner Verlag einer Veröffentlichung zu, nachdem die Diplomarbeit vom renommierten Kirchenhistoriker Josef Gelmi durchgesehen, gelobt und für veröffentlichungswürdig erklärt worden war.
 
 
In der Folge wurde ich von Stephan Leitner äußerst professionell betreut. Er erklärte mir, dass wir die wissenschaftliche Arbeit gründlich überarbeiten, vereinfachen, stark kürzen und bebildern müssten. Wissenschaftliche Abschlussarbeiten, die für den universitären Kontext und nicht für ein breites Publikum verfasst wurden, verlege die Verlagsanstalt Athesia seit Jahren nicht mehr unverändert. Wir müssten die schwerfällige Wissenschaftlichkeit herausnehmen, um ein gut lesbares Buch daraus zu machen, das sich auch verkaufen lässt.
In der Folge nahm ich dieses Mammutprojekt berufsbegleitend in Angriff. Ich suchte landauf, landab nach unveröffentlichtem Bildmaterial, vereinfachte und kürzte über fünfzig Seiten, doch der Text war immer noch zu lang. Bald musste ich schweren Herzens erkennen, dass ich meine Zitierweise – die Diplomarbeit hat 958 Fußnoten – unmöglich beibehalten kann, wenn ich die strikten Vorgaben des Verlages einhalten will.
Herr Leitner hatte mir die Beseitigung der Fußnoten bereits im Vorfeld nahegelegt und war damit vollkommen einverstanden. Meine Diplomarbeit ist digital über die Universitätsbibliothek Wien ohnehin jedem Interessierten online zugänglich , während sich das Buch auch und besonders an historisch interessierte Laien richtet, denen für gewöhnlich an Fußnoten wenig liegt.
Auch wenn von verschiedenen Historikern verständlicherweise die Abwesenheit von Fußnoten als "handwerkliche Sünden" kritisiert oder meine Darstellung der Brixner Diözesanleitung lebhaft diskutiert wurde, war das Echo auf die Neuerscheinung insgesamt überwiegend positiv.
Das kompetente Team arbeitete auf Hochdruck, sodass das Buch „Zwischen Seelsorge und Propaganda“ fristgerecht, Anfang Oktober 2019, erscheinen konnte (Alex Lamprecht, Zwischen Seelsorge und Propaganda. Südtirols Kirche in der NS-Zeit (Bozen 2019)). Wir freuten uns über das grafisch gelungene Design und staunten über das große Interesse am Buch. Auch wenn von verschiedenen Historikern verständlicherweise die Abwesenheit von Fußnoten als „handwerkliche Sünden“ (Hans Heiss) kritisiert oder meine Darstellung der Brixner Diözesanleitung lebhaft diskutiert wurde (Josef Gelmi, Hans Heiss und Hubert Mock), war das Echo auf die Neuerscheinung insgesamt überwiegend positiv. Wally Gramm empfahl das Buch im Dolomiten Magazin, der „Brixner“ brachte eine längere Leseprobe, die Onlineplattform „barfuss.it“ interviewte mich und es fanden mehrere Buchpräsentationen statt – einige sind noch geplant. 
Was die Haltung der Brixner Kurie in den 1930er und 1940er Jahren betrifft, plane ich übrigens ohnehin tiefergehende, wissenschaftliche Recherchen, da in diesem Bereich immer noch vieles unklar ist.
 

