Gesellschaft | Gastkommentar

Ein schwerverletzter Patient

Unsere demokratisch-liberale Gesellschaft ist aktuell ein schwerverletzter Patient. Strategisch-ethisches Handeln ist gefragt!
Krankenhaus
Foto: Pixabay

Sehr geehrte Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung,

ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit!

Ich bin deutsche Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Notärztin im bodengebundenen und luftgebundenen Rettungsdienst in Italien und Österreich. Seit 4 Jahren lebe und arbeite ich in Südtirol/Italien. Was mich auszeichnet, ebenso wie Sie alle: Ich bin ein freier Bürger in einem demokratischen Europa.

Demokratie basiert in ihrem Fundament auf drei Säulen: der Legislativen (Parlament), der Exekutiven (Regierungen und Verwaltungen) und der Judikativen (den Gerichten).

Hautnah habe ich die Covid19-Entwicklungen seit 21. Februar 2020 hier in Südtirol und Italien mitbekommen. Angefangen von mildem Belächeln und WhatsApp-Witzen bis hin zu den drakonischen Ausgangssperren und Überwachung via Mobilfunkdaten sowie Einsatz von Militär.

Der Notstand wurde bereits Ende Januar ausgerufen, die Regierung hat sich Entscheidungsbefugnisse gegeben, welche sonst eigentlich dem Parlament zustehen würden, und erst einige Wochen später wurden die ersten Maßnahmen ergriffen. Es werden verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte massiv eingeschränkt, um die inzwischen zur Pandemie ausgeartete Verbreitung des Virus SARS-CoV-2, so der Glauben der Entscheidungsträger, so gut wie möglich zu bekämpfen und zu überstehen.

Mit guter Taktik gewinnt man eine Schlacht nicht aber den Krieg, dafür braucht es Strategie

Wir haben es mit dem Krankheitsbild Covid19 zu tun. Die Krankheit kann lebensgefährlich werden. Nicht nur als Ärztin, sondern auch als Mensch weiß ich, was dies bedeutet. Im Jahr 2015, ich war 31 Jahre alt, lag ich aufgrund einer atypischen Pneumonie, wie sie auch durch SARS-CoV-2 verursacht wird, mit schwerem Lungenversagen auf der Intensivstation. Ich verdanke mein Leben der modernen Medizin und gehöre mit einem signifikanten Restschaden des rechten Lungenflügels zur jetzigen Risikogruppe; dennoch entziehe ich mich nicht der Verantwortung weder als Arzt, welcher aktiv chirurgisch am Patienten weiterarbeitet, und noch weniger als EU-Bürger und Demokrat in einem liberalen Europa.

Unser im internationalen Vergleich starkes europäisches Gesundheitssystem (innere europäische Unterschiede sind nicht zu leugnen) basiert auf auf einer funktionierenden Wirtschaft, die dieses erhält und einer Gesellschaft aus Menschen, die es trägt. Unser unmittelbares Ziel ist es, den Peak der Covid19-Pandemie abzuflachen, um alle betroffenen Menschen nach unserem hohen Standard versorgen zu können. Taktisch wird hier aktuell, trotz geleitet von „Vernunftspanik“, sehr gut vorgegangen.
Aber eben nur taktisch! Mit guter Taktik gewinnt man eine Schlacht nicht aber den Krieg, dafür braucht es Strategie. Was bringt es Europa bzw. den einzelnen Ländern, wenn in einer Schlacht die Ressourcen aufgebraucht werden, welche für die Kriegsführung notwendig sind?

„Strategie ist eine Ökonomie der Kräfte“, Carl von Clausewitz.

Wenn Europa nun seine wichtigsten Grundlagen, die funktionierende Wirtschaft und seine liberalen Menschen, sein gut funktionierendes Gesundheitssystem über die Klippe springen lässt, werden wir in einem zweiten Moment nicht mehr die Ressourcen haben, Menschen mit banalen Krankheiten zu behandeln, geschweige denn einen zweiten Covid19-Peak ohne signifikante Verluste zu überstehen oder/und die vulnerablen Menschengruppen mit Ihren Grunderkrankungen zu behandeln.

