Politik | Exit à la Südtirol

Los ohne Rom

Das angekündigte Landesgesetz zur Südtiroler Phase 2 sorgt für Stunk und Applaus. Regionenminister Boccia kommt nach Bozen, das Gesetz wohl vor das Verfassungsgericht.
Arno Kompatscher
Foto: LPA/Fabio Brucculeri

Arno Kompatscher signalisiert es bereits mit seinem Look: Die obersten Knöpfe seines weißen Hemdes, offen; die Mundschutzmaske, wochenlang fest hinter die Ohren geklemmt, abgelegt. Der Landeshauptmann ist bereit für den autonomen Weg in die Phase 2 – und mit ihm ganz Südtirol. So zumindest sieht es seine Partei, die das Land seit über 70 Jahren regiert. Die SVP-Parteileitung hat am Montag Abend beschlossen, den Ausstieg aus dem wochenlangen Lockdown aufgrund der Corona-Krise selbst in die Hand zu nehmen – Vorgaben des Staates hin oder her. Ein Landesgesetz soll her, mit dem Südtirol zeigen soll, dass es – Zitat Kompatscher – “mit Vorsicht, Bedacht, aber mutig” die Rückkehr des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens meistern kann. “Falls unsere Entscheidung, in Phase 2 einen eigenständigen Weg zu gehen, nicht akzeptiert wird, werden wir jegliche Zusammenarbeit mit der Regierung aufkündigen”, tönten Landeshauptmann und Parteiobmann Philipp Achammer am späten Montag Abend. Erst am Dienstag Nachmittag wird der Chor um die Regierungspartner auf Landes- und Regionalebene erweitert. Mit einer lieblosen Aussendung, verschickt aus der SVP-Zentrale, fordern Kompatscher und Achammer gemeinsam mit dem Trentiner Landeshauptmann Maurizio Fugatti, dem Trentiner Lega-Chef Mirko Bisesti und Vize-Landeshauptmann Giuliano Vettorato kurz und knapp: “Mehr Autonomie bei der Gestaltung der Phase 2.”

Adressiert ist die Forderung an die Regierung von Premier Giuseppe Conte. Rom habe einen “absolut falschen Ansatz” bei den Lockerungen des Lockdowns gewählt. “Wir haben uns etwas anderes erwartet als das, was Ministerpräsident Conte am Sonntag verkündet hat”, betont der Landeshauptmann – und zwar mehr Spielräume für die Regionen bzw. Autonomen Provinzen, je nach der Entwicklung der Infektionszahlen, eigene Maßnahmen vor allem bei der Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeiten setzen zu können.

Nun aber soll Südtirol den Lockdown im Gleichschritt mit all den anderen italienischen Regionen verlassen. Für die SVP ein Angriff auf die Autonomie. Für die Wirtschaft Belastung und Gelegenheit zugleich, ihr volles Gewicht in die Waagschale zu werfen. Für die Bevölkerung, die laut dem Landeshauptmann eine “große Erwartungshaltung für die Phase 2” hatte, eine herbe Enttäuschung.

 

Am Ende vor Gericht?

 

Gleiche Regeln für alle – das war vielleicht in Phase 1 die richtige Strategie. Aber jetzt, da die akute Notstandsphase vorbei und die Corona-Situation in Südtirol stabil sei, sei es inakzeptabel, dass Südtirol “monatelang mit zentralistischen römischen Notdekreten” von Rom aus regiert werde. Regionenminister Francesco Boccia betont am Dienstag Nachmittag zwar, dass ab dem 18. Mai regional differenzierte Maßnahmen gesetzt werden könnten. Doch da steht der Plan der SVP längst: Eine Südtiroler Exit-Strategie – an einer solchen wird seit Längerem gearbeitet –, gegossen in ein Landesgesetz, demokratisch legitimiert vom Landtag, mit Bestimmungen zur Öffnung von Handels- und Dienstleistungsbetrieben wie Friseuren, zum Tourismus und zur Kinderbetreuung.

