Politik | Alleingang der SVP

Norden gegen Süden

Die Phase Zwei des Zusammenlebens mit COVID-19 hebt alte Gegensätze neu hervor, führt aber auch zur Umkehrung bekannter Wertesysteme
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Foto: www.rechtsanwalt-tappeiner.it

Die Stimmung hat sich in den letzten Tagen stark aufgeheizt, und dennoch kam die gestrige Ankündigung des SVP-Direktoriums überraschend. Vor allem in der Wahl des Tones ist die Androhung eines Südtiroler Sonderwegs ein deutliches Zeichen: einerseits für den sich aufstauenden Unmut innerhalb der ländlichen Südtiroler Bevölkerung, vor allem der Bezirke mit gegen Null tendierenden Corona-Neuinfektionen, welche von der Landesregierung mehrheitlich eine entschlossene Kurswende hin zu einer Rückkehr zu freier wirtschaftlicher Betätigung zu fordern scheint. Andererseits für die sich abzeichnende Schwäche des Ministerpräsidenten Conte, der zwischen der Uneinigikeit innerhalb seiner eigenen Regierungskoalition und den Forderungen nach mehr Öffnung durch die Regionen des Nordens auf einem zunehmend wackeligen Stuhl sitzen könnte. Der schlaue Renzi hat ebenfalls seine Chance gewittert und vertritt nun innerhalb der Koalition die Postion des Wirtschaftsfreundes.

Während in Deutschland seltsamerweise Stimmen laut werden, die offen das föderale System kritisieren und - mit Blick nach Frankreich - mehr Zentralismus einfordern, ist zumindest im Norden Italiens momentan das Gegenteil der Fall. Gerade die von der Coronakrise im sanitären Bereich stärker heimgesuchten Regionen Lombardei, Venetien und Emilia-Romagna verlangen von Rom einen mutigeren Schritte hin zu mehr Öffnung in der zweiten Phase. Insofern befindet sich die SVP-Spitze - in offenbarer Absprache mit ihrem Koalitionspartner - in bester Gesellschaft, weshalb ich auch kein neues "Los von Rom" aus der gestrigen Ankündigung herauslesen möchte. Vielmehr scheint es darum zu gehen, gemeinsam mit den anderen stärker wirtschaftlich orientierten Regionen den Druck auf Conte und die Zentralregierung zu erhöhen und mehr Gestaltungsfreiraum zu erlangen.

In diesem Zusammenhang zeichnen sich zwei interessante Tendenzen ab. Einerseits offenbart sich innerhalb der Lega - durch die Münder ihrer Regionalverwalter - eine verstärkte Rückkehr zu ihrer ursprünglichen autonomieortientierten DNA, bei gleichzeitiger Abkehr vom zunehmend aus der Mode geratenden zentralistisch-sovranistischen Ansatz des zum "Pagliaccio" verkommenden Parteichefs Salvini. Im selben Atemzug macht sich auch der Nord-Süd-Gegensatz in Italien wieder stärker bemerkbar, wobei die Zentralregierung offensichtlich den von den Regionen des Südens geforderten schärferen "Resto a casa"-Kurs bevorzugen möchte.

Es gilt zu beachten, dass in der derzeitigen Regierungsmannschaft lediglich der Kulturminister Dario Franceschini "nordischer" Abstammung ist, während alle anderen Ministerien mit Personen besetzt sind, deren Herkunft in Rom oder weiter südlich anzusiedeln ist.

Insofern lässt sich der zaghafte Kurs vielleicht auch damit erklären, dass mit einem Auge auf die eigene Wählerschaft geschielt wird, denn in den Regionen des Südens ist der "Restoacasismo" - trotz der milder verlaufenden Coronakrise - eindeutig salonfähiger als im Norden.

Doch welche Chance hätte konkret ein Alleingang Südtirols? Theoretisch könnten Landesgesetze durch den Landtag verabschiedet werden, welche diese Phase der Krise in Abweichung zu den staatlichen Vorgaben regeln. Es wäre schwer vorstellbar, dass der Staat bereits im Vorfeld, rein auf die Ankündigung eines möglichen Alleinganges des Landes und/oder der Region hin, von seiner Ersetzungsbefugnis gemäß Art. 120 Absatz 2 der it. Verfassung Gebrauch machen würde; sich sozusagen präventiv zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, oder zur Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit an die Stelle des Landtages setzt und Bestimmungen erlässt, die dem Zentralstaat gefällig wären.

Viel wahrscheinlicher wäre eine Anfechtung der eventuell verabschiedeten Landesgesetze vor dem Verfassungsgerichtshof, wegen einer Verletzung der Zuständigkeiten durch die Provinz. Das Gesetz wäre dann erstmal in Kraft, könnte allerdings vom Verfassungsgericht vor einer endgültigen Entscheidung auch einstweilen ausgesetzt werden. Ein solcher Konflikt könnte unabsehbare Folgen sowohl für unsere Autonomie als auch für die Zentralregierung selbst mit sich bringen, denn es ginge um einige noch ungeregelte und unsichere Graubereiche unseres Statuts. Dazu käme eine allgemeinere Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit der gesamten Notstandsgesetzgebung der Regierung, welche in dieser delikaten Phase des politischen Geschehens wiederum Risiken für Conte selbst in sich bergen würde, ganz abgesehen von einer weiteren Erhöhung der Rechtsunsicherheit und der damit verbundenen Auswirkungen auf die Wirtschaft.

Es ginge also an das sprichwörtliche "Eingemachte", mit schwer absehbaren Folgen.

Doch auch die Anfechtung eines Landesgetzes durch die Regierung müsste erst vom Ministerrat verabschiedet werden, wobei bezweifelt werden darf, dass sich angesichts der zerstrittenen Koalitionspartner derzeit eine einheitliche Postion so einfach finden ließe, bzw. ob die Suche danach nicht schnurstracks in eine Regierungskrise führen würde, vor allem wenn die Front der Regionen des Nordens eine geschlossene sein und Renzi seine Rolle als Zünglein an der Waage ausreizen sollte. Es bleibt jedenfalls spannend.