Gesellschaft | Interview

“Sicherheit rangiert vor Freiheit”

Schonungslos legt der Historiker Hans Heiss den Finger in die Wunde, durchleuchtet die aktuelle Krise – und sagt: “Vielfach wird kein Stein auf dem anderen bleiben.”

Was macht die Corona-Krise mit den Menschen in einer liberalen Gesellschaft? Was lehrt uns die aktuelle Situation über den Zustand unserer Demokratie? Wie kommen wir aus der mehrschichtigen Krise wieder heraus? Hans Heiss, Historiker, scharfer Beobachter nicht nur der Südtiroler Realität und ehemaliger Landtagsabgeordneter der Grünen versucht sich in Antworten auf schwierige Fragen.

 

salto.bz: Herr Heiss, befinden wir uns – historisch gesehen – tatsächlich in der “größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg”, wie es etwa Giuseppe Conte und Angela Merkel ausdrücken?

Hans Heiss: Betrachtet man die Geschwindigkeit der Ausdehnung, die globale Dimension und die umfassende Tiefenwirkung, so ist “Krise” ein nur schwacher Hilfsbegriff.

Wie beschreiben Sie das, was derzeit passiert?

Wir erleben eher einen Systemkollaps größten Ausmaßes – ganz so, als hätte Covid-19 die Globalisierung gehackt. Auch unsere Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit hecheln der viralen Dynamik hinterher. Fabio Tamburini (Il Sole 24 Ore) bringt es lapidar auf den Punkt: “In den nächsten Wochen wird der gesundheitliche Notstand sich in einen wirtschaftlichen verwandeln und der wirtschaftliche Notstand wird sich in einen sozialen ausweiten.”

Gibt es in der jüngeren Geschichte Vergleichbares?

Im historischen Vergleich waren der Kalte Krieg und etwa die Kubakrise in ihrem atomaren Vernichtungspotenzial zwar bedrückender. Aber die Systemkrise von Gesundheit, Ökonomie, Politik und Sozialem, die wir aktuell durchlaufen, ist seit 1945 einmalig. Wenn wir über unseren Tellerrand hinausblicken, vermittelt sie aber auch einen Eindruck davon, was Länder und Gesellschaften des Globalen Südens seit Jahrzehnten durchleben: ständigen Ausnahmezustand und existenzielle Bedrohung, ohne die Sicherungen, die wir kennen. Wir leben trotz aller Heimsuchungen weiterhin in einer Komfortzone, von der Afrika, Syrien, Jemen, Afghanistan nur träumen.

Der Freiheitsabbau erreicht nach langem Vorlauf nun eine weitere Etappe

Die Corona-Krise spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab: medizinisch, wirtschaftlich, auf individueller Ebene – und auf jener des Systems. Schließlich wurde auch die Demokratie in eine Zwangspause versetzt. Abstimmungen und Wahlen sind verschoben, die Legislativorgane so gut wie stillgelegt, eine Kontrolle der Exekutive – etwa durch die Opposition – kaum möglich. Wie sehr schadet ein solcher Shutdown einer Demokratie?

Nicht nur staatliche und regionale Parlamente sind in Zwangspause, auch die unterste und zentrale Ebene der Demokratie, die Gemeinden, leiden unter dem künstlichen Koma der Demokratie.
Der demokratische Shutdown erfasst aber auch die Geschlechterrollen. Frauen werden in der Politik zurückgestuft, in sozialen Räumen und Familien wieder auf Pflege, Reproduktion und Zusammenhalt relegiert.
Der Protest über das Vertrocknen der Demokratie hält sich in Südtirol in Grenzen und demonstriert wieder mal: Demokratische Verhältnisse sind in unserem Land schlecht verankert. Der historisch geringe Stellenwert und dazu der seit Langem schlechte, auch selbstverschuldete Ruf der Politik hat die Demokratie bereits im Vorfeld von Covid-19 infiziert und gelähmt.

Quasi über Nacht wurden und werden von Regierungen weltweit Grundrechte immer weiter außer Kraft gesetzt, für die jahrhundertelang zum Teil blutige Kämpfe ausgefochten wurden. In Italien sind es unter anderem die verfassungsrechtlich verankerten Grundprinzipien von Versammlungsfreiheit, Bewegungs- und Reisefreiheit, das Recht auf Ausübung wirtschaftlicher Tätigkeit. Muss uns das sorgen?

