Politik | Interview

“Es wird auch für uns extrem schwer”

Schaffen wir das? Landeshauptmann Arno Kompatscher über die Herausforderungen in Phase 2, Druck und Fehler in Phase 1 – und die Frage, ob er Südtirol zusammenhalten kann.
Arno Kompatscher
Foto: Othmar Seehauser

Im Hintergrund Vogelgezwitscher und Kinderjauchzen. Ein kurzer Schwenk mit dem Handy gibt den Blick auf den sonnigen Vormittagshimmel und den prachtvollen Ausblick vom Balkon in Völs am Schlern preis. Doch die Idylle ist trügerisch. Seit Wochen hält das Coronavirus die Welt in Atem. In Italien wird am heutigen Montag Phase 2 eingeläutet. Südtirol will seinen eigenen Weg aus dem Lockdown gehen. Angeführt von einem Landeshauptmann, für den es nicht nur mit Blick nach vorne Fragen zuhauf gibt. Per Videoanruf stellt sich Arno Kompatscher jenen von salto.bz.

salto.bz: Herr Landeshauptmann, Sie haben sich bisher stets von einer “Show der harten Männer” distanziert und betont, “auf den Tisch hauen” sei nicht ihr Stil, sondern für sich beansprucht: “Dialog, Diplomatie und harte Verhandlungen waren für Südtirol immer der erfolgreiche Weg.” Warum haben Sie beim Übergang zur Phase 2 diesen Weg, den Silvius Magnago vorgelebt hat, verlassen?

Arno Kompatscher: Ich glaube nicht, dass ich diesen Weg verlassen habe. Ich bin ein Mensch, der fast immer die Contenance wahrt. Oft wird auch gesagt, sogar zu viel. Was die Phase 2 anbelangt war für mich klar, dass wir irgendwann sagen müssen, wenn es Rom nicht einsieht, gehen wir alleine. Und am letzten Aprilsonntag hat mich die Haltung der Regierung und von Regionenminister Boccia tatsächlich auf die Palme gebracht. Das Wording der Aussendung der Partei am Montag Abend war, sagen wir so, sehr deutlich. Aber natürlich spricht man trotzdem miteinander. Ich habe bereits tags darauf ein langes Gespräch mit dem Regionenminister geführt, ein sehr hartes. Heute (Samstag, Anm.d.Red.) Nachmittag habe ich eine Videokonferenz mit ihm und am Montag (heute, Anm.d.Red.) kommt der Minister nach Bozen.

In der SVP-Aussendung werden Sie mit der Aussage zitiert, es gehe jetzt um die “Verteidigung der Autonomie”. Im Umkehrschluss heißt das, Sie sehen Autonomie unter Attacke. Außerdem sagen Sie: “Südtirol geht nun seinen eigenen Weg.” Die Botschaft, die ankommt: Der Weg Italiens ist nicht jener Südtirols. Das wiederum ist Wasser auf den Mühlen von Sezessionisten, die das Land entweder zurück nach Österreich oder in die Eigenstaatlichkeit führen wollen.

Es ist ganz interessant – das habe ich auch Minister Boccia und Ministerpräsident Conte gesagt: Bei Zaia im Veneto, Rossi in der Toskana oder Santelli in Kalabrien spricht man vom Wunsch nach “autogoverno”. Warum heißt es in Südtirol gleich “secessionismo”? Können wir nicht auch, wie andere Regionen, sagen, “es ist für uns nicht mehr in Ordnung, was Rom uns aufoktroyiert”, ohne dass man gleich denkt, da würden jetzt Bataillone in Salurn aufmarschieren? Wir sind ganz einfach nicht zufrieden damit, wie diese Phase 2 gestaltet werden soll. Ich bin nicht der einzige, der der Auffassung ist, dass die Regierung mit ihren Notstandsverordnungen nun die Grenzen der Verfassung überschreitet. Auch Marta Cartabia – immerhin Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs – hat am Freitag überdeutlich darauf hingewiesen. Deshalb müssen wir die Autonomie an diesem Punkt verteidigen.

Ich habe in dieser Situation für die Überlegung, “wie wird das jetzt ankommen, werden sie mich wegen dem wieder wählen?” schlicht und einfach weder die Zeit noch den Geist

Zuvor haben Sie wochenlang auf Rom verwiesen und betont, dass sich Südtirol nur im Rahmen der Vorgaben der Regierung bewegen kann. Warum die plötzliche Kehrtwende?

