Benno, wo sind deine Eltern?
Vordergründige Fragen des Bozner Krimis
Der Fall Neumair macht alle zutiefst betroffen und wirft viele Fragen auf. Wäre das Paar Laura Perselli und Peter Neumair am Abend des 4. Jänner einfach nur spurlos verschwunden, wie es zunächst schien, würde die Suche nach ihnen zwar mit Spannung und Sorge verfolgt, aber das wär’s schon gewesen. Seitdem die Staatsanwaltschaft aber den Verdacht erhoben hat, dass der Sohn Benno das Paar ermordet und die Leichen in die Etsch geworfen hat, ist daraus ein Kriminalfall geworden, der nicht nur Bozen und Südtirol, sondern die ganze Nation zutiefst erregt. Im Vordergrund stehen dabei die Fragen: Was ist an jenem Abend passiert? Was hat Benno gemacht? Wo hat er die Leichen versteckt? Was ist das für ein Mensch, dem eine so schreckliche Tat zuzuschreiben ist? Diese und ähnliche Fragen werden seit Wochen von lokalen und nationalen Medien bis ins letzte Detail gestellt und analysiert. Es sind vordergründige Fragen, die teilweise der Information und der Aufklärung des Falles dienen, mehr aber der Befriedigung der Neugier und eines ungezügelten Voyeurismus sowie der Erhöhung der Auflagen. Denn man muss sich ja fragen: Warum räumen die Medien diesem Verdachtsfall so viel Raum ein? Die RAI z.B. täglich in der Sendung „Storie italiane“ und bereits dreimal in „Chì l’ha visto?“ Warum interessiert die Menschen (uns) diese Geschichte so stark?
Ich möchte hier nicht näher auf diese Fragen eingehen, sondern drei andere Fragen stellen, die mich beschäftigen: „Was wissen und dürfen die Verteidiger in einem solchen Fall?“ „Welche Lebenschance hat ein Benno Neumair noch?“ und „Was sagt dieser Fall über unsere Gesellschaft aus?“
Was wissen und dürfen die Verteidiger in einem solchen Fall?
Es ist mir klar, dass die Verteidiger die Aufgabe haben, die Unschuld ihres Mandanten zu beweisen oder, im äußersten Fall, seine Unzurechnungsfähigkeit. Aber mit welchem Wissen übernehmen sie einen solchen Fall? Drängen Sie ihren Mandanten gleich zu Beginn, ihnen die ganze Wahrheit zu sagen, damit sie die richtige Verteidigungsstrategie wählen können? Oder tasten sie sich ähnlich wie die Staatsanwälte allmählich an die Wahrheit heran und versuchen dabei, schneller zu sein als Letztere?
Mehr interessiert mich aber die Frage, was Verteidiger dürfen. Die Suchaktion in diesem Bozner Kriminalfall verursacht enorme Kosten. Diese Kosten gehen zunächst wohl zu Lasten der Institutionen und Personen, die sie in Auftrag geben und die sich daran beteiligen (Staatsanwaltschaft, Carabinieri, Polizei, Militärbehörde, Feuerwehren, Arbeitgeber von freiwilligen Feuerwehrleuten, Wasserwerke, usw.). Im Falle eines endgültigen Schuldspruchs müssten sie aber doch dem Schuldigen angelastet werden. Welche Verantwortung haben in diesem Zusammenhang die Verteidiger? Kann es ihnen gleich sein, was die wochenlange Suchaktion der Allgemeinheit kostet? Braucht sie der Gedanke an den eventuellen sicheren finanziellen Ruin ihres Mandanten nicht zu beunruhigen?
Welche Lebenschance hat Benno Neumair noch?
Für die unmittelbar Zukunft hat Benno Neumair wohl keine guten Karten. Falls die Obduktion der Leiche von Laura Perselli ergibt, dass Gewaltanwendung zu ihrem Tod geführt hat, spricht die Indizienlage wohl ziemlich eindeutig gegen ihn. Es ist möglich, dass er nach einem langen Prozess verurteilt wird, eventuell aufgrund psychiatrischer Gutachten nicht als voll zurechnungsfähig eingestuft. Es ist ebenso möglich, dass er schließlich wegen Mangel an Beweisen freigesprochen wird. Wie auch immer, wird er in den Augen der Öffentlichkeit nicht für immer der Schuldige bleiben? Wird er nicht ewig der Kain sein, der die Frage „Benno, wo sind deine Eltern?“ nicht los wird?