Anders als eine Verordnung des Landeshauptmannes – eine solche fordert etwa der hds, damit alle Einzelhandelsgeschäfte am 4. Mai öffnen können – kann ein Landesgesetz nicht unmittelbar von der Regierung angefochten und außer Kraft gesetzt werden. Außerdem kann der Landeshauptmann für ein Landesgesetz nicht persönlich belangt werden. Bei einer Verordnung ohne Rechtsgrundlage riskiert er, vor dem Verwaltungsgericht zu landen oder gar abgesetzt zu werden.

 

Für ein Südtiroler Corona-Gesetz scheint eine Klage beim Verfassungsgericht hingegen vorprogrammiert. Verfassungsrechtler wie Francesco Palermo und Karl Zeller räumen Südtirol dabei keine großen Chancen auf Sieg gegen die Regierung ein. Denn der Schutz der Gesundheit ist in Art. 32 der Verfassung festgelegt – und Südtirol dürfe staatliche Notmaßnahmen, die auf diesem Prinzip beruhen nicht aufweichen, so der Tenor. Arno Kompatscher sieht das anders. Er will es darauf ankommen lassen. Zunächst obliege es der Regierung, eine “rechtliche und politische Bewertung” der Frage vorzunehmen, ob sie das Landesgesetz anficht oder nicht. “Dann wird auch zu klären sein, inwieweit es verfassungsrechtlich legitim ist, dass Rom über Monate per Dekret Bereiche reglementieren kann, in denen Südtirol primäre Gesetzgebungsbefugnisse hat, wie etwa im Zivilschutz.”

Die SVP weiß, dass Conte insbesondere im Senat auf die Stimmen der drei Edelweiß-Senatoren angewiesen ist, um seine schwankende Mehrheit zu sichern. Senatorin Julia Unterberger – sie hatte in der Corona-Krise bisher stets Lob für die Vorgehensweise der Regierung Conte geäußert – teilt am Dienstag mit, dass nun die gesamte achtköpfige Autonomiegruppe im Senat, deren Vorsitzende sie ist, bereit sei, “entsprechende parlamentarische Schritte zu setzen, um aufzuzeigen, dass bei den derzeitigen Entscheidungsprozessen die autonomen Befugnisse eingeschränkt sind”. Ob sich Conte & Co. davon beeindrucken lässt, bleibt fraglich. Schließlich wird es die SVP kaum auf ihre Kappe nehmen wollen, möglicherweise für eine Krise oder gar den Sturz der Regierung verantwortlich gemacht zu werden.

 

Minister kommt nach Bozen

 

“Wir suchen den Konflikt nicht, aber wir scheuen uns nicht vor eventuellen Angriffen.” Der Devise der diplomatischen Töne, auf die der Landeshauptmann seit jeher Wert legt und die ihm so mancher (auch parteiinterner) Widersacher als Schwachstelle ankreidet, scheint Arno Kompatscher abgeschworen zu haben. Bei Regionenminister Boccia kommen die lauten Töne nicht gut an. “Politische Polemiken sind in diesem Moment des gesundheitlichen Notstandes zu vermeiden”, lässt der PD-Mann am späten Dienstag Abend in einer kurzen Meldung an die Medien ausrichten. Bereits zuvor hat er in einem ANSA-Interview klare Worte gefunden: Er spreche sich klar gegen politische Instrumentalisierung einer solchen Krisensituation aus. “A Bolzano non ci sono più 272 persone”, meint Boccia in Anspielung auf die offiziell erfassten Corona-Toten in Südtirol. “Non si tratta di un numero, ma sono storie di vita familiare. Penso che meritino rispetto.” Respekt fordert der Minister auch für all das, was der Staat geleistet habe und weiterhin leisten werde. Am Freitag, 1. Mai, werden freiwillige Krankenpfleger der staatlichen Covid-19-Task Force nach Bozen gelangen – “come da richiesta del presidente Kompatscher”, teilt Boccia mit. Er selbst wird kommende Woche nach Südtirol kommen“e se ci saranno altre richieste saranno come sempre soddisfatte”.

 

 

Obwohl Boccia im persönlichen Gespräch mit ihm am Dienstag bereits “etwas versöhnlicher” geklungen habe und es am heutigen Mittwoch eine Videokonferenz geben soll, will Landeshauptmann Komaptscher nicht zurück: “Wir gehen unseren Weg weiter und warten nicht auf Rom.”

 

Schulter- für Schnellschuss?

