Gesellschaft | Gastkommentar

Das große Sterben

Ob wir Angst-infiziert an unserer eigenen Mutation sterben, ist eine aktive Entscheidung.
Die vier Reiter der Apokalypse
Foto: commons.wikimedia.org/Wiktor Michailowitsch Wasnezow

Wir schreiben das Jahr 2021, 46° 47’N, 12° 26‘ O, 1500m ASL, Außervillgraten/Osttirol/Österreich. Im Labor arbeiten Mensch und Maschine nahezu Tag und Nacht durch. Schaut man aus dem Fenster Richtung Westen, erhebt sich stolz der Rappler tiefverschneit in den stahlblauem Märzhimmel. Schaut man in Richtung Südwesten, formieren sich über den Karnischen Alpen die weißen Wolken, wie durch galoppierende Pferde aufgewirbelter Steppensand. Und wer genau hinhört, hört den Hufschlag von vier Pferden.

Schwer hat der Pfeil des ersten Reiters vor circa einem Jahr getroffen. Seither ist vieles mutiert. Das Labor ebenso wie unsere Gesellschaft. Im Labor werden inzwischen im Routinebetrieb Mutantenscreening und Sequenzierung durchgeführt. Und wie ureigens nach Darwin der Evolution inne liegend, ist auch SARS-CoV-2 mutiert. Nicht nur einmal, zig Mal! Das weiße Pferd galoppiert weiter.

Im Köcher des Reiters befinden sich noch viele Pfeile, täglich werden es mehr. Sie tragen merkwürdige Namen: B 1.1.7, N 501Y, K417N,… die Zahlen des Verderbens, es sind die Mutanten, mehr als 15.000 weltweit, die der Reiter bald, schon bald auf das Land anlegen wird. Faktisch wissenschaftlich reduziert auf Osttirol zirkulieren in der Bevölkerung von knapp 50.000 Einwohnern auf 2000km2 unter aktuell 200 SARS-CoV-2-Erkrankten 11 Genotypen, darunter die britische und tschechische Variante sowie 9 wahrscheinlich rein lokale Varianten und der ursprüngliche Wildtyp. Die Pfeilspitzen brennen! Wo sie einschlagen, lodern die Flammen, ein unendlicher Brand verzehrt das Land. Weithin über den Dolomiten stehen die Rauchsäulen wie die Kreidefeuer aus alter Zeit. Villandro, pardon Silandro ist Sperrgebiet. Furcht lähmt die Menschen. Nur bei den Entscheidungsträgern ersetzt hektische Betriebsamkeit die geistige Windstille und die Reiter galoppieren weiter über den Horizont und darüber hinaus. Ein ständige Bedrohung.

Noch haben wir das Privileg zu wählen, in welcher Form wir mit dem vierten Reiter galoppieren

Das große hat Sterben begonnen! Der Hausverstand ist bereits tot, die Zivilcourage liegt auf der Intensivstation, die interdisziplinäre-wissenschaftliche Reflektion ist vermisst und soll schon bald für tot erklärt werden. Wir werden alle auf dem vierten Pferd davon reiten. Wir befinden uns alle seit dem Zeitpunkt unserer Geburt auf unserem letzten Weg. Denn wir haben nur diesen einen Weg, der sich unser Leben nennt.

Zum zweiten Mal binnen eines Jahres ist in einem vereinten Europa die innereuropäische Brennergrenze geschlossen. Mit einer gewissen Dynamik sind viele in der Verfassung verankerte Grundrechte auf unbestimmte Zeit massiv eingeschränkt oder entkräftet worden. Viele kurzfristige Maßnahmen in der Not haben sich zu neuen Gegebenheiten im Alltag verfestigt. Die Demokratie weist signifikante Mutationen in ihrem Fundament auf. In einer Gesellschaft, in der Facebook weit mehr als vierzig Geschlechtsdefinitionen zur Auswahl stellt und richtiges „Gendern“ obligat ist – deswegen sprechen wir auch von Mutanten, Mutonkeln und Mut*nt*n –, ist der sachliche offene Diskurs im Parlament zum stetigen Monolog der Angst geworden. Der Angst vor was? Vor SARS-CoV-2 und dessen Mut*nt*n? Oder vor der Angst der eigenen Endlichkeit in Amt und Würden? Aber zumindest wurden Corona-Gender eingeführt – die Corona-Hardliner, Covidianer und die Covidioten. Der offene interdisziplinäre wissenschaftliche Diskurs dazwischen bleibt der Legislativen/dem Volk verwehrt. Wir schreiben gerade Geschichte und werden wie Voltaire – „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen“ – zur Geschichte werden. Die Demokratie unterliegt dem Mutationsgeschehen. Inzwischen ist der Hufschlag der vier Pferde unverkennbar. Wer ihn nicht hört, verspürt die Vibration des Erdbodens. In der „All Lives Matter–Gesellschaft“ reiten die Tumor-, Infarkt- und Schlaganfallpatienten mit dem vierten Reiter voraus. Wir haben ein ethisch-moralische Mutation vollzogen – „SARS-CoV-2 Lives Matter“. Zeitgleich ebnet die strategische Führung mangels Strategie dem dritten Reiter den Weg. Lockdown, Hinrichtung einer funktionierenden Wirtschaft, Milliardenhilfspakete ohne Staatseinkommen, Aussetzung des Rechtes auf Bildung und Entwicklung der Kinder und Jugend – wie richtig die Fridays for Future Bewegung mit ihrer düsteren Prognose, ihnen würde die Zukunft genommen, lag – führt unweigerlich zu Insolvenzen, Inflation mit konsekutiver Weltwirtschaftskrise und Bankencrash.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, dies schließt jedoch nicht aus, dass wir alle sterben müssen