Vorladung am Weinbergweg

 
Am 5. November erhielt ich eine E-Mail aus dem Büro von Dr. Toni Ebner. Der Chefredakteur der Dolomiten habe – so der Inhalt der Nachricht – mein Buch mit Interesse gelesen, einige Fragen dazu und würde sich über ein Treffen in der Redaktion freuen. Was hatte dies zu bedeuten? Ich bekenne, dass ich schon damals kein gutes Gefühl bei der Sache hatte. Wie ein ahnungsloser Schüler, der unverhofft zum Direktor gerufen wird, fühlte ich mich. Mein Gefühl sollte mich, den beschwichtigenden Reden meiner Freunde zum Trotz, nicht täuschen.
Am 28. November betrat ich um kurz vor 10:00 Uhr morgens den Athesia-Palast im Weinbergweg 7 und wurde von einer sehr höflichen Dame in einen Sitzungssaal Toni Ebners geführt, wo ich auf ihn warten sollte. Die elegante, sympathische Frau hatte mir zum Zeitvertreib die hauseigene Zeitung gereicht und verließ mich mit einem freundlichen Lächeln.
Nach einigen Minuten betrat Herr Ebner sein Konferenzzimmer, begrüßte mich höflich und bot mir Kaffee an, den ich nicht ausschlagen wollte und der uns binnen kürzester Zeit von einer anderen jungen, freundlich lächelnden Mitarbeiterin serviert wurde. Kaum hatte das blonde Fräulein den Raum verlassen, verhörte Herr Ebner mich etwa fünfundzwanzig Minuten lang über einige Aussagen zu Michael Gamper, die sich in meinem Buch auf Seite 249 befinden und seiner Ansicht nach fehlerhaft oder zumindest missverständlich seien.
Es war ein Kreuzverhör, das mit freundlichen Worten geführt spürbar unausgesprochene Drohungen in sich barg und mich wohl einschüchtern sollte. 
Herr Ebner befragte mich etwa fünfundzwanzig Minuten lang über einige Aussagen zu Michael Gamper, die seiner Ansicht nach fehlerhaft oder zumindest missverständlich seien.
Es war ein Kreuzverhör, das mit freundlichen Worten geführt spürbar unausgesprochene Drohungen in sich barg und mich wohl einschüchtern sollte.
 
Ich erklärte, dass ich diese Aussagen zum Kanonikus gerne nochmals überprüfen und gegebenenfalls in einer zweiten Auflage korrigieren könne, dass ich die Rolle Michael Gampers in meinem Buch insgesamt doch sehr positiv bewerte und seine anfänglich fragwürdige Haltung zum Nationalsozialismus, den er später vehement ablehnte, doch nur am Rande erwähne.
 
 
Er fragte mich, wer mich von Seiten des Verlages betreut habe, denn mit diesem Mitarbeiter, der solche Kritik an Gamper zulasse, müsse er unbedingt sprechen. Er hatte mein Buch während des Gespräches offen vor sich liegen, sodass ich die vielen unterstrichenen Sätze einsehen konnte, die seiner Ansicht nach, die Integrität Michael Gampers und damit die Geschichte der Verlagsanstalt zu Unrecht in Frage stellen. 
Punkt für Punkt, Satz für Satz, stellte er mich zur Rede und wollte wissen, warum ich diese und nicht jene Formulierung verwendet, woher ich diese oder jene Information hatte. Die gesamte Unterhaltung kreiste um das Kapitel über den Kanonikus, welcher der Familie Ebner einst seine Aktienanteile an der Verlagsanstalt Athesia vererbt hatte.
Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Dr. Toni Ebner unausgesprochen ein öffentliches Schuldbekenntnis meinerseits forderte, als er mich am Ende des peinlichen Verhörs fragte, was ich nun zu tun gedenke, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Ich erklärte nochmals, dass ich keine absichtliche Geschichtsverfälschung betrieben hätte und die unglücklichen Formulierungen gegebenenfalls in einer zweiten Auflage richtigstellen könne. Darauf begleitete er mich zum Aufzug, trug mir auf, ihm die Literatur, auf die ich mich auf der genannten Seite berief, zuzusenden und schwatzte mit mir noch über den leider so früh verstorbenen Künstler Rudolf Uibo, dessen Werke wir beide schätzen.
Die gesamte Unterhaltung kreiste um das Kapitel über den Kanonikus, welcher der Familie Ebner einst seine Aktienanteile an der Verlagsanstalt Athesia vererbt hatte.
Ich verließ das Anwesen, eilte blindlings einige hundert Meter weiter, überquerte die Straße, um dann einen Moment lang tief durchzuatmen. Wie ich dort stand und einen Augenblick über das vergangene Gespräch nachdachte, fiel mein Blick auf ein Verkehrsschild, worauf in dicken Lettern „Toni-Ebner-Straße“ stand. Plötzlich erahnte ich, dass ich gerade bei der vielleicht mächtigsten Familie Südtirols in Ungnade gefallen war.
 