Es ist ein Unterschied, ob man in einer absoluten Ausnahmesituation auch einmal akzeptiert, dass es ein einheitliches Vorgehen braucht oder ob für Monate alles bis ins kleinste Detail, etwa, ob der Friseur das Fenster offenhalten muss oder nicht, vom Schreibtisch in Rom aus geregelt wird. In Phase 1 haben wir uns mit einer allgemeinen Generalklausel in den Dekreten zufriedengegeben, die auf unsere Autonomie verweist. Das war uns wichtig, damit kein Präzedenzfall geschaffen wird. Aber für Phase 2 haben wir in aller Deutlichkeit gefordert, dass die Regionen im Rahmen allgemeiner Leitlinien aus Rom entscheiden können sollen. Und das seit drei Wochen. Somit kann von einer plötzlichen Kehrtwende keine Rede sein! Seit drei Wochen habe ich mit anderen Präsidenten der Regionen in den Konferenzen mit der Regierung diese Forderung vehement vorgebracht. Premier Conte hat uns anfangs auch bestätigt, dass es so kommen würde. Und dann plötzlich hieß es vor zehn Tagen wieder, es solle mit den DPCM (Dekreten des Ministerpräsidenten, Anm.d.Red.) weitergehen. Das war der Moment, wo wir gesagt haben: So ist das nicht in Ordnung.

Inzwischen wurden von der Regierung ab 18. Mai Maßnahmen auf regionaler Ebene zugesichert. Warum beharren Sie trotzdem auf das Landesgesetz, das diese Woche im Landtag verabschiedet werden und ab 11. Mai erste Lockerungen bringen soll?

Genau hier gibt es ein Missverständnis. Viele sagen, ja wegen dieser einen Woche… Aber es geht nicht um Wochen. Es geht um ein Jahr! Die Regierung hat ganz klar signalisiert, dass sie auch die nächsten Monate per Dekret gestalten würde. Es wurde bereits gesagt, “im Sommer wird es so und so sein und im Dezember werden wir dann schauen”. Das kann es nicht sein. Denn da geht es nun wirklich um die Frage, was ist mit unserer Autonomie?

Applaus kriegen Sie für die Entscheidung, über ein Landesgesetz einen Südtiroler Sonderweg aus dem Lockdown einzuschlagen, von Südtiroler Freiheit und Freiheitlichen. Jetzt wird zu “politischem Ungehorsam gegen Rom” aufgerufen und Südtirol auf dem besten Weg in die Eigenstaatlichkeit gesehen.

Gegenfrage: Wird das von der Allgemeinheit in Südtirol so wahrgenommen oder nur von den sehr Interessierten, die die Presseaussendungen gewisser Leute aufmerksam lesen? Ich bin der Meinung, dass die allgemeine Reaktion in Südtirol keineswegs in diese Richtung ging, auch wenn es zwei, drei Leute vielleicht hochspielen wollen. Das ist die Lesart einer ganz kleinen Minderheit. Uns ging es um etwas anderes. Wir können nicht akzeptieren, dass unsere gesamten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tätigkeiten zentral aus Rom gesteuert werden – und das über Monate hinweg. Uns geht es allein darum, und das ist auch in Rom verstanden worden. Man braucht kein Sezessionist zu sein, um zu sagen, so geht das nicht. 

 

Sie haben die Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeiten und des gesellschaftlichen Lebens angesprochen. Zentrale Frage aber ist, ob Südtirol aus medizinischer Sicht für die Phase 2 bereit ist. Wie gut ist der Sanitätsbetrieb für eine zweite Welle gerüstet, die mit den Lockerungen möglicherweise einhergehen könnte?

Das ist die Kernfrage, die wir uns gestellt haben. Der Fokus des Gesetzentwurfes liegt genau darauf: Es heißt nicht, “Jetzt legen wir los”, sondern wie schaffen wir es, unsere Gesundheit zu schützen, wenn wieder gearbeitet werden soll? Im gesamten Gesetz geht es um Schutzmaßnahmen, Regeln, Vorkehrungen. Vor allem geht es um Eigenverantwortung.
Man sollte den Menschen nicht vormachen, absolute Sicherheit garantieren zu können. Denn kein Staat der Welt wird seinen Bürgerinnen und Bürgern je eine absolute Dauergarantie für die Nichtansteckung geben können. Nicht einmal mit einem ewig dauernden Lockdown, der ebenso irreparable Schäden nach sich ziehen würde. Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen des Lockdown dürfen nicht unterschätzt werden. Der Impact dieser Krise wird vier bis fünf Mal jener der wirtschaftlichen Finanzkrise von 2008 sein. Das würde in Südtirol Tausende Konkurse und somit den Verlust von Zehntausenden Arbeitsplätzen bedeuten. Und jede Woche ist jetzt wirklich entscheidend. Jetzt, wo wir in einer Phase mit relativ wenigen Neuansteckungen und geringer Auslastung der Intensivbetten sind, müssen wir uns fragen, wie wir mit dem Virus leben können. Und damit komme ich zu Ihrer Frage zurück: Die wichtigste Voraussetzung bleibt die Disziplin der Bevölkerung. Die große Herausforderung für den Gesundheitsbetrieb wird sein, sehr genau zu beobachten und gegebenenfalls schnell zu intervenieren. Wir müssen es schaffen, durch die Testverfahren und ein Frühwarnsystem überall dort, wo etwas passiert, sofort eingreifen zu können. Ich kann mir gut vorstellen, dass eine ganze Fraktion oder ein ganzes Dorf, wo mehrere Fälle auftreten, sofort abgeschottet werden bis alle durchgetestet sind. Die Kapazitäten dafür haben wir inzwischen.