Wer gehorsam dem Sportverbot Folge leistet, kann dem vierten Reiter aufgrund von Adipositas, arterieller Hypertonie, Herzinsuffizienz und Diabetes nicht davonlaufen. Und während sich der schwarze Reiter austobt, schart der zweite Reiter ungeduldig auf seinem roten Pferd mit Hufen. Er ist gekommen, den Frieden zu nehmen und galoppiert unerbitterlich mit dem Schwert des Bürgerkriegs, des Generationenkonflikts und der Zerstörung über den Erdball. Ökonomische und menschliche Ressourcen zur Aufrechterhaltung einer modernen Intensivmedizin gibt es schon lange nicht mehr. Der erste Reiter hat inzwischen treffsicher viele weitere Pfeile abgeschossen. Eine neue Variante des Influenzavirus hat sich in einem desolaten ökonomisch SARS-CoV-2 destabilisiertem Gesundheitssystem ausgebreitet. The point of no return ist überschritten, die vier Reiter nicht zu stoppen.

In vielen Jahren wird sich eine andere intelligente Zivilisation an uns erinnern und über uns berichten. Über eine Gesellschaft, die sich aus Angst vor ihrer eigenen Endlichkeit suizidiert hat. Die vier Reiter der Apokalypse haben sie dahingerafft. Der erste Reiter auf seinem weißen Ross traf sicher mit dem SARS-CoV-2-mutierten Pfeil der Evolution. Das Schicksal wurde jedoch erst manifest, als die Angst begann, ihre Seelen aufzuessen, und sie selbst zu den Reitern des zweiten, des roten Pferdes und des dritten, des schwarzen Pferdes wurden. Sie brachten Hunger und Krieg reaktiv über sich, in der intellektuellen Sicherheit, sich inzwischen über die Evolution zivilisiert zu haben. Die Mutation einer ganzen Gesellschaft gab erst dem vierten Reiter, dem Tod, die Macht, eine ganze Zivilisation mit sich zunehmen.

Wir haben ein ethisch-moralische Mutation vollzogen – „SARS-CoV-2 Lives Matter“

Die Würde des Menschen ist unantastbar, dies schließt jedoch nicht aus, dass wir alle sterben müssen. Wir befinden uns alle seit dem Zeitpunkt unserer Geburt auf unserem letzten Weg. Denn wir haben nur diesen einen, der sich unser Leben nennt. Wie dieser Weg, auf dem es nur ein Nach vorne gibt – keiner kehrt zu dem zurück, was er war – aussieht, liegt in der Eigenverantwortung. In der Eigenverantwortlichkeit jedes einzeln. Politik kann nicht die Verantwortung von einer Gesellschaft nehmen und deren Probleme auf Vorrat lösen. Politik hat die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Bevölkerung in die Lage versetzt, ihre Probleme selbst zu lösen.

Das Volk hat in einer Demokratie die Aufgabe, Politik im offenen Diskurs zu gestalten. Wie unserer letzter Weg aussieht, obliegt uns. Unsere demokratisch-liberale Gesellschaftsform, unser Wohlstand und der damit verbundene hohe medizinische Standard sind eine Errungenschaft, keine Selbstverständlichkeit. Noch haben wir das Privileg zu wählen, in welcher Form wir mit dem vierten Reiter galoppieren. Angst isst Seele auf! Feuer bekämpft man mit Feuer und Angst mit Angst. Machen uns nun diverse Mutanten, Mutonkel und Mut*nt*n des SARS-CoV-2-Virus mehr Angst als die Mutation der Gesellschaft, inkludiert der eigenen Identität? Ob wir Angst-infiziert an unserer eigenen Mutation sterben, ist eine aktive Entscheidung! Das Virus passt sich evolutionsbiologisch an seinen Wirt an. Und wir? Kommt das Wort Mutante vom lateinischen Mutus, der Stumme, und der konsekutiven Devolution der demokratisch-liberalen Gesellschaft? Zur Mutation unserer Identität?