Die gesundheitliche Gefahr und deren Eindämmung rechtfertigen strikte Maßnahmen – aber nur vorläufig. Die Suspendierung der Grundrechte von Freiheit und Freizügigkeit ist nur auf Zeit zulässig und bedarf zumindest nachträglich parlamentarischer Legitimation. Aber schon jetzt ist der Flurschaden beträchtlich.

Inwiefern?

Die Öffentlichkeit bewertet Demokratie und Freiheiten nun vielfach als entbehrliches Luxusgut, geeignet nur für Schönwetterlagen. Historisch sind im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg allenfalls die Notstandsgesetze der Bundesrepublik von vergleichbarer Wirkung, dann die Antiterrorgesetze der 70er Jahre in Deutschland und Italien, in den USA die Anwendung des “Patriot Act” mit polizeistaatlichem Durchregieren nach dem 11. September 2001. Die aktuelle Situation verstärkt sich durch die seit Jahren in Gang befindliche schleichende Entmachtung von Parlamenten und die Stärkung der Exekutive, die auch in demokratischen Staaten zu beobachten ist.

Kriege und Krisen katapultieren Männer in die Kommandozentralen

Die Beliebtheit von Premier Conte wächst. In Österreich gibt Sebastian Kurz den väterlichen Krisenmanager. Ist das für Sie eine Bestätigung dafür, dass in unsicheren Zeiten der Wunsch nach einer starken Führung, einer lenkenden Hand stärker wird? Oder auch dafür, dass das Vertrauen in den Staat gefestigt ist?

Es ist die Stunde der starken Männer: Conte, Kurz und zum Teil Macron profilieren sich, mit Kanzlerin Merkel als Ausnahme in der Männer-Riege. Ihre Dominanz wird in Westeuropa allenfalls gemildert durch den sorgenden Flankenschutz von Gesundheitsministern wie Anschober in Österreich und Spahn in Deutschland.  An die Stelle der demokratischen Kontrolle treten die Experten, die in den Rang von Heilsbringern aufrücken: Drosten, Kekulé, in Südtirol Prof. Gänsbacher als Inbegriff des bodenständigen Viren-Dompteurs.
Zugleich stehen aber auch gewählte Oberpopulisten wie Johnson und Trump plötzlich nackt da, während Orbán in Ungarn einen legalen Putsch vorantreibt. Frauen hingegen verschwinden vom Schirm der Politik. Wo ist etwa Innenministerin Lamorgese, wo Landesrätin Deeg? Kriege und Krisen katapultieren Männer in die Kommandozentralen.
Auf regionaler Ebene erreichen Gouverneure wie Fontana in der Lombardei, Bonaccini in Emilia-Romagna, vorab Luca Zaia immense Zustimmungswerte. Auch für Südtirol zeigt sich Ähnliches: Die Popularität des Landeshauptmanns dürfte trotz steter Quarantäne durch die “Dolomiten” on top sein, die ritualisierten Auftritte mit Mundschutz um 16.30 Uhr in wechselnder Dreifaltigkeit sind bereits Kult.

“Auf rechtspopulistischer Seite kann man ein Schleudertrauma wahrnehmen”, konstatiert die österreichische Rechtsphilosophin Elisabeht Holzleithner. Sind Krisenzeiten keine Zeiten für Populisten?

Rechtspopulisten wie Salvini, Le Pen, die AfD-Hetzer oder die abgehalfterten FPÖ-Chefs sind vorerst um einige Nummern kleiner gestutzt. Wer erinnert sich daran, dass Salvini und Strache vor knapp 10 Monaten noch Vizekanzler bzw. -premiers waren? Aber verbieten wir uns die Illusionen und versuchen wir ein Gedankenexperiment: Was wäre denn gewesen, wenn sich Covid-19 nicht aus Wuhan aus, sondern von Nairobi, Lagos oder Mexico aus nach Norden verbreitet hätte? Die Hetzjagd auf Afrikaner in und außerhalb Europas möchte man sich nicht vorstellen. Und haben wir mit dem Sicherheitsdogma nicht wesentliche Issues der Populisten nicht längst schon in uns aufgenommen und als langjährige Tröpfcheninfektion inhaliert?