Der Gedanke an Kain hat mich veranlasst, die Urzeiterzählung von Kain und Abel in Genesis 4 der Bibel wiederum zu lesen. Der erste Teil kam mir bekannt vor: Kain, der ältere Sohn von Adam und Eva und Ackerbauer, erschlug seinen Bruder Abel, den Viehhirten, weil er nicht damit fertig wurde, dass Gott die Opfergabe von Abel beachtet hatte und die seine nicht. Darauf fragte ihn der Herr „Kain, wo ist dein Bruder Abel?“ Und er verfluchte ihn und verbannte ihn von seinem Ackerboden. Der zweite Teil der Erzählung hat mich überrascht. Auf die Klage von Kain “Meine Schuld ist zu groß, dass ich sie ertragen könnte …. Ziel- und heimatlos werde ich sein auf Erden; jeder, der mich findet, wird mich erschlagen“ sprach Gott nämlich seinen Schutz über ihn aus und sagte „Jeder, der Kain erschlägt, an dem wird er siebenfach gerächt“. Und er machte ihm ein Zeichen, damit ihn niemand erschlage, der ihn erkenne. Die Geschichte zeigt, dass sich die Menschen seit Urzeiten mit schwerer Schuld konfrontiert sahen, aber dass sie auch einen Weg fanden, mit Schuldigen umzugehen. Wird die Botschaft dieser Erzählung heute gehört werden, sodass auch einem eventuell schuldigen Benno Neumair eine Chance für ein würdevolles neues Leben gewährt wird? Eine schwierige Frage in einer Zeit, wo es so leicht ist, über die sozialen Medien jemanden zu „erschlagen“!
Was sagt dieser Fall über unsere Gesellschaft aus?
In früheren Zeiten waren das Böse und das Dämonische eine Realität, die vor allem das religiöse Bewusstsein und die Verkündigung stark prägte. Und es hatte Namen: Teufel, Dämonen, böse Geister, Bestie. Inzwischen erfolgte in Theologie und Psychotherapie ein radikaler „Abschied vom Teufel“ und vom bestimmenden Einfluss des Dämonischen. Wie hat sich dieser Paradigmenwechsel auf unsere Gesellschaft ausgewirkt? Nehmen wir das Böse noch wahr? Und zwar auch bei uns selbst, in unseren Familien, in unserer Gesellschaft? Oder verbinden wir es nur mit Terroristen, radikalen Islamisten und kriminellen Einwanderern? Und wie gehen wir damit um? Mit dem Bösen mitten unter uns? Haben gescheite Theologen, Kulturphilosophen, Psychologen und Soziologen darauf eine Antwort? Und lässt man sie zu Wort kommen? Ich schließe mit zwei Fragen: „Südtirol, wo sind deine Dämonen?“ und „Süd-Tirol, worüber solltest du dich aufregen?“
Hat niemand etwas zu unserem
Hat niemand etwas zu unserem widersprüchlichen Verhältnis gegenüber dem Bösen zu sagen, zu dessen Verdrängung einerseits und zur voyeuristischen Lust daran andererseits? Oder zu irgendeiner anderen Frage in meinem Beitrag?
Hallo, Herr Berger. Empirisch
Hallo, Herr Berger. Empirisch ist belegt, dass die meisten Gewaltverbrechen im nahem sozialen Umfeld (Familie, Partnerschaft) passieren. "Das Böse" ist also nicht weit weg, sondern unter uns - ja: in uns. Das erklärt vielleicht teilweise die Projizierung dieser dunklen Eigenschaften auf Fremde (Ausländer, Migranten, Terroristen - kurz: die Anderen) - das haben Sie ganz gut erfasst, finde ich. Dieser Vorgang dient vermutlich (ich vermute nur, weil ich kein Psychiater/Psychologe bin) dem Selbstschutz, indem die eigenen dunklen Seiten geleugnet werden können; gleichzeitig sind bei solchen Unterhaltungen über den aktuellen Fall Neumair ja immer wieder scheinbar rationale Stimmen zu vernehmen, die dem Täter (wer auch immer es nun gewesen sein mag) Dummheit oder (konträr dazu) Schlauheit unterstellen, weil er das Eine unterlassen oder das Andere (in einer bizzaren Art und Weise wird ja oft fast lobend über "den perfekten Mord" gesprochen) getan hätte. Ich weiß nicht genau, auf wie vielen unterschiedlichen Ebenen sich sowas analysieren lässt, aber ganz gewiss speist sich hierbei eine Faszination daraus, das Unglaubliche (Mord) selbst einmal durchzudenken ("Wie würde ich vorgehen?").