Der Südtiroler Sanitätsbetrieb ist imstande, diese Strategie, mit der unter anderem Südkorea erfolgreich fährt, zu gewährleisten?

Bei der Auslastung der Intensivbetten sind wir momentan auf der relativ sicheren Seite, wir haben jetzt Kapazitäten. Auf das Monitoring in Phase 2 bereiten wir uns gerade vor. Aus Entscheidungen, die ab 11., 20., 25. Mai greifen, könnten 14 Tage später erste Effekte entstehen. Bis dahin sind wir so weit. Klar ist, dass die Expertenkommission, die wir mit dem Landesgesetz einsetzen, aufgrund der Informationen aus dem Frühwarnsystem rasch Handlungsanleitungen geben wird.

Von der Entscheidung des Medienhaus Athesia lasse ich mich nicht beeinflussen, meine Unabhängigkeit ist mir etwas vom Wichtigsten

Sie appellieren immer wieder an die Eigenverantwortung der Bevölkerung. Dennoch gibt es weiterhin Verunsicherung, vor allem weil bereits jetzt von vielen die Vorgaben, etwa was das Tragen von Masken oder das Abstand halten betrifft, zu leichtfertig missachtet werden.

Da muss ich Ihnen leider recht geben, es sind derzeit zu viele. Das macht mir ganz offen Sorgen. Es geht nur, wenn die Leute die Botschaft ernst nehmen, dass in diesem Fall Freiheit mit individueller Verantwortung einhergeht. Aber ist die Eigenverantwortung tatsächlich so groß? Sind wir eine so reife Gesellschaft? Oder müssen wir zu diesem sehr kruden und rückständigen Mittel greifen und wieder alle einsperren? Denn das wäre die Alternative. Ja, ich mache mir wirklich Sorgen, ob wir es schaffen, dieses Verantwortungsbewusstsein überall ankommen zu lassen.

Für Sie steht fest: Es ist jetzt keine Rückkehr zur Normalität wie wir sie vor Corona gekannt haben. Aber vielfach kommt eine andere Botschaft an: Wir haben alles überstanden, machen wieder alles auf, deshalb wird alles wieder wie vorher.

Die Botschaft ist nicht von allen, aber von vielen leider falsch aufgenommen worden. Das Problem ist, dass viele Leute jetzt nur die Schlagzeile lesen – “am 16. Mai geht dieses und jenes wieder auf”. Dabei umfasst die Anlage zum Gesetz 40 Seiten und macht detaillierte Vorgaben. Zum Beispiel: welche Maske muss der Friseur tragen, welche die Kunden; dass desinfiziert werden muss, nachdem der Kunde den Salon verlassen hat. Aber das ist leider nicht angekommen. Was wiederum dazu geführt hat, dass nun viele meinen, ach, jetzt haben wir’s überstanden, und sich dementsprechend auch im Privaten verhalten. Wir sind uns in der Landesregierung einig, dass wir unbedingt darauf achten müssen, dass nicht falsche Botschaften hinausgehen. Wir müssen jetzt unbedingt die Kommunikation ganz klar ausrichten, den Menschen klar machen, es ist noch nichts überstanden. Es beginnt jetzt Phase 2, die Phase nach dem absoluten Notstand, jene des weiterhin bestehenden Gesundheitsrisikos, in der wir aber mit großen Sicherheitsvorkehrungen wieder anfangen können zu arbeiten und auch gesellschaftliches Leben wieder möglich zu machen. Schritt für Schritt. Das zu vermitteln ist die große Herausforderung.

In Phase 3 wird eine große Herausforderung sein, die Bevölkerung zu solidarisieren und aufzuzeigen, dass die Unterstützungen fair erfolgen werden

Werfen wir einen Blick zurück, auf die Phase 1 des absoluten Notstandes. “Den wahren Freund erkennt man in der Not”, lautet sinngemäß ein Spruch des römischen Dichters Quintus Ennius. Gilt er auch für den Landeshauptmann?