 

Konkret sieht dieser Weg so aus: Bereits am Donnerstag (30. April) soll der Entwurf für das Landesgesetz zum autonomen Weg aus dem Corona-Lockdown vorliegen und am kommenden Montag (4. Mai) im zuständigen I. Gesetzgebungsausschuss behandelt werden. Am 7. Mai könnte er bereits im Landtagsplenum zur Behandlung anstehen. Bis zum Inkrafttreten vergehen dann weitere Tage. Viel schneller als Rom wird Südtirol mit weiteren Lockerungen also nicht sein. Zudem bleibt die große Unbekannte, in welchen Bereichen Südtirol überhaupt wie autonome Regelungen einführen kann und wie die Regierung gegen einen möglichen Südtiroler Sonderweg vorgehen wird. Samt politischer Nebenwirkungen. Etwa auf die Verhandlungen zur Aussetzung des Mailänder Abkommens. Das Land will erreichen, dass 300 der 476 Millionen Euro, die Südtirol jährlich an Rom abtritt, im Land bleiben und für weitere Hilfsmaßnahmen zur Verfügung stehen.

“Im Idealfall sieht die Regierung ein, dass der Weg, der über regionale Zuständigkeiten geht, der bessere ist. Das ist bis jetzt nicht passiert. Jetzt kommt eben der komplizierte Weg.” Um den möglichst zügig beschreiten zu können, fordert der Landeshauptmann alle Parteien zur Zusammenarbeit im Landtag auf. Tatsächlich stößt die Vorstellung eines Südtiroler Sonderwegs durch die Phase 2 auf breite Zustimmung. “Pieno sostegno, fiducia e stima al Presidente Kompatscher”, sichert Carlo Vettori (Alto Adige Autonomia) zu. “Conte hat mit seinen Taten unsere Autonomie zertrampelt und sie zur Nachkriegszeit zurückgebracht”, poltert Lega-Fraktionssprecherin Rita Mattei.

“Wir gehen unseren Weg weiter und warten nicht auf Rom.” (Arno Kompatscher)

Team K zeigt sich grundsätzlich mit der Linie der SVP d’accord, platziert aber erneut die Forderung nach einer massiven Ausweitung der Corona-Tests – um neu auftretende Infektionen schnell erkennen, isolieren und somit eine zweite Welle verhindern zu können. “Jetzt müssen die Landesregierung und die Spitzenfunktionäre den Beweis erbringen, dass sie das Krisenmanagement wirklich beherrschen.”
Auch die Grünen mahnen zur Vorsicht – “Südtirol erholt sich im selben langsamen Rhythmus wie andere Regionen. Die Salurner Klause wird vom Virus noch lange durchdrungen werden. In beide Richtungen” –, während bei anderen der Wunsch nach mehr geweckt ist. “Der politische Ungehorsam gegen Rom ist notwendig, um Südtirol vor Schaden zu bewahren. Wir werden daher mit ganzer Kraft alle Maßnahmen mittragen, die Südtirol von Italien unabhängig machen”, heißt es von der Südtiroler Freiheit. Und die Freiheitlichen finden: “Für unser Land tut sich in dieser Krise die große Chance auf, einen neuen Weg der Eigenständigkeit zu beschreiten.”

Die italienische Opposition hingegen hält von Südtiroler Alleingängen nichts. “Südtirol ist trotz seiner Autonomie keine Insel, wir können nicht denken, immer alles alleine zu machen. Die Phase 2 muss mit der Regierung in Rom abgestimmt und diskutiert werden – aber nicht mit Erpressungen”, heißt es vom PD. Und auch Diego Nicolini, dessen M5S in Rom mit dem PD regieren, findet: “Es ist nicht weise, inmitten eines gesundheitlichen Notstandes, den wir noch nicht hinter uns gelassen haben, anzudrohen, alles über den Haufen zu werfen. Umso weniger, da der Landeshauptmann das Mailänder Abkommen außer Kraft setzen will.” Und Alessandro Urzì (Alto Adige nel cuore) schließlich kritisiert – immer in Richtung SVP gewandt: “Es scheint so, als ob man jetzt das Virus ausnützt, um nicht nur die Regierung, sondern den italienischen Staat auszuhebeln.”