Antisemitischer Kommentar

 
In den Tagen darauf recherchierte ich fleißig und konnte bald feststellen, dass meine kritischen Aussagen zu Michael Gamper, dessen zahlreiche Verdienste um Südtirol ich selbstverständlich neidlos anerkenne, durch verschiedene Autoren wissenschaftlich belegbar sind (vgl. Karin Goller, Kanonikus Michael Gamper und seine Bedeutung für die deutsche Sprachgruppe Südtirols zur Zeit der Italianisierung (Wien 2011) (S.62-64.),  sowie Leo Hillebrand, Michael Gamper. Katholische Volkstumspolitik in Südtirol (Wien 1990), S. 64-79). 
Durch Gampers Artikel im Volksboten, die übers digitale Zeitungsarchiv Teßmann allen Interessierten online zugänglich sind, kann man die Haltung des Kanonikus problemlos nachvollziehen. So beweist beispielsweise ein Leitartikel, der am 3. März 1921 in Gampers Volksboten erschien und den sprechenden Titel „Das Reich Israel in Italien“ trägt, dass der große Journalist zu dieser Zeit eindeutig antisemitische Ressentiments hatte und journalistisch verbreitete (vgl. Das Reich Israel in Italien. In: Der Volksbote Jg. 3, Nr. 9 (03.03.1921), S. 1-2. .
 
 
Der Beitrag stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Feder des Kanonikus. Selbst wenn ein Mitarbeiter Gampers diesen Artikel verfasst hätte, ist es undenkbar, dass ein solcher Leitartikel ohne Zustimmung des Chefredakteurs auf der Titelseite seiner Zeitung erscheint. In diesem Artikel vergleicht der Journalist Juden mit Ungeziefer, das dem gesunden Baum die Kraft raubt und ihn dadurch zugrunde richtet. Er hetzt darin gegen das „jüdische Großkapital“, die „verjudete Sozialdemokratie“, gibt darin der jüdischen Bevölkerung die Schuld an dem Untergang Österreich-Ungarns, beklagt die Öffnung der jüdischen Ghettos in Rom und den Einfluss jüdischer Politiker, um mit der Aussage zu enden: „[…] denn nur die [christlich-deutschen Zeitungen] sind imstande, die vergiftenden Einflüsse jüdischer Zeitungen – und andere Anschläge des freimaurerischen Judentums auf unser Volkstum abzuwehren.“
Nur die [christlich-deutschen Zeitungen] sind imstande, die vergiftenden Einflüsse jüdischer Zeitungen – und andere Anschläge des freimaurerischen Judentums auf unser Volkstum abzuwehren.
In Anbetracht dieser wenigen Zeilen erscheint mir eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit der Gestalt Michael Gampers sinnvoll und notwendig, zumal weitere Artikel des Kanonikus auch neue Erkenntnisse über dessen Verhältnis zu Faschismus und Nationalsozialismus liefern, wie Frau Goller in ihrer wissenschaftlichen Arbeit eindrucksvoll herausarbeitet. Auch der berühmte Kanonikus, dessen bemerkenswertes Engagement für die deutsche Minderheit in Italien niemand bestreiten will, war nämlich Kind seiner Zeit und keineswegs – wie manche immer noch hartnäckig behaupten – fehlerlos.
 