Die Frage überrascht mich… Ich versuche das auf die vergangenen Wochen zu spiegeln. Es war zu einem guten Teil zunächst schlicht und einfach ein Funktionieren im Krisenmodus. Ich nehme an, fast jeder Mensch kennt das aus dem Privaten, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat: Wenn der Schicksalsschlag eintritt, wenn etwas ganz Schlimmes passiert, dann funktioniert man einfach, trägt Sachen, von denen man wahrscheinlich außerhalb dieser Ausnahmesituation gesagt hätte, das geht nicht. Man fängt plötzlich an zu funktionieren und Dinge, die einen sonst im Leben aufhalten, stellt man beiseite. Was mich persönlich betrifft: Ich habe in dieser Situation für “Hakeleien”, Ressentiments und die Überlegung, “wie wird das jetzt ankommen, werden sie mich wegen dem wieder wählen?” schlicht und einfach weder die Zeit noch den Geist. Man denkt nur daran, was ist jetzt wichtig, was müssen wir tun und schauen wir, dass wir es gut hinkriegen. Das führt dazu, dass konzentrierter und auch schneller gearbeitet wird. Denn auch das Geplänkel, das es im politischen Leben unter Parteifreunden wie auch zwischen den Parteien gibt, ist einmal beiseite gelegt.
Dass man jetzt sagt, dass sich in dieser Situation die wahren Freundschaften nach außen kehren… Daran hat sich, glaube ich, nichts geändert. Es sind schon dieselben, die immer zu einem stehen. Aber in der Öffentlichkeit hat es enorme Stimmungsschwankungen gegeben in diesen Wochen. Ich selbst bin vermutlich ein paar Mal von einem recht geschätzten zum meistgehassten Politiker geworden, und umgekehrt. Da sind wir auch noch nicht durch. Diese Corona-Krise ist keine lineare Geschichte.

Dazu kommt ein weiteres Spannungsfeld: Wirtschaftsverbände haben recht rasch lautstark und öffentlichkeitswirksam ihre Anliegen und Forderungen vorgebracht. Andere haben keine so laute Stimme, machen sich aber genauso Sorgen um ihre Zukunft, ihre Existenz, ihre Familie. Wie wollen Sie dafür sorgen, dass auch für die Schwachen und Leisen der Schaden möglichst begrenzt wird?

Natürlich gibt es Druck von allen Seiten, momentan wieder stärker. Zu Beginn, Anfang März, wurden wir von Wirtschaftsseiten der Überreaktion bezichtigt, auch von der Tageszeitung Dolomiten. An die Schlagzeilen – “Überzogenes Dekret legt das halbe Land lahm”, “Vollkommen unverhältnismäßig”, “Panik ist unangemessen”  – erinnert sich jetzt plötzlich niemand mehr. Dabei hat es interessanterweise von vielen der betroffenen Wirtschaftstreibenden selbst relativ rasch ein gutes Einverständnis gegeben, als wir damals die Skilifte und die Hotels geschlossen haben. Danach kam plötzlich eine Phase, in der die Kritik war, wir machen zu wenig, testen zu wenig, sperren zu wenig zu – dieses Mal war es vor allem die Tageszeitung Alto Adige. Und jetzt ist die Kritik wieder umgeschlagen, von den Wirtschaftsverbänden hört man nur mehr “Aufsperren, macht alles auf!”.
Abgesehen davon, dass sich die Gewerkschaften und Familienverbände sehr wohl auch zu Wort gemeldet haben, denke ich schon, für uns in Anspruch nehmen zu können, dass wir uns dem Druck einzelner Interessensgruppen nicht gebeugt haben und stets das Ganze im Blick hatten. Bei den bisher getroffenen Maßnahmen hatten wir in ganz besonderer Weise die so genannten “Kleinen” im Kopf. Der allergrößte Teil des Geldes, das wir bisher in die Hand genommen haben, fließt in die Unterstützung von Familien, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und in soziale Maßnahmen. Ebenso betrifft auch ein beträchtlicher Teil unseres aktuellen Gesetzentwurfes die Frage der Kinderbetreuung. Wir wissen, dass die Familien unter der aktuellen Last leiden, vor allem die Frauen, wieder einmal. Die Vereinbarkeit ist neben dem Schutz der Gesundheit die große Herausforderung. Wir wissen, dass wir die Vereinbarkeit von Beruf und Familie seit Jahren und Jahrzehnten nicht zufriedenstellend schaffen – wie soll es also jetzt funktionieren, wo auch noch Schulen, Kindergärten und Kleinkinderbetreuung geschlossen sind? Dessen sind wir uns bewusst und haben in der Landesregierung klar gesagt: Schüren wir bitte nicht falsche Hoffnungen. Wir werden alles versuchen, um die Betreuung so gut wie möglich zu organisieren. Aber für alle zufriedenstellend werden wir es nicht hinbekommen. Wir haben diese Themen jedoch ganz stark auf der Agenda.

 

Ein Thema, das es aufzuarbeiten gilt, ist die so genannte “Masken-Affäre” um die Schutzausrüstung für medizinisches Personal, die das Land bzw. der Sanitätsbetrieb über die Firma Oberalp in China bestellt hat. Mehrere Gutachten haben Mängel festgestellt, Masken und Schutzanzüge wurden dennoch vom Sanitätsbetrieb ausgegeben. Sie persönlich haben Oberalp-Präsident Heiner Oberrauch angerufen und um Hilfe gebeten. War das ein Fehler?

Ich bin nicht selbst auf die Idee gekommen, Oberalp zu kontaktieren.

Oberrauch behauptet das in einem Interview.

Das Telefonat ist zustande gekommen, nachdem ich erfahren habe, die Oberalp hätte die Möglichkeit, in China Schutzkleidung zu besorgen.

Worum ging es in dem Telefonat zwischen Ihnen und Heiner Oberrauch?

