Gesellschaft | SANITÄTSBETRIEB

Odyssee Letzte Hilfe

Wie eine durchgemachte Nacht zu zwei Stichen führte - oder umgekehrt
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

In einem unfreiwilligen Selbstversuch musste ich am 24.09.2020 und durch die darauffolgende Nacht hindurch erleben, wie unglaublich wirkungslos die Erste Hilfe im Bozner Krankenhaus bei Nacht dasteht. Als ich gegen 19 Uhr dort ankam, um eine kleine Wunde nähen zu lassen, welche mein Hausarzt nicht behandeln konnte, war die Erste Hilfe gut gefüllt. Das hat mich nicht weiter überrascht. Doch im Laufe des Abends und der Nacht kamen immer mehr Fälle dazu und zeitweise waren an die 35 Patienten vor Ort. Während das Personal immer weniger wurde und Jung und Alt auf Stühlen und Liegen in der Triage verstreut herumsiechten - anwesendes Personal professionell bemüht, zu retten, was zu retten war - verließen immer mehr Hilfesuchende frustriert den systematisch todgesparten Nachtdienst unverrichteter Dinge. 

Stur wie Kleists Michael Kohlhaas - wenn auch deutlich friedfertiger - auf mein Recht beharrend, und mit jeder Stunde interessierter, wo mich meine Reise letztlich hinführen wird, wartete ich auf den dafür nicht ausgelegten Wartesaalsesseln und beobachtete das Geschehen um mich herum. Schon bald waren die Schmerzen vom ewigen Sitzen die größere Pein als das eigentliche Problem, weshalb ich die Notaufnahme ursprünglich aufgesucht hatte. Diese Nacht hatte mich nun aber schon unweigerlich vom Patienten zum Beobachter verwandelt, weshalb ich den Ort nicht mehr verlassen konnte. Und als Beobachter mit viel Zeit bekommt man so einiges mit.

Ich denke da an die Mitarbeiter der Ersten Hilfe im Nachtdienst, welche aufgrund der gegebenen Dienstpläne im schlimmsten Fall zwischen Patienten wie in einem Feldlazarett auswählen müssen, weil nicht alle behandelt werden können. Dass es dabei nach Dringlichkeit gehen muss, ist für mich schon klar und ich nehme meinen persönlichen Fall jetzt auch komplett aus der Diskussion heraus. Aber dass das wenige Personal in der Triage nicht laufend den Gesundheitszustand von 35 Patienten einschätzen und ggf. zeitnah den aktuellen Zuständen entsprechend neu bewerten und neu priorisieren kann, muss wohl auch klar sein. Das ist nur all zu menschlich.

Unmenschlich erscheint mir hingegen, wenn Kollateralschäden durch die Art und Weise der Personalorganisation des Betriebes in Kauf genommen werden. Wenn uns die aktuelle Pandemie schon gelehrt hat, dass wir uns den Luxus eines personellen und strukturellen Überangebots auch in ruhigen Zeiten leisten sollten und - wenn nicht wir, wer sonst - auch können, um im Bedarfsfall gerüstet zu sein, darf es auch nicht am Geld liegen, eine Notaufnahme so zu organisieren, dass sie auch für wirkliche Notfälle und nicht nur für den statistischen Mittelwert der Patientenhäufung gerüstet ist. Ob zweiteres überhaupt der Fall ist, kann ich anhand meiner Einzelbeobachtung fairerweise nicht bewerten. Selbst wenn in dieser speziellen Nacht deutlich mehr Patienten als erwartet zu behandeln waren, so wäre vermutlich mit einem zweiten Arzt und entsprechendem Personal drum herum die Situation besser gewesen.

Was die weniger dringenden Fälle betrifft, werden diese immer weiter zurückgestuft, solange dringendere Fälle aktuell hereinkommen, und das waren in der besagten Nacht einige. Soweit alles rechtens. Aber ich möchte hier zu bedenken geben, dass „weniger dringend / grün“ nicht heißt, dass ich auf mein Recht auf Behandlung komplett verzichten möchte. Ich kann warten, lange warten, sehr lange warten… Aber wenn letztlich aufgrund der langen Wartezeit und der Hoffnungslosigkeit unbehandelte Patienten scheinbar freiwillig das Haus wieder verlassen, verletzt das in meinen Augen doch deren Recht auf Behandlung. Und welcher Patient kann schon in der emotionsgeladenen frustrierenden Situation nach stundenlangem Warten rational einschätzen, ob eine Behandlung bei Wiederkehr am darauffolgenden Tag noch gleich wirksam oder nicht schon zu spät ist, wenn er seine Papiere zur vorzeitigen Entlassung unterzeichnet?