Antwort auf Hallo, Herr Berger. Empirisch von Fabian .
Danke, Herr Fabian, für Ihren
Danke, Herr Fabian, für Ihren Kommentar! Dass ein Mensch aus Selbstschutz seine dunklen Eigenschaften auf andere projiziert, kann ich nachvollziehen. Aber dass eine ganze Gesellschaft, konkret die Südtiroler Gesellschaft, so verfährt, ist schwer zu verstehen. Offensichtlich fühlen wir uns nicht nur als die Besten, sondern auch als die Guten. Ich weiß nicht, ob wir damit einen Ausgleich für unseren Minderheitenstatus suchen oder wie das zu erklären ist.
Läuft dies in größeren Gesellschaften ähnlich ab? Ich würde mir dazu jedenfalls einmal ein profunde Analyse von einem Sozialwissenschaftler o.ä. wünschen und nicht nur die (häufigen) Diagnosen von Psychiatern zu einem individuellen Fall.
Antwort auf Danke, Herr Fabian, für Ihren von Franz Berger
Ja, natürlich. Solche
Ja, natürlich. Solche schrecklichen Ereignisse bieten immer auch Gelegenheit, um über die Gesellschaft zu reflektieren; man könnte ja durchaus argumentieren, dass die Selbstreflexion viel eher im "öffentlichen Interesse" stünde, als die Details einer "bösen Tat". Andererseits haben solche "Empörungswellen" ja immer auch etwas von Selbsterhaltung durch Katalysation, wenn man so will. Es bestünde ja durchaus auch die Möglichkeit, dass eine Gesellschaft/Gemeinschaft über die Eigenbetrachtung der eigenen Schwächen und Abgründe zugrunde ginge (der Einsicht, dass "das Böse" in jedem innewohnt, folgt ja ebenso, dass Verbrechen ein Stück weit "normal" sind) - andererseits schreiben und diskutieren wir bisher (fast nur) über das "individuelle Böse" - gibt es so etwas, wie eine "böse Gesellschaft"?
Antwort auf Ja, natürlich. Solche von Fabian .
Ja, die Selbstreflexion der
Ja, die Selbstreflexion der Gesellschaft, die plötzlich mit einem Gewaltausbruch in ihrer Mitte konfrontiert wird, wäre sicher mehr von "öffentlichem Interesse" als die Suche nach den letzten Details einer solchen "bösen Tat". Beim tragischen Unfall in Luttach vor einem Jahr fand meines Erachtens eine solche Reflexion statt. Beim Fall Neumair spürt man diesbezüglich noch wenig. Oder täusche ich mich?
Ihre Frage "Gibt es so etwas wie eine böse Gesellschaft?" ist wohl so zu beantworten: "Es kommt immer wieder einmal vor, dass in einer Gesellschaft das Böse überwiegt oder die Macht erhält". Siehe Nationalsozialismus. Das war wohl seit Menschengedenken so. Denn die in der Genesis beklagte Sittenverderbnis und große menschliche Bosheit, die zur Sintflut führte, ist wohl als urzeitliche Erfahrung über das Überhandnehmen des Bösen in einer Gemeinschaft zu verstehen.
Antwort auf Ja, die Selbstreflexion der von Franz Berger
Ich wage hier eine Festlegung
Ich wage hier eine Festlegung:
es ist immer der Einzelne, der Böses tut oder ein Verbrechen begeht, und als solcher persönlich verantwortlich.