Ich habe gesagt, super, wenn ihr uns helfen könnt. Der Ankauf von Schutzmasken und -kleidung mithilfe eines Unternehmens, das Kontakte in China hat, war zu diesem Zeitpunkt nichts Außergewöhnliches. Das haben die meisten europäischen Länder so gemacht. Denn anders hatte man keine Chance, an Ausrüstung zu kommen. Der italienische Zivilschutz konnte damals leider nicht genug liefern, wir hatten damals fast nichts. Wir haben uns deshalb bemüht, selbst Schutzkleidung zu erwerben, genauso wie andere eben auch. Oberalp hat signalisiert, Kontakte zu haben. Thema beim Telefonat war auch das Problem, dass vom chinesischen Lieferanten Vorauskasse verlangt wurde, so wie das in China allgemein üblich ist.

Ein Gesetzesdekret vom 2. März erlaubt es öffentlichen Verwaltungen ausdrücklich, bis zu 100 Prozent der Zahlungen für Schutzausrüstung im Voraus zu begleichen.

Diese Möglichkeit sahen wir für unseren Gesundheitsbetrieb damals nicht. Heiner Oberrauch war in dieser Situation auch bereit, die Vorauszahlung zu übernehmen, wollte aber selbstverständlich sicher gehen, dass er danach nicht auf der Ware sitzen bleiben würde. Ich habe ihm geantwortet, der Gesundheitsbetrieb wird ihm sicher einen schriftlichen Auftrag geben – denn er kauft die Ware ja für uns. So ist es auch gekommen. Ein Unternehmen hat in einer Ausnahmesituation eine Hilfestellung geleistet. Es wäre unfair, diesem jetzt einen Vorwurf zu machen. Denn Oberrauch hatte gar nichts von dem Auftrag – möglicherweise hat er jetzt sogar einen Imageschaden…

Sehen Sie in der ganzen Geschichte keine Verfehlungen?

Als die Lieferung da war, haben sich alle gefreut, dass uns das gelungen war, denn es war wirklich nicht leicht. Der Punkt aber ist: In dem Moment, wo Zweifel aufgetreten sind, ob ein Teil der Schutzmasken tatsächlich den erhofften und erwarteten Qualitätskriterien entsprechen, hätte man nicht nur den Mitarbeitern im Sanitätsbetrieb sagen müssen, passt auf, verwendet sie nur für bestimmte Zwecke, sondern man hätte unbedingt auch  die Öffentlichkeit darüber in Kenntnis setzen sollen, dass ein Teil der Lieferung nur beschränkt einsetzbar ist. Dann hätte es weder irgendwelche Verschwörungstheorien noch große Diskussionen gegeben. Im Nachhinein betrachtet war das ein Fehler.

Aufgrund der fehlenden öffentlichen Kommunikation ist ein falscher Eindruck entstanden – aus meiner Sicht der Fehler, aus dem man auch lernen muss

Wann haben Sie von den Mängeln erfahren?

Es gab ganz am Anfang einmal ein Telefonat, in dem es hieß, es gebe bei bestimmten Masken ein Qualitätsproblem. Auf meine Nachfrage nach ein paar Tagen hieß es, das Problem sei überwunden. Von dem oft zitierten negativen Gutachten habe ich selbst erst von salto.bz erfahren. Mit Qualitätsmängeln bei Schutzmasken aus China haben eine Vielzahl von Ländern Probleme – und wir eben auch. Das hätte man nicht nur im Betrieb mitteilen sollen, sondern gleich auch der Öffentlichkeit. An der Sache hätte das ja nichts geändert, aber an der öffentlichen Meinung über die Sache sehr wohl. Aufgrund der fehlenden öffentlichen Kommunikation ist ein falscher Eindruck entstanden. Das ist aus meiner Sicht der Fehler, den man gemacht hat und aus dem man auch lernen muss.

Wenn Sie sagen “man” fällt als einer der ersten Namen jener von Florian Zerzer ein. Sie haben den Generaldirektor des Südtiroler Sanitätsbetriebs öffentlich bisher stets in Schutz genommen. Als sich der Sanitätsbetrieb bzw. das Land 2018 vom damaligen Generaldirektor Thomas Schael trennte – ausschlaggebend war die zu spät erfolgte Haftpflichtversicherung des Sanitätsbetriebs und des Personals – hieß es: “Durch das Verhalten des Generaldirektors (…) könnte der Grundsatz der Unparteilichkeit und der guten Verwaltung beeinträchtigt werden, was zu einem Vertrauensverlust der Bevölkerung in das öffentliche Gesundheitswesen führt.” Diese Prämisse könnte doch auch nach dem aktuellen Vorfall als Grund für eine ebenso “einvernehmliche Trennung” mit dem derzeitigen Generaldirektor gelten. Wird das passieren?

Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich vieles an Herrn Schael sehr geschätzt habe. Er hat in vielen Bereichen gute Arbeit geleistet. Es hat dann zunehmend starke Differenzen gegeben, insbesondere in der Führung. Herr Schael hatte den Rückhalt im Betrieb verloren. Die Versicherungsgeschichte hat quasi das Fass zum Überlaufen gebracht. Aber das war nicht in einer Krisensituation, wie wir sie jetzt haben. Aufgrund dieser Pandemie müssen die Task Force und in erster Linie der Generaldirektorjeden Tag Hunderte Entscheidungen treffen, die von einer enormen Tragweite und Verantwortung sind. Ein Landeshauptmann sollte sich hinter jene stellen, die jeden Tag diese große Verantwortung übernehmen. Es wird oft so getan, als ob der Ankauf dieser Schutzausrüstung eine falsche Entscheidung gewesen wäre. Dabei war der Ankauf für den Schutz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitsbetrieb geradezu lebensnotwendig und deshalb völlig richtig. Der Untersuchungsausschuss im Landtag ist genau das richtige Instrument dafür, das alles genauestens nachzuvollziehen.

Wobei unter dem Ärzte- und Pflegepersonal sehr wohl bereits jetzt Unmut über die Führungsspitze des Sanitätsbetriebs und der Task Force herrscht und Vertrauen verloren gegangen ist.

Es stehen alle unter enormem Stress. Unter diesem Druck hat es natürlich mit Sicherheit auch Situationen gegeben, wo der eine oder der andere unzufrieden mit dem war, was der jeweils andere getan hat. Außerdem kann man wahrscheinlich bei jeder Entscheidung sagen, es gäbe auch Alternativen. Aber insgesamt kann man dem Gesundheitsbetrieb, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, aber auch der Führungsspitze für das, was sie geleistet haben, ein sehr gutes Zeugnis ausstellen. Sie haben einen exzellenten Job gemacht, das beweisen auch die Zahlen. Und später, ja, wird man irgendwann feststellen, das eine hätte man noch besser machen, das andere hätte man früher machen können, mit jenem hätte man etwas warten sollen... Für uns alle ist das Neuland und erstmalig. Aber kein Gesundheitsbetrieb der Welt wird am Ende feststellen, dass alles von Anfang an perfekt gelaufen ist.

 

Stichwort “später”: Medien wurde in den vergangenen Wochen vonseiten der Bürger öfters nahegelegt, zum Wohle des sozialen Friedens im Land mit kritischer Berichterstattung über Verfehlungen beim Krisenmanagement zuzuwarten – Stichwort “Masken-Affäre”. Hätten Sie sich auch gewünscht, dass gewisse Artikel nicht erschienen wären?

Nein, ich hätte mir nur gewünscht, dass es gelungen wäre, von vornherein angemessen darauf zu reagieren und angemessen damit umzugehen. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass die Entscheidungen in dieser Situation absolut richtig waren. Im Gegenteil, es ist lobenswert, dass die Leute den Mut hatten, die Entscheidungen zu treffen.

In den Dolomiten wurden Sie wochenlang in die Ecke gedrängt, sowohl in der Berichterstattung als auch mit Leitartikeln, in denen von den verantwortlichen Politikern mehr Mut, einen eigenen Weg einzuschlagen, gefordert wurde. Haben Sie sich davon in Ihren Entscheidungen irgendwie beeinflussen lassen?

Nein. Ich sehe das inzwischen relativ gelassen. Das ist ja nicht erst seit der Corona-Krise so, sondern seit mehreren Jahren. Diese Tageszeitung hat so entschieden, das ist Blattlinie. Ich kann damit leben. Es ist eine von einem privaten Unternehmen herausgegebene Zeitung und wie ich feststelle, kommt meine Politik wahrscheinlich dort nicht so gut an. Den Grund dafür weiß ich nicht. Vielleicht findet man mich nicht so fotogen oder nicht so berichtenswert (lacht). Aber deswegen ändere ich meine Politik weder in die eine noch in die andere Richtung. Ich mache weiterhin das, was ich für richtig halte.

Wir müssen jetzt unbedingt die Kommunikation ganz klar ausrichten, den Menschen klar machen, es ist noch nichts überstanden

Während Sie meist nur in einem Nebensatz erwähnt werden, bekommt Landesrat und SVP-Obmann Philipp Achammer große Sichtbarkeit auf Dolomiten-Titelseiten, -Schlagzeilen und -Artikeln. Außerdem werden seine Facebook-Live-Statements regelmäßig auf dem Athesia-Onlineportal übertragen. Wie sehr ärgert Sie dieses Ungleichgewicht zwischen Ihrer eigenen medialen Präsenz und die Ihres Nebenbuhlers?