Sie sehen die Rechtspopulisten nicht am Ende?

Vorerst haben zwar das Pathos der Sachlichkeit und Krisenbewältigung Vorrang: Aber gegen den Rechtspopulismus ist kein Impfstoff gewachsen, er ist nur vorläufig geschrumpft. Denken wir an Orbáns neue Rolle und die aufschießende Meloni-Popularität. Da ist weiterhin viel Luft nach oben.

Auch, weil eine wirtschaftlich geschwächte Wählerschaft am Ende Populisten (vor allem von rechts) massiven Zulauf verschaffen könnte?

Das ist wahrscheinlich. Das sich abzeichnende Szenario mit der sich vertiefenden sozialen Spaltung zwischen gefestigten Unternehmen und einem Heer gefährdeter Klein- und Mittelbetriebe, zwischen Inhabern halbwegs sicherer Arbeitsplätze und verzweifelten Arbeitslosen werden sich viele vielfach von Volksparteien abwenden. Weniger in Deutschland, wo sich CDU/CSU und SPD als Krisenbewältiger profilieren; nicht in Österreich, wo Kurz das Musterbeispiel eines effizienten Regierungspopulismus bietet. Aber wohl in Italien, wo die Lega-Gouverneure Regierungsfähigkeit und politischen Habitus perfekt verbinden. Mehr denn je in den Visegrad-Staaten Ungarn, Polen und Tschechien. Aber denkbar ist auch ein Revival der Sozialdemokratie, die mit Olaf Scholz und Hubertus Heil in Deutschland oder Pamela Rendi-Wagner in Österreich beachtlich performt. Und natürlich der Techniker – so wird Mario Draghi bereits als Premier gehandelt. Ein schönes Bild: Draghi contro il drago del virus.

Ob und vor allem wie die Bewältigung dieses Systemkollapses gelingt, lässt sich noch nicht abschätzen

So gut wie irrelevant scheint in diesen Tagen die Europäische Union zu sein. Obwohl es mit dem Coronavirus einen gemeinsamen “Feind” gibt, geht jedes Mitgliedsland eigene Wege.

Die EU ist in Fragen von Sicherheit und Gesundheit eine schwachbrüstige Akteurin, da sie bisher eine einheitliche Gesundheitsvorsorge und -politik auch nicht in Ansätzen entwickelt hat und der Abschließung der Grenzen nur mit hilflosen Appellen begegnet. Ihr Totalausfall in den ersten Wochen der Krise wird ihr noch lange nachhängen.

Sehen Sie die EU gescheitert?

Entscheidend wird sein, ob die EU in den nun dringenden Rettungsaktionen für Wirtschaft und soziale Absicherung einvernehmlich handeln kann: Die Rolle der EZB und des Europäischen Stabilitätsmechanismus sind dabei ebenso zentral wie die Debatte um die Vergemeinschaftung von Schulden – Stichwort Eurobonds. Nur in einem gemeinsamen Kraftakt kann sich die EU behaupten, zudem muss sie gemeinsame Sozialstandards und tragfähige Sozialpolitik aufbauen. Wenn aber die Alleingänge der EU-Staaten anhalten, kann Europa gegenüber dem in der Krise gestärkten China und angesichts des Abbaus der “Schutzmacht” USA zusammenpacken. Es ist demütigend, dass China, zunächst Auslöser der Krise, nun zum hilfsbereiten Retter und zu ihrem Profiteur aufsteigt. Von Russland schweigen wir lieber.

In kritischen Zeiten, wenn die Devise lautet “Wir müssen alle zusammenhalten, niemand darf ausscheren”, werden kritische Stimmen oft nicht gerne gehört. Ist in Ausnahmesituationen kein Platz für kritische Medien?