Das Angebot im Fernseher hat
Das Angebot im Fernseher hat sich in den letzten 20 Jahre stark geändert. Gewalt, in alle seine mögliche Formen und Darstellungen, ist mittlerweile zu alle Uhrzeiten im Fernseher daheim. Somit denke ich hat sich unsere Gesellschaft an Gewalt gewöhnt, als wäre es fast etwas ganz "alltägliches-normales".
Antwort auf Das Angebot im Fernseher hat von Christian I
Foucault würde vielleicht
Foucault würde vielleicht sagen, dass diese Gewalt schon seit je in Gesellschaften exisitert, nur der Umgang damit sich geändert hat: Hat man früher noch auf den Marktplatz die Hinrichtung von Verbrechern (oder vermeintlichen) als gesellschaftliches Spektakel inszeniert, ist man in der Moderne davon abgerückt. Aber nicht, weil Gesellschaften inzwischen humaner und zivilisierter geworden wären, sondern, weil sich die Wirkung der öffentlichen Hinrichtung auf die Bevölkerung sehr schwer voraussagen lässt: Von Befreiungsversuchen, über Demütigung der Hinzurichtenden, bis hin zu anschließenden Plünderungen und Aufständen war alles dabei.
Franz Berger tut gut daran,
Franz Berger tut gut daran, uns allen eine mögliche böse Seite zuzumuten, die uns dazu bringen kann, in weiß-der-Kuckuck-warum unerträglichen Situationen aus dem Affekt & unkontrolliert gewalttätig zu handeln. Dies bezüglich zum zitierten Fall. Was anderes ist, wenn ideologische Propaganda festlegt, was das Gute bzw. das Böse ist, dazu Angst geschürt wird und Einzelne dann zu Tätern werden. Beispiel: amerikanische GIs in der Computerwaffenkammer sitzen an playgames-ähnlichen Monitoren mit dem Auftrag verdächtige Bewegungen zu überwachen, sehen am Bildschirm ihnen unbekannte Menschen weit entfernt im Osten, klicken lachend die "kill-Taste" einige Male hintereinander; sie werden nicht zur Verantwortung gezogen obwohl bewiesen ist, dass sie unschuldige Zivilisten getötet haben, sie gelten als Kämpfer der Guten, nicht aber der, der den Vorfall aufgedeckt hat - der gilt bis heute als Böser: Assange!
Antwort auf Franz Berger tut gut daran, von Klaus Griesser
sancta simplicitas:
sancta simplicitas:
der böse amerikanische Soldat tötet vorsätzlich und aus Spass unschuldige Zivilisten.
Antwort auf sancta simplicitas: von Peter Gasser
Ihr Standpunkt! Es kann nicht
Ihr Standpunkt & Narrativ! Es kann nicht sein, was simpliciter nicht so sein darf! Ein nicht geahndetes Kriegsverbrechen einzelner Soldaten.
like the John- Wayne-Western: er ist der schießfertige Gute, die "Indianer" sind die schreienden pfeileschießenden Wilden und dürfen einfach abgeknallt werden.
Antwort auf Ihr Standpunkt! Es kann nicht von Klaus Griesser
ja, damals waren die
ja, damals waren die “Amerikaner” ausgewanderte Europäer...
Antwort auf Franz Berger tut gut daran, von Klaus Griesser
Richtig gesagt, Klaus
Richtig gesagt, Klaus Griesser! Wenn in einer Gesellschaft das Böse zum Tragen kommt, steht immer ideologische Propaganda dahinter. Beispiele dafür gibt es aus dem letzten Jahrhundert genug. Und auch die Vorfälle in Washington am 6. Jänner sollten uns diesbezüglich eine Lehre sein.
Antwort auf Richtig gesagt, Klaus von Franz Berger
Das ist eine sehr
Das ist eine sehr "unterkomplexe", banale Analyse. Wenn man davon ausgeht, dass jeder Mensch "Böses" in sich trägt, müsste es nicht einer missbräuchlichen Betonung ("Propaganda") bedürfen, um diese individuellen Eigenschaften zu akkumulieren. Simperl formuliert: Wenn alle das Böse in sich tragen, brauche ich das nur zu sammeln, um es auch gesellschaftlich wirksam zu machen. Das reicht aber nicht - zum Glück!