Ich würde nicht von Nebenbuhler sprechen – es geht ja nicht um Liebe (lacht). Nein, der Kollege Achammer kommt bei diesem Medienhaus eben besser an und wird entsprechend prominenter gebracht. Noch einmal: Das ist die Entscheidung des Medienhauses. Dann soll sich jeder seine eigene Meinung darüber bilden, ob die Gewichtung richtig und die Berichterstattung somit ausgewogen ist oder nicht. Es ist ein privates Medienhaus, das eine Zeitung herausgibt. Ich werde weder darum betteln, mehr vorzukommen, noch deswegen irgendjemanden benachteiligen oder bevorzugen. Damit kann ich leben. Und ja, wir haben in Südtirol eine Medienlandschaft, die sehr stark vom Medienhaus Athesia dominiert wird. Damit ist die Wirkung dieser Entscheidung natürlich relevant. Aber davon lasse ich mich nicht beeinflussen. Meine Unabhängigkeit ist mir etwas vom Wichtigsten.

Und es stört Sie nicht, dass Philipp Achammer regelmäßig nach oder bisweilen sogar vor Ihren offiziellen Medienkonferenzen seine eigenen Live-Statements über Facebook abgibt – und überhaupt seine gesamte politische Kommunikation komplett über Facebook abzuwickeln scheint?

Ich denke, es war bei ihm der Wille ganz stark, als Wirtschafts- und Bildungslandesrat die Betroffenen zu informieren. Philipp Achammer hat das mit den Instrumenten, die heute zur Verfügung stehen, sehr gut gemacht und auch viele Leute erreicht. Zugleich hat er sich damit auch sehr exponiert und sich der Gefahr ausgesetzt, einen Shitstorm abzubekommen. Aber das hat der Philipp so entschieden und mit einem großen Arbeitsaufwand betrieben. Das muss man auch anerkennen. Für mich war es von Anfang an klar, in erster Linie öffentliche und öffentlich-rechtliche Kanäle zu verwenden. Ich habe bewusst meine Facebook-Seite selten für Corona-Botschaften verwendet. Die wenigen Posts, die ich zu Corona gemacht habe, waren eher an die Seele der Menschen gerichtet, persönliche Gedanken. Für die Information habe ich auf die Landespresseagentur und die Landesmedienkonferenzen gesetzt – auch, weil ich glaube, dass der Landeshauptmann das so machen sollte und dass damit einhergehend die Sachlichkeit der Information gestärkt wird. Was nicht heißt, dass deswegen ein Landesrat nicht etwas anderes oder zusätzlich machen kann. Das eine schließt das andere nicht aus. Aber ich denke, für den Landeshauptmann war die Entscheidung richtig, nicht zusätzlich auf halböffentliche Kanäle zu setzen.

Mit dieser Krise ist  ein völlig anderes Bewusstsein dafür entstanden, dass vieles nicht mehr hätte langfristig so funktionieren können

Wie sehr haben Sie in dieser Corona-Krise Ihre Partei, die SVP hinter sich?

Ich glaube, es gibt in der Partei doch eine relativ große Anerkennung für die Arbeit, die die Landesregierung derzeit macht. Das spüre ich zumindest dank der sehr vielen täglichen Rückmeldungen. Ich nehme eine erstarkte Corporate Identity in der Südtiroler Volkspartei wahr, man ist sich bewusst, Regierungsverantwortung getragen – und auch richtig getragen – und sehr viel Last übernommen zu haben. Und es sind doch einige Dinge sehr gut gelungen. Natürlich, wir sind kein Staat und der Unterfertigte ist kein Bundeskanzler oder Premierminister, sondern eben Landeshauptmann einer Autonomen Provinz. Dennoch bin ich überzeugt, dass wir letztlich besser als andere Regionen durch die Krise kommen werden. Es wird auch für uns eine extrem schwere Zeit. Aber wir werden sie meistern.

Anfang April hat die Landesregierung rasche, unbürokratische Hilfe versprochen. Knapp einen Monat später ist bei vielen diese Hilfe nicht angekommen. Was sagen Sie diesen Menschen?

Stimmt. Das ist etwas, was mich furchtbar ärgert. Wir waren überzeugt, dass die Dinge in der Umsetzung schneller ankommen. Und zwar deshalb, weil wir uns mit allen beteiligten Partnern – das sage ich jetzt ohne Schuldzuweisungen – über den Zeitplan für das Anlaufen der Hilfsmaßnahmen einig waren. Natürlich geht man anschließend in die Medienkonferenz und verkündet, ab nächsten Montag kann angesucht werden. Und dann gibt es bei den Menschen die große Enttäuschung, wenn sie beim Bankschalter oder bei der zuständigen Verwaltung die Rückmeldung kriegen, man wisse noch von nichts. Beim Lohnausgleich ist es schon ärgerlich, dass man bei den zuständigen staatlichen Stellen nicht imstande war, die ein, zwei Hürden, die man von vornherein kannte, zeitgerecht aus dem Weg zu räumen. Inzwischen warteten Abertausende Menschen auf das Geld. Bei den Bankprodukten hat man, glaube ich, die Startschwierigkeiten inzwischen überwunden und bei den Kapitalbeiträgen hingegen stimmt es nicht, dass die Auszahlung erst Mitte Juni erfolgen würde. Mir wurde versichert, dass die Überweisung auf das Konto für die Unternehmen noch innerhalb Mai erfolgt. Ja, es wäre super gewesen, wenn von Anfang an alles schneller gegangen wäre.