Gerade in der aktuellen Situation sind kritische Medien besonders gefragt: Hier beeindruckt etwa der ORF, dank der entschiedenen Recherche und Interviewpraxis seiner Leistungsträger. Wäre etwa eine Ischgl-Debatte wie im ORF in Südtirol denkbar? Ich bezweifle das.
Die öffentlich-rechtlichen Medien gewinnen verlorenes Terrain zurück, wenn auch – wenn wir die lokale Szene betrachten – nicht durchwegs überzeugend. Auch italienische und auswärtige Qualitätszeitungen bieten in 14 Tagen mehr lesenswerte Analysen als sonst oft in drei Monaten. In Südtirol gehen die Uhren ein wenig anders: Neben sachlicher Berichterstattung finden sich das Unterdrücken von Kritik oder polemische Attacken. Der Fokus richtet sich stark, meist affirmativ auf die Regierung, die politische Minderheit und der Pluralismus schrumpfen medial auf Bonsai-Format. Für verantwortungsvolle Online-Medien gibt es die Riesenchance schneller wie vertiefender Reaktion auf die aktuelle Dynamik.

Die Popularität des Landeshauptmanns dürfte trotz steter Quarantäne durch die “Dolomiten” on top sein

Bleiben wir in Südtirol: Wie erleben Sie den hiesigen Krisenstab aus Politik, Sanitätsbetrieb, Zivilschutz und Ordnungskräften in diesen Tagen? Wie tritt Landeshauptmann Arno Kompatscher auf?

Das hiesige Krisenmanagement handelt bisher, soweit von außen sichtbar, beruhigend effizient und verdient Anerkennung. Der Gesundheitsbetrieb hat zumeist vorausschauend gehandelt und begegnet den Herausforderungen mit bewundernswertem Einsatz von Ärzteteams und Pflegekräften, aber auch der Verwaltung. Der Landeshauptmann agiert demonstrativ sachlich und zielbewusst, nutzt aber auch die Gunst der politischen Stunde. Er zeigt Leadership auf vielen Ebenen, hat aber auch Glück gehabt.

Glück?

Die Schließung von Skigebieten und Hotels in letzter Minute hat Südtirol den Tiroler GAU erspart, wiewohl eine frühere Sperre bitter notwendig gewesen wäre. Bei der Ankaufsaktion von Masken und Schutzkleidung in China hat der Landeshauptmann auf dem Feld brilliert, das ihm besonders liegt: im Mehrebenensystem von Land, Euregio, Staaten und Internationalität. Auch Landesrat Widmann hat als dynamischer Macher und noch besserer Verkäufer seiner selbst Konjunktur.

Nach der Herausforderung aber ist vor der Herausforderung?

Sicher. Die größere Nagelprobe wird die wirtschaftliche und soziale Krisenbewältigung der kommenden Monate und Jahre sein; das wird an die Substanz der Exekutive gehen. Aber bislang gehen Glaubwürdigkeit und Imagegewinn der Regierung, vorab ihres Chefs, Hand in Hand.

Der Protest über das Vertrocknen der Demokratie hält sich in Südtirol in Grenzen: Demokratische Verhältnisse sind in unserem Land schlecht verankert

Laut einer Umfrage waren am 17. März 94 Prozent der Italiener mit den Maßnahmen in ihrem Land einverstanden. Wie erklären Sie sich, dass die massiven und für viele existenzbedrohenden Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens kollektive Akzeptanz erfahren (haben)?

Die Akzeptanz von Bürgerinnen und Bürgern von Einschränkungen stieg nach dem rapiden, dramatischen Anstieg von Infektionen und Todesfällen am 12./13. März auf einen Höchststand, sinkt aber bereits jetzt wieder. In einigen Wochen wird der Ruf nach Normalität nicht nur der gesundheitlichen und ökonomischen Verhältnisse, sondern auch nach Rückgewinn der Grundfreiheiten wieder zunehmen – allerdings gedämpft und stets hinter dem Wunsch nach Rückkehr normaler Lebensverhältnisse rangieren. Der Druck der wirtschaftlichen und sozialen Krisenbewältigung wird weiterhin zur Folge haben, dass die Einschränkungen noch akzeptiert werden – aber nicht alle. Die Ausgangssperre ist für viele Betroffene bereits jetzt kaum mehr erträglich, in einigen Wochen gibt es hier ohne Lockerung einen Dammbruch. Alleinstehende, Familien in zu kleinen Wohnungen, ältere Personen, Menschen mit Beeinträchtigung, die von Einrichtungen nicht mehr betreut werden, leiden mit den Angehörigen unvorstellbar unter Isolation und Enge.

