Chronik | Gastkommentar

In dubio pro Postwachstum

Unser Wirtschaftssystem überschreitet planetare und menschliche Grenzen. Die Frage nach der Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum ist schlussendlich eine Wertefrage.
Wachstum
Foto: Stanislav Kondratiev on Unsplash

Italiens Overshoot Day – der Tag, an dem die italienische Nachfrage nach Rohstoffen die Kapazität der Erde zur Wiederherstellung dieser Ressourcen in diesem Jahr übersteigt – ist mittlerweile der 14. Mai. Dazu kommt die wissenschaftliche Erkenntnis, dass bis 2050 der weltweite CO2-Ausstoss gänzlich eingestellt werden müsse, um einen für die Menschheit lebensfähigen Planeten zu erhalten. Dies wird in einem auf Wirtschaftswachstum ausgelegten System jedoch nicht möglich sein.

Massgeblich verantwortlich für den global steigenden CO2-Ausstoss und den zunehmenden Ressourcenverbrauch ist letztlich exponentielles Wirtschaftswachstum, gemeinhin gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Staates. Die Steigerung dieses Masses ist weiterhin das (wirtschafts-)politische Ziel. Doch seit ein gewisser BIP-Wert in den 1970er Jahren erreicht worden ist, korreliert dessen Steigerung in Industrieländern nicht mehr mit subjektivem Wohlbefinden[1], sehr wohl jedoch mit Ressourcenverbrauch sowie mit dem globalen CO2-Ausstoss.

Es gibt bis heute keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass die Wirtschaft bei gleichzeitiger Senkung des Ressourcenverbrauchs weiterwachsen könne.

Etwa zur gleichen Zeit als das subjektive Wohlbefinden in Industrieländern nicht mehr stieg, wies der «Club of Rome» in seiner Studie über «Die Grenzen des Wachstums» von 1972 darauf hin, dass unendliches (Wirtschafts-)Wachstum auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen nicht möglich ist. Und tatsächlich gibt es bis heute keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass absolute Entkopplung des BIP-Wachstums vom Ressourcenverbrauch möglich ist; sprich, dass die Wirtschaft bei gleichzeitiger Senkung des Ressourcenverbrauchs weiterwachsen könne. Bisher ist nur relative Entkopplung nachgewiesen (Ressourcenverbrauch wächst langsamer als das BIP). Verfechter eines «Grünen Wachstums» meinen, dass man durch Innovation und technischen Fortschritt Effizienzsteigerungen ermöglichen könne, die es erlauben würden, Ressourcen- und CO2-Verbrauch vom BIP absolut zu entkoppeln – sodass Wirtschaftswachstum innerhalb planetarer Grenzen möglich sei. Obwohl die CO2-Intensität des globalen BIP sinkt[2], steigen globale Emissionen weiterhin an: Effizienzsteigerungen werden durch Wirtschaftswachstum überkompensiert. Auch wenn die CO2-Emissionen theoretisch absolut vom BIP entkoppelt werden könnten, gilt dies nicht für den Ressourcenverbrauch, von dem selbst eine CO2-neutrale wachsende Wirtschaft abhängig ist. Diese Tatsachen lassen das postulierte «Grüne Wachstum» ins Leere laufen.

Auf die Realisierung absoluter Ressourcen- und CO2-Entkopplung zu spekulieren ist deshalb gefährlich, da es die Dringlichkeit der ökologischen Krise ignoriert. Wie der Weltklimarat aufzeigt, müssen globale Emissionen bis 2050 auf Null sinken, damit globale Temperaturen um nicht mehr als 1,5°C ansteigen. Damit dieses Ziel ohne negative Emissionstechnologien, die CO2 aus der Atmosphäre entziehen, erreicht werden kann, ist ab 2019 im Durchschnitt eine CO2-Reduktionsrate von circa 7% pro Jahr[3] erforderlich. Unter der Annahme, dass das BIP um 3% pro Jahr wächst und die Bevölkerung um 1%, muss die CO2-Intensität des BIP jährlich um etwa 11% sinken. Würde das BIP allerdings um 3% pro Jahr abnehmen, so müsste die CO2-Intensität um «lediglich» etwa 5% pro Jahr sinken – ein bedeutender Unterschied, der für das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels ausschlaggebend sein kann. Ohne Einsatz von negativen Emissionstechnologien, deren Skalierbar- und Wirtschaftlichkeit überdies ungewiss ist, steht fest: Die Senkung des CO2- und Ressourcenverbrauchs, um sicher das 1,5°C-Ziel zu erreichen, würde wegen zu schwacher Entkopplung zu einer Abnahme des BIP führen; dies erleichtert den notwendigen Klimaschutz enorm. In einer weiter ungebremst wachsenden Wirtschaft, die bereits jetzt planetare Grenzen sprengt, auf technologische Innovationen zu spekulieren, ist ethisch nicht vertretbar und widerspricht dem Vorsorgeprinzip.