Der Weltärztepräsident Prof. Dr. F. U. Montgomery, hat es treffend wie folgt artikuliert: „Ein Lockdown ist eine politische Verzweiflungsmaßnahme, weil man mit Zwangsmaßnahmen meint, weiter zu kommen, als man mit der Erzeugung von Vernunft käme.“

Wir müssen uns fragen: Was macht Covid19 mit uns und wie sind die aktuellen Reaktionen unserer Gesellschaft darauf? Sicherlich, die menschliche Solidarität wird neu definiert, in Italien singen und musizieren Millionen Menschen auf Balkonen und Studenten gehen für Senioren einkaufen.
Aber was passiert wirklich? Kleinunternehmer mit Ihren Familien haben einfach nur Angst vor dem Morgen nach Covid19, nicht vor der Covid19-Infektion von heute. Um weiter nicht von fiktiven Personen zu sprechen, Beispiele aus meinem Alltag:

In der Postfiliale meines Dorfes wurde mir höflich aber unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich als Arzt hohes Übertragungspotenzial habe und so schnell wie möglich die Filiale zu verlassen hätte.
Eine Freundin hat ihre drei Kinder beim Einkaufen dabei gehabt und wurde im Geschäft gefragt, was ihr den einfallen würde, ihre „Corona-Kinder“ in das Geschäft mitzubringen.
Auf Facebook werden durch Kommunalpolitiker virtuelle Hetzjagden auf Jugendliche, welche sich nicht an Ausgangssperren gehalten haben, losgetreten.

Kleinunternehmer mit Ihren Familien haben einfach nur Angst vor dem Morgen nach Covid19, nicht vor der Covid19-Infektion von heute

Dieses Verhalten erinnert sehr an die Hexenverfolgung im Mittelalter und an Dorfgrößendenunzianten im 2. Weltkrieg.
Was ist mit dem Ehepaar, wo er in Italien und sie in Österreich, jeweils im medizinisch-systemkritischen Beruf arbeitet? Und mit dem Liebespaar, wo er in Rimini und sie in Bozen wohnt? Ist es gerechtfertigt, dass sich diese Menschen auf unbestimmte Zeit nicht sehen dürfen?
Covid19 und unserer Umgang damit verändert unsere Gesellschaft. In Europa sind die Grenzen geschlossen. Das macht Angst! Die Freiheit der Bürger und Bürgerinnen wird massiv eingeschränkt, der ersehnte Freiheitswille der Jugend geht verloren!

Covid19 hat Europa und die Menschen verändert, weil wir panisch versuchen eine Schlacht ohne Strategie zu gewinnen, in der die Taktik darin besteht, unsere ökonomischen wie menschlichen Ressourcen in einem zu verbrauchen. Was machen diese Restriktionen mit den Menschen? Mit Psyche und Gesundheit? Herr Kollege Prof. Dr. Drosten hat am 17. März noch selbst auf die Wichtigkeit von Sonne und Bewegung an der frischen Luft verwiesen.
Bluthochdruck und Diabetes sind Risikofaktoren für ein signifikant schlechteres Outcome bei einer Covid19-Infektion. Jedem Hypertoniker und Diabetiker wird essenziell Sport zur medikamentösen Therapie empfohlen.