Vereinzelt wird bereits vor den Gefahren der Einschränkung von Grundrechten und des Rechtsstaates gewarnt. Solche bestehen vor allem, wenn die Maßnahmen nicht klar und transparent kommuniziert werden, meint etwa der Rechtsanwalt Nicola Canestrini. Sie teilen seine Sorge ob des Risikos, dass sich die Menschen langsam an Einschnitte gewöhnen und auch künftig staatliche Eingriffe in ihre Rechte und in ihr Privatleben leichter hinnehmen könnten bzw. diese Maßnahmen, die für den Notstand gedacht sind, gar nicht mehr zurückgenommen werden?

Die Gewöhnung an Unfreiheit verläuft oft schleichend, wie Nicola Canestrini im Bild des langsam verkochten Frosches anschaulich macht. Die Freiheit stirbt scheibchenweise: Längst schon hat sich die Mehrheit von uns daran gewöhnt, dass unglaubliche Datenmengen jeder Person auf Servern von Konzernen und Unternehmen, Staaten und Polizeikräften landen. Die Aufstellung von Sicherheitskameras wird geradezu herbei gesehnt. Sicherheit rangiert vor Freiheit – denken wir an den famosen DASPO urbano. Der Freiheitsabbau erreicht nach langem Vorlauf nun eine weitere Etappe. China macht vor, was alles möglich ist und auch in westlichen Staaten setzt sich das Virus des Freiheitsverlustes fest; das Immunsystem der Zivilgesellschaften ist seit Langem geschwächt. Angesichts der nun einsetzenden wirtschaftlichen Rezession, von Arbeitslosigkeit und neuer Prekarität wirkt die Einschränkung bürgerlicher Rechte gegenüber dem drohenden Existenzverlust vorerst nur wie eine Bagatelle; aber sie bleibt eine dauerhafte Hypothek.

Wir leben trotz aller Heimsuchungen weiterhin in einer Komfortzone

Können Sie als Historiker mit Blick auf die Zukunft die Frage beantworten: Wie kann kollektive Krisenbewältigung gelingen? (Wie) Kann sie speziell in Südtirol gelingen?

Ob und vor allem wie die Bewältigung dieses Systemkollapses gelingt, lässt sich noch nicht abschätzen. Gewiss braucht es neben dem Totaleinsatz von Politik, Wirtschaft und sozialen Partnern auch einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dem wir uns über grundlegende Neuorientierung verständigen: Solidarität mit Betroffenen und Opfern in überragendem Ausmaß, die Sicherung von Grundgütern wie Gesundheit und Vorsorge, das Ziel einer verlangsamten und selektiven Globalisierung mit Kostenwahrheit. Auch die Einsicht, dass der Corona-Outbreak mit dem Überspringen des Virus von Wildtieren auf Menschen im Grund eine Umweltkrise ist.
Für Südtirol stellt sich die Frage: Was bedeutet Autonomie in einer entfesselten Globalisierung, sind ihre Instrumente krisenfest? Wie beschädigt wird auch sie infolge des absehbaren italienischen Notstands sein – Stichwort “Finanzregelung”? Wie helfen wir den ins Mark getroffenen Krisenregionen? Und welche Prioritäten setzen sich Gesundheits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik für die Zukunft? Vielfach wird kein Stein auf dem anderen bleiben.

Wie wird diese Krise in die Geschichte eingehen? Welche Lehren hält sie bereit?

Für die Geschichte bietet Covid-19 eine neue Zeitrechnung: Neben der bekannten Chronologie v. Chr. und nach Chr. wird es künftig auch ein v. Cor. und n. Cor. geben. Vorerst ziehen wir keine Lehren, sondern schärfen das Bewusstsein für die Tatsache: Es gibt kein Weiter-So, denn zu vieles steht auf dem Prüfstand. Wir alle machen uns Gedanken, aber für einen festen Lernzielkatalog ist es noch verfrüht.