Gesellschaft | Gastbeitrag

Der Preis übertriebener Schutzmaßnahmen

Warum schreibe ich diesen Text? Weil mir die Traurigkeit und Verzweiflung meiner Freunde und Bekannten nicht gleichgültig sind.
Pflege
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Ja, ich nehme das Risiko in Kauf! Mir von Vertretern anderer Ansichten vorwerfen zu lassen, ich hätte keine Ahnung, es mangle mir an fachlichem Wissen oder ich dränge mich in den Vordergrund. Denn hier geht es nicht um mich.  

Aber ich möchte auf diesem Weg eine gesellschaftlich auffallend benachteiligte Klientel fokussieren, der kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird. Und interessanterweise ist es eine Klientel, die ihre Stimme selbst nicht erheben kann. Sie braucht einen Fürsprecher, um beachtet zu werden, damit sie in der großen Masse nicht gänzlich untergeht. Ich spreche hier von den zahlreichen Menschen jeder Altersklasse, die südtirolweit in den verschiedensten Pflegeeinrichtungen untergebracht sind. Viele aufgrund ihres Alters, andere in Folge schwerwiegender Erkrankungen, u.a. Schlaganfall, Koma- und Wachkoma-Patienten.

Über drei Monate in einem Zimmer isoliert, ohne Sonne, frische Luft und sozialen Kontakt. Das klingt wie Einzelhaft.

Groß war die Erleichterung seitens ihrer Angehörigen, als nach über drei Monaten Kontaktverbot und Lockdown medial verkündet wurde: „Die Heime sind wieder zugänglich!“ Doch die anfängliche Freude war, angesichts der ernüchternden Realität, von kurzer Dauer. Außerhalb dieser Einrichtungen begegnen sich die Menschen längst wieder, reichen einander die Hände, und, je nach Familienkonstellation, umarmen sich und mehr. Für die Partner und Familienmitglieder der Heimbewohner ist diese Vorstellung ein Wunschdenken. Sie müssen ihren Besuch anmelden, bekommen dann einen Termin, der ihnen eine 40-minütige Besuchszeit erlaubt. Diese dürfen sie hinter einer Glastrennwand absitzen, die sie von dem Menschen, weswegen sie gekommen sind, trennt. Da ist die Ehefrau, die ihren Mann im Wachkoma nach über drei Monaten erstmals wiedersieht. Vor Corona war sie täglich da, hat mit ihm geredet, ihn umsorgt, war mit ihm im Garten, an der frischen Luft. Dann ist die ihm vertraute Stimme mit einmal verschwunden, mit ihr die Berührung und all das, was Partner selbst in Ausnahmesituationen verbindet. Und da ist der Sohn, der seine Mutter, die nach einem Schlaganfall im Pflegeheim lebt, nach so langer Zeit endlich wieder sehen möchte. Auch er steht oder sitzt hinter der dicken Glasfassade, die weder eine verbale Verständigung, einen Gruß, eine Berührung oder Geste der Zuneigung ermöglicht. Über drei Monate in einem Zimmer isoliert, ohne Sonne, frische Luft und sozialen Kontakt. Das klingt wie Einzelhaft. Vor allem, wenn der Betroffene die plötzliche Einsamkeit nicht versteht. Dann erfolgt das langersehnte Wiedersehen – überschattet von einer demütigenden Ernüchterung: Wenn sich der Heimbewohner mit einmal wie ein Ausstellungstück fühlt, das schweigend betrachtet werden darf. Selbst die Grüße vom Partner, dem Kind oder Haustier überbringt das Pflegepersonal, sie dürfen sogar die längst überfällige Umarmung übernehmen.

Schutzmaßnahmen sind ok – aber mit Herz, Einfühlungsvermögen und Verstand – nicht um jeden Preis!

Warum schreibe ich das? Weil mir die Traurigkeit und Verzweiflung meiner Freunde und Bekannten nicht gleichgültig sind. Sie sind betroffen, aber niemand fühlt sich ihnen gegenüber verpflichtet. Sie leiden, und das tut mir weh. In diesen Momenten spüre ich ihre Hilflosigkeit, und ja, es macht mich wütend. Weil hier Gefühle missachtet und mit Füßen getreten werden. Auch Schutzmaßnahmen müssen ihre Grenzen haben, gemessen an dem Verhältnis, in dem sie stehen. Weder ein alter noch ein kranker Mensch möchte zwangsisoliert in die Vereinsamung abrutschen, der Preis für dieses Angstverhalten ist zu hoch. Depressionen und psychische Erkrankungen werden die Langzeitfolgen dieser totalen Isolation sein. Allein die Tatsache, dass bei einem Koma-Patienten keine Suizidgefahr bestehen kann, ist keine Rechtfertigung.

Und, mit Verlaub, ich weiß wovon ich spreche. Als ehemalige Koma-Patientin kenne ich dieses Gefühl der Verlassenheit und Einsamkeit, es verändert die Menschen. In meinem Buch berichte ich ungeschönt und offen über dieses Problem, das ich im Rahmen meiner Veranstaltungen auch stets mit meinem Publikum thematisiere. Nein, ich spreche mich weder gegen Schutzmaßnahmen noch gegen Sicherheitsvorkehrungen aus. Aber übertriebener Hysterie, Panikmache und sinnlosen Verboten kann ich nichts abgewinnen. Schutzmaßnahmen sind ok – aber mit Herz, Einfühlungsvermögen und Verstand – nicht um jeden Preis!