Mir persönlich wurde nach Überleben meiner atypischen Pneumonie ein dauerhafter Klimawechsel und mindestens zweimal pro Woche Ausdauersport an der frischen Luft bis an mein Lebensende empfohlen. Aktuell ist es so, dass ich in einem systemkritischen Beruf arbeite, von mir erwartet wird, die Gesundheit und Leben anderer zu schützen, aber das, was meine eigene Gesundheit schützt, ist zur Straftat geworden. Es wird massiv in die Grundrechte eingegriffen. Ja, nach Infektionsschutzgesetz darf der Staat massiv in die Grundrechte mit Freiheitsbeschränkung eingreifen. Grundrechte wie das Verbot von Folter dürfen aber nicht ausgesetzt werden und per definitionem ist Isolation eine Form der sog. „Weißen Folter“.
In den Ländern Italien und Österreich werden Mobilfunkdaten, ja sogar Drohnen herangezogen, um die Ausgangssperren zu überwachen. Bewegen wir uns hinein in eine neue Form eines totalitären Überwachungsstaates?
Viele kurzfristige Maßnahmen in der Not verfestigen sich zu neuen Gegebenheiten im Alltag.

Einen kompletten Lockdown über wenige Wochen werden Mensch, Gesundheitswesen und Wirtschaft mit Blessuren überleben. Nicht aber über Monate

Covid19 ist schlimm, es sterben Menschen. Das Menschen sterben, versetzt uns emotional und ethisch in Alarm. Und das ist gut so, wir sind Menschen. Nur strategielose Vernunftspanik bringt uns nicht an das gewünschte Ziel. Noch schlimmer als Covid19 könnten die „sekundären Codvid19-Toten“ durch bewusst herbeigeführten Verlust unserer europäischen Lebensform im ökonomischen wie sozialpolitischen Sinne sein.
Und im schlimmsten Falle fordert Covid19 nur ein sekundäres Todesopfer: unsere europäische demokratisch-liberale Gesellschaft.
Erich Kästner sagte: „Die Ereignisse von 1933-1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf...“

Wenn der italienische Ministerpräsident Herr Conte als Erstreaktion über die Klippe springt, heißt das dann automatisch, dass wir alle hier in Italien und ganz Europa sukzessive und unreflektiert wie die Lemminge hinterherspringen?
Es gleicht einen kollektiven Selbstmord!
Einen kompletten Lockdown über wenige Wochen werden Mensch, Gesundheitswesen und Wirtschaft mit Blessuren überleben. Nicht aber über Monate, wir laufen hier einen Marathon, keinen Sprint. Die Ressourcen müssen nicht nur intensivmedizinisch, sondern auch menschlich und ökonomisch mit Strategie verwaltet werden. Sonst wird es am Ende keine Intensivmedizin für die Schwerstkranken mehr geben, weil die finanzielle Grundlage fehlt. Kein modernes Gesundheitssystem kann sich über Monate des wirtschaftlichen Lockdown seinen hohen Standard bewahren. Ganz abgesehen von den Kollateralschäden. Schon jetzt sind aufgrund von Lockdown und Notstand Visiten und Operationen, auf welche Patienten oft Monate gewartet haben, ausgesetzt. Bei Tumorpatienten starten Chemotherapien nicht und Nachsorgeuntersuchungen werden aufgeschoben. Auch das kann tödlich sein! Im Moment soll der Mensch mit allen Mitteln beschützt werden. Dabei wird verdrängt, dass ein Mensch ein soziales Wesen mit Emotionen und komplexer Psyche ist und nicht einfach über Monate isoliert werden kann – dies geschah nicht mal zu Kriegszeiten. Der Mensch ist des Menschen Wolf.

Viele kurzfristige Maßnahmen in der Not verfestigen sich zu neuen Gegebenheiten im Alltag