#südtirolhältzusammen – mit diesem Slogan wurden die Menschen im Land bisher auf Einigkeit und Geduld eingeschworen. Der Zusammenhalt ist nach wochenlangen Einschränkungen schwer vermittelbar und bröckelt bereits. Wie wollen Sie das Land weiterhin zusammenhalten?

Hätten Sie zum Schluss nicht eine einfachere Frage? (lächelt) Nein, es stimmt, man merkt jetzt die Spannungen. Angst, Aggressivität, Denunziantentum und Frust haben zugenommen. Albert Camus beschreibt, wie die guten und die schlechten Eigenschaften während einer Epidemie stärker zutage treten. Das spürt man jetzt auch in Südtirol. Ein spaltendes Thema ist die Frage, wie schnell man wieder aufmachen soll. Da gilt es, den gesunden Mittelweg zu finden, der sagt Ja, Wiederaufnahme des Lebens, aber in Sicherheit und mit Vorkehrungen. Der richtige Weg liegt in der Mitte.
Die nächste Frage ist, was passiert in Phase 3, wenn die Folgen der Krise langsam spürbar werden. Denn die wirtschaftlichen Folgen – das wird sehr oft unterschätzt – werden wir nicht in erster Linie heuer spüren, sondern nächstes und übernächstes Jahr. Dort werden leider viele Menschen ihre Arbeit verlieren und Betriebe schließen. Das ist Tatsache. Denn ganz Europa, die ganze Weltwirtschaft wird in eine tiefe Krise stürzen. Dann wird der große Streit losgehen, der Verteilungskampf. Es wird eine große Herausforderung, die Bevölkerung zu solidarisieren und aufzuzeigen, dass die Unterstützungen fair erfolgen werden. Viele Zukunftsforscher meinen, dass wir als Gesellschaft gebessert aus dieser Krise hervorgehen werden. Das lasse ich einmal dahingestellt. Es gäbe die Chance dazu. Ich bin grundsätzlich jemand, der das Glas halb voll sieht und hoffe immer noch, dass es in Südtirol gelingt, nach der Krise unsere Lebensqualität und die wiedererlangte Freiheit mehr zu schätzen, zu verstehen, wie schön es ist, ohne Sorgen einen Spaziergang machen oder gemeinsam ein Glas Wein trinken zu können, die Gemeinschaft wieder zu spüren. Darauf hoffe ich immer noch. Aber selbstverständlich ist es nicht. Es wird nicht unweigerlich so sein. Es liegt an uns.

Können wir nicht auch sagen, “es ist für uns nicht mehr in Ordnung, was Rom uns aufoktroyiert”, ohne dass man gleich denkt, da würden jetzt Bataillone in Salurn aufmarschieren?

Dieses Virus hat uns gnadenlos Grenzen aufgezeigt, die wir immer schon erahnt haben haben – Stichwort: wirtschaftliche Abhängigkeiten. Hans Heiss hat bereits vor einigen Wochen gesagt: “Vorerst ziehen wir keine Lehren, sondern schärfen das Bewusstsein für die Tatsache: Es gibt kein Weiter-So, denn zu vieles steht auf dem Prüfstand.” Stimmen Sie dem zu, sagen Sie, es braucht eine neue Vision für das Land, für die Zukunft?

Die Erkenntnis, dass es eine Neuausrichtung braucht, hatten wir schon vorher. Deshalb haben wir ja auch begonnen, in allen Aktionsfeldern der Landesverwaltung den Wandel hin zur Nachhaltigkeit einzuläuten. Jetzt, mit dieser Krise, ist natürlich ein völlig anderes Bewusstsein dafür entstanden, dass vieles nicht mehr hätte langfristig so funktionieren können: Abhängigkeiten, die aus der Globalisierung entstanden sind, die Frage, ob es regionale Kreisläufe wirklich gibt, wie steht es um die Kreislaufwirtschaft, wie um die Solidarität in der Gesellschaft und vor allem wie um die Bewahrung des Ökosystems? Diese Krise wirkt sicherlich als Beschleuniger in der Bewusstseinsbildung. Es braucht keinen Fatalismus, sondern eine gemeinsame gesellschaftliche Anstrengung, die ich nicht nur als Herausforderung sehe, sondern als Riesenchance. Allein das Arbeiten am Projekt “neue Zukunft” kann uns schon Lebensqualität bringen, weil es gemeinschaftsstiftend sein kann. Wenn wir uns hinter dem Projekt einen und es nicht in die Zukunft verschieben – “irgendwann wird die Welt dann gut sein, inzwischen müssen wir leiden und verzichten”. Wenn es gelingt, eine Vision von einem Neuaufbruch zu entwickeln, die breit getragen ist, einen anderen Aufbruch, kann schon allein die darauf ausgerichtete Arbeit sinnstiftend sein. Es wäre schön, wenn wir das hinbekämen.