Die Frage nach der Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum ist schlussendlich eine Wertefrage.

Unser Wirtschaftssystem überschreitet jedoch nicht nur planetare, sondern auch menschliche Grenzen: Mit dem Wachstum nehmen ständig auch Leistungsdruck, Konkurrenz und Streben nach Symbolgütern zu, was sich in steigenden Raten psychologischer Erkrankungen widerspiegelt. Postwachstumsvertreter plädieren deshalb für institutionelle Reformen, die die Lebensqualität unabhängig des BIP sichern, zum Beispiel durch Arbeitszeitverkürzungen, ein bedingungsloses Grundeinkommen und die Einführung von Konsumsteuern.

Die Frage nach der Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum ist schlussendlich eine Wertefrage. Denn wenn wir uns in dem politischen Ziel einig sind, die globale Erwärmung auf möglichst 1.5°C zu beschränken – und schliesslich hat Italien das Pariser Klimaabkommen mit diesem Ziel ratifiziert –, dann haben wir die Verpflichtung, Wirtschaftswachstum als gesellschaftspolitisches Ziel zu hinterfragen und Postwachstumsalternativen unmittelbar in den gesellschaftlichen Fokus zu rücken.



Quellen
[1] Auch bekannt als ‘Easterlin-Paradox’, da Easterlin der Verfasser der 1974 veröffentlichten Studie ist.
[2] Jackson, R.B. et al. (2018). Global energy growth is outpacing decarbonization. Environmental Research Letters, 13.
[3] Hickel, J. and Kallis, G. (2019). Is green growth possible? New Political Economy.

 

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manuel frank Fr., 15.05.2020 - 09:14

eine verkürzte Darstellung unserer Probleme, warum wir ständiges Wachstum benötigen kann nicht ohne Verweis auf die Geldpolitik geschehen. In unserem Schuldgeldsytem entsteht Geld aus Krediten/Schulden und um diese Kredite + Zinsen bedienen zu können braucht es Wachstum das wiederum durch Schulden finanziert wird. Wir haben ein System erdacht das als einziges Ziel die vermehrung von Kapital kennt, das dieses System zwangsläufig in die Krise führt sollte jedem Auffallen. Leider wird dieser Zustand aber als "alternativlos" erhalten. Eine Wirtschaft ohne Wachstum kann nur funktionieren wenn wir auch die Finanzwirtschaft neu denken.

Fr., 15.05.2020 - 09:14 Permalink
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Karl Trojer Sa., 16.05.2020 - 10:20

"Eine Wirtschaft ohne Wachstum kann nur funktionieren, wenn wir auch die Finanzwirtschaft neu denken" ...., "die Lebensqualität (ist) unabhängig des BIP (zu) sichern, zum Beispiel durch Arbeitszeitverkürzungen, ein bedingungsloses Grundeinkommen und die Einführung von Konsumsteuern" , und "die Frage nach der Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum ist schlussendlich eine Wertefrage" , diese Vorschläge erscheinen auch mir als sinnvoll und notwendig. Als Voraussetzung dafür sehe ich eine unerlässliche Bewusstseinänderung bei uns Menschen, weg vom "immer mehr und immer schneller", weg vom Wegwerf-Konsum, hin zu einer Lebensqualität bei der der physische Lebensbedarf (Nahrung, Wohnen) abgedeckt wird und gute zwischenmenschliche Beziehungen vorrangig werden, eine die den Frieden sichert, die Würde des einzelnen Menschen von fremdbestimmten Bewertungen befreit und die Menschheit nicht weiterhin als Summe von Individuen, sondern als einen lebendigen Organismus versteht, dessen Zellen wir sind.

Sa., 16.05.2020 - 10:20 Permalink
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Michael Bockhorni Sa., 16.05.2020 - 11:54

ich stimme zu, wo es um Ressourcenverbrauch, Umweltbelastung, den Zusammenhang von BIP und Wohlbefinden geht. Was mir allerdings in der ganzen Post Wachstumsdebatte fehlt, ist wie eine sozial gerechte Politik mit stagnierendem oder schrumpfendem BIP und somit stagnierenden und sinkendem Steueraufkommen aussehen wird. Die Antwort auf diese Frage wird uns weltweit in den nächsten Jahren begleiten und ich hoffe sie wird nicht wie in den vergangenen Krisenjahren eine von Sparpaketen auf dem Rücken der sozial Schwachen sein.

Sa., 16.05.2020 - 11:54 Permalink
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Karl Trojer Sa., 16.05.2020 - 19:02

Antwort auf von Michael Bockhorni

Ich denke, dass eine sozial gerechte Politik nicht über steigende BIP- Ergebnisse finanziert werden kann, da ich darin einen Widerspruch an sich sehe, sondern vielmehr durch eine Änderung unseres Wirtschaftssystems, weg vom "immer mehr und immer schneller" , hin zu einer gerechteren und ökologisch zukunftsfähigen Einkommensverteilung.

Sa., 16.05.2020 - 19:02 Permalink