Gelmis Seitenhieb

 
Am Dienstag, dem 10. Dezember, erschien in der täglich, aber nicht alltäglichen Dolomitenzeitung ein langer Artikel, der sich sehr kritisch mit meinem Buch auseinandersetzt. Der Verfasser ist der von mir hochgeachtete, bereits emeritierte Kirchengeschichtsprofessor Josef Gelmi, der sich ein Jahr zuvor für die Veröffentlichung meiner Diplomarbeit ausgesprochen hat.
Man hat mir vor Monaten mündlich versichert, dass mein Buch im Katholischen Sonntagsblatt beworben werden wird. Anstatt eines kleinen Artikels im Sonntagsblatt hat man meinem Buch nun eine ganze Seite in Südtirols Leitmedium gewidmet, wofür ich sehr dankbar bin.
Ich bekenne offen: Mein Buch ist nicht perfekt! Es weist nicht wenige Flüchtigkeitsfehler auf, einige darin von mir vertretenen Positionen darf und soll man diskutieren und manche Frage bleibt weiterhin unbeantwortet. Trotzdem halten viele Leserinnen und Leser den Band für gelungen, was mich natürlich sehr freut. Die harte Buchkritik finde ich in Ordnung, auch wenn sie schmerzt. Man darf und soll einander verbessern, damit man der Wahrheit gemeinsam näherkommt. Wenn die Kritik dann noch sachlich und konstruktiv ist, muss man fast dankbar dafür sein.
Meine Objektivität lass ich mir allerdings nicht gerne absprechen, zumal ich bei meiner historischen Arbeit überhaupt kein Interesse an einer falschen Darstellung habe. Wenn Herr Gelmi die weiterführende Literatur vermisst, hat er das Buch wohl nicht bis zum Ende durchgelesen, denn ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis, das übrigens auch sechs Titel des Kritikers umfasst, findet sich auf den Seiten 315 bis 320.
 
 
Einige vermeintliche Richtigstellungen finden sich so ähnlich auch in meinem Buch und den Hauptkritikpunkt, wonach ich die Position der Diözesanleitung auf Kosten des Dableiberklerus zu beschönigen suche, halte ich für höchst fraglich, da ich auf eine differenzierte, wahrheitsgetreue Darstellung besonderen Wert lege.  
Dass ich mich in Rom nicht so gut auskenne, wie Prof. Gelmi, der ja über Jahre dort studiert hat, will ich offen zugeben. Etwas irritiert hat mich der Umstand, dass ein Journalist der Dolomiten plötzlich das 90-Jährige Gedenkjahr der Option begeht, während seit 1939 doch erst 80 Jahre vergangen sind. Rechts über dem Artikel steht nämlich: „Vor 90 Jahren mussten sich die Südtiroler zwischen dem Verbleib in Italien und der Auswanderung ins Deutsche Reich entscheiden.“
Zur Buchrezension möchte ich zusammenfassend anmerken, dass ich mindestens genauso objektiv über die Option berichte, wie Dr. Gelmi über mein Buch.
Jedenfalls bin ich der festen Überzeugung, dass sich hinter dieser umfangreichen Buchbesprechung ein besonderes Weihnachtsgeschenk von Herrn Ebner verbirgt.
Jedenfalls bin ich der festen Überzeugung, dass sich hinter dieser umfangreichen Buchbesprechung ein besonderes Weihnachtsgeschenk von Herrn Ebner verbirgt. So dachte ich mir im Stillen, dass es wohl unhöflich wäre, ihm meinerseits kein Päckchen unter den Christbaum zu legen und entschloss kurzerhand, diesen Artikel zu verfassen, der nun ziemlich lang geworden ist, obwohl ich auch hier auf Fußnoten verzichtet habe.
Zur Weihnachtszeit feiern wir die Menschwerdung Gottes, der sich trotz seiner Allmacht in seiner unendlichen Liebe zu uns ganz klein gemacht hat und als jüdisches Kind in Betlehem geboren wurde. Vor Pilatus wird Jesus etwa dreißig Jahre später selbstbewusst behaupten: „Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.“ (Joh. 18,37) Vielleicht kann ich mit diesem Artikel gleichsam Mitarbeiter und Hebamme der historischen Wahrheit sein. Wie beim Beichten fällt es zwar schwer, die unangenehme Wahrheit auszusprechen, wenn sie aber ausgesprochen wurde, befreit sie uns (Joh. 8,32).
Ob Dr. Toni Ebner, der zu großen kirchlichen Feiertagen sehr schöne, lesenswerte Leitartikel auf der Titelseite seiner Zeitung veröffentlicht, mir darin zustimmen wird?
Ihnen allen ein schönes, frohes und friedliches Weihnachtsfest.