Politik und Medizin haben eines gemeinsam: So lange man alles tut, wird man vor der Judikatur als Akteur stets freigesprochen, ob das Agieren nun sinnhaft war, spielt eine untergeordnete Rolle.
Im Fachbereich der Unfallchirurgie gab es Zeiten, in denen ein Schwerverletzter mit vielen Einzelverletzungen, ein sog. Polytrauma, sofort komplett versorgt wurde. D.h. alle Verletzungen wurden unmittelbar operiert. Mit dem Endergebnis, dass viele Patienten an den Komplikationen der langen Operationszeit gestorben sind. Es vollzog sich ein Paradigmenwechsel vom „Early-Total Care-Prinzip“ zum „Damage-Control-Prinzip“ (Schadensbegrenzung). Der Patient wird stabilisiert und überlebensnotwendige Operationen sofort durchgeführt. In einem zweiten Moment, wenn sich der Patient erholt hat, werden die anderen Verletzungen operiert. Durch dieses Verfahren überleben signifikant mehr Patienten.
Manchmal ist weniger in der Endbilanz mehr. Unsere demokratisch-liberale Gesellschaft ist aktuell ein schwerverletzter Patient.
Emotionsbeladen in Vernunftspanik zu verfallen und alles zu tun, einschließlich der Aufgabe des demokratischen und ökonomischen Fundamentes unserer Gesellschaft, erschient vielen im Moment die einzige Lösung, weil Menschen sterben. Mit dieser Taktik werden wir eine Schlacht gewinnen, aber nicht den Krieg und im zweiten Moment werden wir mehr Opfer mangels Strategie beklagen.

Mein Vorschlag ist: testen, testen und testen...
Erheben eines signifikant repräsentativen Schnittes der realen Durchseuchung.
Dazu Abschirmen der Risikogruppen, und Bewegungsfreiheit für gesunde Arbeitnehmer zur Ausübung ihres Berufes und damit Aufrechterhaltung unserer Wirtschaft und mittelfristig auch unseres Gesundheitswesens, wobei hier Freiwilligkeit gelten muss: Wenn jemand Angst hat, soll er zuhause bleiben. Dazu ggf. die Wiedereröffnung unter Auflagen der Kitas und Schulen, weil Durchseuchung und Ausheilung der Jungen in drei Monaten die alten Menschen schützt.
Sport allein oder zu zweit, denn ohne Sonne und Sport geht der Mensch zu Grunde, Diabetes und Hypertonie ist ein Risiko für schlechtes Outcome bei Covid19, jedem Diabetiker und Hypertoniker wird Sport empfohlen.
Dazu Konventionen mit den Privatkliniken und den privat niedergelassenen Fachärzten, damit die Basisversorgung der Bevölkerung gewährleistet ist. Im Moment läuft in der Sanität Covid19 sowie absolute Notfälle und sonst fast nichts. Patienten haben trotzdem Bandscheibenvorfälle, Tumore usw. Es bestanden vorher schon unendliche Wartelisten für Visiten und OP, diese werden nur noch länger.
Weiterhin keine Großveranstaltungen. Social distancing muss ebenso bleiben, wie ein bewusstes Einhalten der Hygienestandards im täglichen Miteinander. In diesem Kontext auch Ausrüsten der Risikogruppen mit Schutzmaterialien.
Wünschenswert wäre auch eine seriöse und kritisch-informative Berichterstattung der Medien nach Schweizer Vorbild.
Meiner Meinung nach muss die Frage gestellt werden, inwieweit Militär einschließlich Drohnen und Handydaten zur Überwachung der Bevölkerung herangezogen werden dürfen. All dies erinnert mich an ein totalitäres System und nicht an eine Demokratie.

Unsere demokratisch-liberale Gesellschaft ist aktuell ein schwerverletzter Patient

Unsere europäische demokratisch-liberale Gesellschaftsform, unser Wohlstand und der damit verbundene hohe medizinische Standard sind eine Errungenschaft, keine Selbstverständlichkeit. Strategisch-ethisches Handeln ist gefragt!

Nur weil die Sonne scheint, wird ein Landwirt kein Heu mähen ohne sich die Wetterprognose der nächsten Tage anzusehen. Auch wird ein Helikopterpilot nicht über den Brenner fliegen ohne das Wetter auf der anderen Seite zu beurteilen.

Für uns Bürger wird es Zeit, kritisch über das Tun der Entscheidungsträger und der Exekutive zu reflektieren.

Unterzeichnet durch einen freien demokratischen Bürger Europas


Dr. med. Barbara Maria Dirhold