Gesellschaft | Impfpflicht

"Der Körper ist Eigentum eines Menschen"

Die Philosophin Marie-Luisa Frick spricht über Impfpflicht, körperliche Integrität und darüber, dass auch das Eingeständnis, etwas nicht zu wissen, mutiges Denken ist.
Marie-Luisa Frick
Foto: (c) Andreas Friedle

Das Digital Green Certificate der EU, das Covid-19-Geimpften, Genesenen und Getesteten den Zugang zu Reisen, Veranstaltungen und anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wieder ermöglichen soll, ist in aller Munde. Diese Woche liegt dem Südtiroler Landtag ein diesbezüglicher Beschlussantrag vor, der die Landesregierung beauftragt, die nötigen Vorbereitungen für den "Grünen Pass" zu treffen und zu prüfen, wo der Grüne Pass in Südtirol eingesetzt werden könnte. Darüber, dass es dabei nicht nur um Fragen zur praktischen Umsetzung sondern auch um ethische Fragen geht, hat Salto.bz mit der österreichischen Philosophin und Autorin Marie-Luisa Frick gesprochen. Frick, die als assoziierte Professorin für Philosophie an der Universität Innsbruck tätig ist, beschäftigt sich unter anderem mit ethischen Fragen rund um Covid-19 und den daraus resultierenden Debatten zu Freiheit, Aufklärung und Impfung.

 

Salto.bz: Debatten zum "Grünen Pass" oder Privilegien für Geimpfte laufen oft auf eine Frage hinaus: Ist der Druck, sich impfen zu lassen, einem Impfzwang gleichzusetzen? Wie stehen Sie zu dieser Frage?

Marie-Luisa Frick: Ein “Grüner Pass” kann nicht mit einem Impfzwang gleichgesetzt werden. So wie er derzeit angedacht ist, soll er neben Geimpften auch Genesenen und Getesteten offen stehen. Es gibt also Alternativen für jene, die sich nicht impfen möchten. Das ist wichtig, auch wenn Personen, die weder genesen noch geimpft sind, durch die nur tageweise Gültigkeit eines solchen „Passes“ benachteiligt sind.

 

Eine allgemeine Pflicht zu einer Schutzimpfung ist menschenrechtlich nicht unproblematisch, aber nicht zwingend menschenrechtswidrig.

 

Der niederländische Rechtsphilosoph Roland Pierik argumentiert, dass durch die Pandemie zwar keine Impfpflicht erzwungen werden kann, wir jedoch sehr wohl in der Pflicht stehen, andere nicht anzustecken. Der Weg dorthin bleibt der/m Einzelnen überlassen: Immunisierung, rigide Schutzmaßnahmen oder gar Fernbleiben von gesellschaftlichen Aktivitäten. Die Benachteiligung jener, die weder geimpft noch genesen sind, wäre also – aufgrund unserer Pflicht, andere nicht anzustecken –, gerechtfertigt. Stimmen Sie dieser Argumentation zu?

Das kann man so sehen. Derzeit aber ist es so, dass der Staat entscheidet, wer wann geimpft wird. Bis jeder geimpft ist, der das möchte, wird es dauern. Sollte ein „Grüner Pass“ vorher eingeführt werden, könnte gerade für junge Menschen, die am Schluss dran kommen, ein Anreiz erzeugt werden, sich den „Pass“ über die Infektion zu holen. Auch, dass manche nicht geimpft werden können, weil Impfstoffe etwa für Schwangere und unter 16-Jährige nicht zugelassen sind, darf nicht übersehen werden. Fatal wäre es, wenn ein solcher „Pass“ Menschen verleitet, Schutzmaßnahmen sofort ganz aufzugeben. Ein Teil der Geimpften kann sich trotz Impfung infizieren oder andere anstecken und auch Genese sind nicht dauerhaft vor Reinfektionen sicher.

 

Es kann gute Gründe für eine berufsspezifische Impfpflicht geben.

 

Viele scheuen davor zurück, über eine allgemeine Impfpflicht nachzudenken. Warum?

