Matteo Renzi sorgt wieder einmal für Schlagzeilen: Das Schicksal der Regierung Conte liegt in seiner Hand. Oder besser: in den Händen jenes Häufleins von Überläufern, das sich mit dem schönfärbenden Namen Italia Viva schmückt.
Die Zeiten haben sich freilich geändert seit Matteo Renzi im Februar 2014 europaweit für Schlagzeilen gesorgt hatte, als er mit 35 Jahren zum jüngsten Regierungschef in der Geschichte der Halbinsel aufstieg. Europas Medien schwärmten von einer bevorstehenden Ära der Reformen.
Auch ich machte damals keine Ausnahme: „Italiens junger Premier verkörpert Optimismus in einem Land, in dem sonst wenig Anlass zu Reformen besteht" (Der Standard, 30. Juni 2014). Ich ging mit beträchtlicher Neugier in den Senat, um mir seine Regierungserklärung anzuhören. Eine erfrischende Rede – erstmals in der Geschichte ohne Manuskript.
Der Rest ist sattsam bekannt. Zum Parteichef gewählt, stürzte er seinen Vorgänger Enrico Letta, den er wenige Tage vorher beruhigt hatte: „Stai sereno, Enrico.“
Über Monate bastelte Renzi hartnäckig an einer Verfassungsreform zur Abschaffung des Senats und scheiterte schliesslich an jener Selbstüberschätzung, die ihn dazu verleitete, im Dezember 2015 das Referendum über die Verfassungsreform zu einem Votum über seine Person umzufunktionieren: „Se perdo il referendum, la mia carriera politica sarà terminata. Questa è democrazia.“
Auch das hat sich einmal mehr als Lüge erwiesen. Denn der nächste Coup erfolgte bei den Parlamenswahlen 2018, bei denen Renzi wie gewohnt für den Partito Democratico antrat und in den Senat zurückkehrte. Wenig später verliess er mit rund 15 Gefolgsleuten den PD und gründete im September 2019 die neue Partei Italia Viva – mit dem üblichen verbalen Gedöns: „È ora di costruire una nuova casa.“
Die Parteigründung bot eine willkommene Gelegenheit, um von den Ermittlungen der Staatsanwälte über die Geldflüsse der von ihm gegründeten Parteistiftung „Open“ abzulenken, die Renzi als „aggressione nei miei confronti“ wertete: „È un attacco all'autonomia della politica.“ Ungeklärt bleibt auch die Frage, warum Renzi den Kaufpreis seiner Villa in Florenz nur zum Teil aus eigener Tasche bezahlte, während 700.000 Euro vom befreundeten Unternehmer Riccardo Maestrelli überwiesen wurden – nicht vom eigenen, sondern vom Konto seiner alten Mutter.
Dass Renzis mittlerweile aufgelöste Stiftung auch Kredit- und Bancomat-Karten verteilte, löste bei den Ermittlern zusätzlichen Verdacht aus. Über eine dieser Kreditkarten verfügte offenbar sein Intimus Luca Lotti, der bereits in den letzten Jahren Zielscheibe gerichtlicher Ermittlungen war. In der sechsjährigen Tätigkeit der Parteistiftung sind fast 7 Millionen Euro in deren Kassen geflossen. Im Verwaltungsrat sassen neben Renzi und Lotti auch die in Südtirol gewählte Senatorin Maria Elena Boschi und die als grosszügige Renzi-Förderer bekannten Unternehmer Alberto Bianchi und Marco Carrai. Zu den wohlhabenden Geldgebern gehörte auch die Familie des Pharmaherstellers Menarini.
Vordringliches Ziel Renzis ist und bleibt der Sturz des verhassten Premiers Giuseppe Conte, den er mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft und dem er fast täglich die Rute ins Fenster stellt. Jüngste Drohung: der Rücktritt der beiden Italia Viva-Ministerinnen Elena Bonetti und Teresa Bellanova (pari opportunità und Landwirtschaft) der zum Sturz der wankenden Regierung führen würde. Um seinen Forderungen publikumswirksam Nachdruck zu verleihen, beantragte und erhielt Renzi auch einen Gesprächstermin bei Staatspräsident Sergio Mattarella – mit entsprechenden TV-Bildern.
Einer der wesentlichen Streitpunkte mit Conte ist die Verwirklichung des Recovery plan. Doch Sachthemen stehen eher im Hintergrund. Triebfeder des Konflikts bleibt Renzis tiefe Abneigung gegen Conte als lästigen,
parteilosen Eindringling in die seit Jahrzehnten praktizierte politica della spartizione.
In einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El pais übte Renzi massive Kritik am Premier: „Il governo ha perso la testa e Conte deve trattenersi, chiedere scusa e ricominciare.“ In dem Gespräch stellte er Conte auf eine Stufe mit Matteo Salvini: „Uno i pieni poteri li aveva chiesti in costume da bagno con un mojito in mano, Conte lo fa in giacca e cravatta dentro un ufficio.“
Die Sachthemen stehen im Hintergrund. Triebfeder des Konflikts bleibt Renzis tiefe Abneigung gegen Conte als parteilosen Eindringling in das geölte System der politischen Postenverteilung.
Dass der Vorsitzende einer Regierungspartei den eigenen Premier in einer ausländischen Zeitung derart bloßstellte, sorgte in der Koalition für Empörung und demonstriert, welches Niveau die Auseinandersetzung mittlerweile erreicht hat. Eine Forderung erhebt Renzi in dieser erbitterten Kontroverse aus verständlichen Gründen nicht: jene nach sofortigen Neuwahlen. Das kann freilich kaum verwundern. Denn Italia Viva liegt in Umfragen bei dürren 2,8 Prozent.