Ich kann hier nur an die Vernunft von Politik und Sanitätsbetrieb appellieren, den neuen Körper der Ersten Hilfe Bozen auch mit ausreichend Seele zu füllen, um dem Bürger rund um die Uhr zu dienen und dem Trend einer Zwei-Klassen-Medizin entschieden entgegen zu wirken.

Meine Odyssee endete nach 13 Stunden Wartezeit mit lächerlichen zwei Stichen nach Dienstschluss des einzigen in der Nacht anwesenden Arztes und mit Dienstantritt von 3 Ärzten um 8 Uhr morgens. Vor mir wurden weitere buchstäbliche Leidensgenossen jeglichen Alters in den frühen Morgenstunden entlassen, welche zum Teil 10 bis 12 Stunden auf Behandlung warten mussten.

Als ich das Gebäude verließ, verharrten immer noch eine Hand voll liegend gelagerte Patienten im Wartesaal, welche einfach abends und nachts dort abgestellt wurden. 

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Martin Koellen… Fr., 25.09.2020 - 19:28

Ich bin jedes mal aufs neue erstaunt, dass sich überhaupt noch Ärzte finden, die sich die Arbeit auf der Notaufnahme antun. Und mit welchem Einsatz die Kollegen in Bozen sich dieser Sisyphus-Aufgabe widmen.
Ganz besonders eklatant zeigt es uns in den Abend und Nachtstunden die mySABES App: Meistens sind die Hälfte der landesweiten Patienten auf der Notaufnahme in Bozen, von der anderen Hälfte wiederum der Großteil in Meran.
Beim Schreiben dieser Zeilen Bozen 36, Meran 20, Brixen 7, Sterzing 1, Schlanders 5, Bruneck 2, Innichen 1

Fr., 25.09.2020 - 19:28 Permalink
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m s Fr., 25.09.2020 - 21:10

Danke für diesen Bericht und Ihre Beobachtungen. Hoffentlich lesen die Manager, Führungskräfte und Politiker diesen Text und ziehen die richtigen Schlüsse daraus.

Fr., 25.09.2020 - 21:10 Permalink
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Martin Koellen… Sa., 26.09.2020 - 10:35

Antwort auf von G. P.

Die Bozner Notaufnahme ist für knapp 47% der Südtiroler Bevölkerung zuständig (und 100% der Polytraumata und alle Notfälle, die nur in Bozen behandelt werden können), die anderen 6 Krankenhäuser für die andere Hälfte der Bevölkerung.
Es wird sich aufgrund des Ärzte- und Pflegermangels nicht das Personal finden, alle 7 Krankenhäuser entsprechend zu besetzen, deshalb wird eine Hälfte der Bevölkerung unzufrieden bleiben.
Die mySABES App zeigt einen Überblick über die Auslastung der verschiedenen Notaufnahmen des Landes. Kann einem auch bei der Entscheidung helfen, an welches Krankenhaus man sich wendet

Sa., 26.09.2020 - 10:35 Permalink
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G. P. Sa., 26.09.2020 - 19:31

Antwort auf von m s

Kann in bestimmten Fällen hilfreich sein, in den meisten Fällen aber nicht. Wenn ich z. B. aus Vintl komme, okay, kann ich entscheiden, ob ich Bruneck oder Brixen fahre. Wenn ich aber z. B. aus Sand in Taufers komme, werde ich kaum bis in die Notaufnahme nach Brixen fahren.

Sa., 26.09.2020 - 19:31 Permalink
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Klemens Riegler So., 27.09.2020 - 14:46

Antwort auf von G. P.

Lieber G.P.
diese Frage stellt sich mir als Bozner nicht. Ich werde, sollte ich es physisch imstande sein, nach Innichen fahren. Dann bin ich nämlich immer noch schneller wieder daheim als nach einem Besuch der Ersten Hilfe in Bozen. Und ich habe gleichzeitig beim diensttuenden Arzt oder Ärztin in Innichen einwenig für Abwechslung oder Beschäftigung gesorgt. Und die Bozner werden mir dafür auch noch dankbar sein.

So., 27.09.2020 - 14:46 Permalink
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Klemens Riegler So., 27.09.2020 - 15:05

Antwort auf von Martin Koellen…

Da redet (schreibt) einer endlich Tacheles. Bozen ist für fast 50% der Südtiroler Bevölkerung zuständig und alle schweren Fälle landen im wahrsten Sinne des Wortes auch im KH-BZ. Und wie viele Ärzte und Innen finden sich in der Ersten Hilfe in Bozen? 50+% der in Südtirol verfügbaren? Oder doch nur ein Bruchteil?
Provokante Frage: Warum machen die ErsteHilfe-Ärzte von Sterzing und Innichen (samt Anhang) nicht in Bozen Dienst? Langweilig wird es in BZ sicher nicht.

So., 27.09.2020 - 15:05 Permalink