Bei einer allgemeinen Pflicht zu einer Schutzimpfung werden grundsätzlich Gemeinwohlinteressen über Einzelinteressen gestellt. Das ist menschenrechtlich nicht unproblematisch, aber nicht zwingend menschenrechtswidrig. Da muss man aus ethischer Sicht genau hinsehen: Welche Vorteile für alle sind zu erwarten, welche möglichen Nachteile für Einzelne? Man müsste auch klären, was genau die Sanktionen sein sollten für jene, die sich nicht jährlich ihre Impfung abholen. In der gegenwärtigen Pandemie kommen erhebliche Unsicherheitsfaktoren zu diesen Abwägungen hinzu: Was bedeutet „Herdenimmunität“ bei diesem Virus? Welche Risiken gehen von gewissen Impfstoffen für gewisse Personengruppen aus? Anstatt über eine allgemeine Impfpflicht nachzudenken, wäre es aus meiner Sicht derzeit besser, mit maximaler Transparenz und ehrlicher Kommunikation um Impfbereite zu werben. Der harte Kern derjenigen, die jede Impfung aus Prinzip ablehnen, ist zum Glück recht klein. Denn klar ist: Außer Impfungen haben wir derzeit wenig Hoffnung auf Erleichterung.

In Italien wurde das Gesundheitspersonal vor Kurzem dazu verpflichtet, sich impfen zu lassen. Die Alternative: Suspendierung oder eine mögliche Versetzung, die jeglichen Patientenkontakt ausschließt. Können wir hier noch von einer freien Entscheidung sprechen?

Wohl nicht, aber das wäre nicht die ethisch entscheidende Frage, sondern: Kann man rechtfertigen, dass es so eine berufsbezogene Impfpflicht gibt? Provokant gesagt, es ist auch nicht die freie Entscheidung eines Krankenhauspatienten, von einem nicht-geimpften Pfleger angesteckt zu werden. Es kann gute Gründe für eine solche berufsspezifische Impfpflicht geben. Wenn bestimmte Impfstoffe die Übertragungsrisiken deutlich senken, wäre das ein Grund, eine Impfung des Personals zu verlangen. Auch das Anliegen, durch Impfungen einen breiten Ausfall von Krankenhauspersonal zu verhindern und damit die Versorgung sicherzustellen, kann ein Argument sein.

 

Mutig kann je nach Kontext Unterschiedliches bedeuten: Autoritäten zu widersprechen und dafür Repressalien riskieren oder umgekehrt sich einzugestehen, dass man es selbst nicht besser weiß oder kann.

 

Die Impfpflicht wird als Einschnitt in die persönliche Freiheit gesehen, der Körper als die letzte Festung, die vor jeglicher Fremdbestimmung geschützt werden muss. Warum rückt das Bedürfnis der Selbstbestimmung im Bezug auf die Impfung so sehr in den Vordergrund?

Körperliche Integrität ist eines der grundlegendsten Menschenrechte. In der Medizinethik ist das Prinzip der informierten Einwilligung daher von größter Bedeutung. Der Körper eines Menschen ist sein Eigentum, es sollte daher auch jeder und jede Erwachsene möglichst selbst entscheiden dürfen, was in diesen Körper kommt und was nicht. Eine Impfung ist ja nichts, was man wie ein Kleidungsstück ausziehen kann, wenn man es sich anders überlegt. Daher ist es wichtig, dass Menschen umfassend aufgeklärt werden über die Vorzüge der jeweiligen Covid-19-Impfstoffe, aber auch mögliche Risiken.

 

Fatal wäre es, wenn ein solcher „Pass“ Menschen verleitet, Schutzmaßnahmen sofort ganz aufzugeben.

 

In Ihrem Buch “Mutig denken – Aufklärung als offener Prozess” geht es unter anderem darum, Möglichkeiten kritisch zu hinterfragen und eigene, mutige Entscheidungen treffen zu können. Ist “mutiges Denken” Synonym dafür, alle (Experten-)Meinungen kritisch hinterfragen zu müssen?

Mutig kann je nach Kontext Unterschiedliches bedeuten: Autoritäten zu widersprechen und dafür Repressalien riskieren oder umgekehrt sich einzugestehen, dass man es selbst nicht besser weiß oder kann. Als Philosophin kann ich nicht anders, als kritisches Hinterfragen gutzuheißen. Das ist das eigentliche Erbe der Aufklärung. Aber manchmal habe ich bei scheinbar ach so kritischen Zeitgenossen in dieser Pandemie schon den Eindruck, dass sie nicht mutig, sondern eigentlich feige sind. Viele können oder wollen offenbar der harten Wahrheit nichts ins Auge sehen, dass wir es mit einem wirklich bösartigen Virus zu tun haben und wohl lange nicht eins-zu-eins zu unserem gewohnten Leben zurückkehren werden.