Wirtschaft | Arbeitsbelastung

"Dauernde Alarmbereitschaft"

Ist der Arbeitsdruck zu lange zu hoch, kann dies schwerwiegende körperliche Folgen haben. Arbeitspsychologe Tobias Hölbling über Prävention und die Situation in Südtirol.
Arbeitsdruck
Foto: Unsplash, victoria heath

745.000 Todesfälle durch zu lange Arbeitszeiten, Stress, Druck. Dies die Schätzungen einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die vorige Woche veröffentlicht wurde. Allein im Jahr 2016 sollen somit 745.000 Menschen an Herzerkrankungen und -infarkten, ausgelöst durch zu lange Arbeitszeiten, verstorben sein. Seit den letzten Messungen im Jahr 2000 ist die Zahl der Verstorbenen um 29 Prozent gestiegen. Laut WHO und ILO könnte diese Zahl durch die Ausweitung von Homeoffice während der Pandemie weiter genährt werden.

"In Südtirol wird Arbeitsintensität – also Termin- und Zeitdruck – als größte Arbeitsbelastung empfunden", gibt der Direktor des Arbeitsförderungsinstitut AFI, Stefan Perini zu bedenken. Nicht ohne Grund: Eine 2016 durchgeführte Studie des AFI zur psychischen Belastung in der Arbeitswelt zeigt, dass die Arbeitsintensität in Südtirol deutlich über dem Durchschnitt der Vergleichsländer Österreich, Deutschland und Italien liegt. Salto.bz hat mit Tobias Hölbling, dem für die Studie verantwortlichen Mitarbeiter des AFI, gesprochen. Im Interview erklärt der Arbeitspsychologe, wie sich hoher und ständiger Arbeitsdruck auf den Körper auswirken, auf welche Symptome wir achten sollten und wie Betriebe besser auf die Bedürfnisse der Arbeitenden eingehen können.

 

 

Salto.bz: Die kürzlich veröffentlichte Studie der WHO zeigt die Folgen von exzessiver Arbeitszeitbelastung: 2016 starben 745.000 Menschen an Herzerkrankungen und -infarkten, ausgelöst durch exzessive Arbeitszeiten. Überraschen Sie diese Zahlen?

Tobias Hölbling: Dass überlange Arbeitszeiten schädlich sind, ist an sich nichts Neues und schon lange wissenschaftlicher Konsens. Diese hohen absoluten Zahlen überraschen mich dann doch, auch wenn wir sie relativ zur Zahl der arbeitenden Menschen weltweit sehen müssen. Jeder einzelne vermeidbare Todesfall ist klarerweise einer zu viel.

Eine 2016 vom AFI durchgeführte Studie zeigt: Die psychische Belastung am Arbeitsplatz liegt in Südtirol über dem Durchschnitt der Vergleichsländer Deutschland, Österreich und Italien. Warum?

Wir müssen hier zwischen zwei Arten von psychischer Belastung unterschieden. Was die Arbeitsintensität angeht, also Termindruck, schnell arbeiten müssen, Arbeitsaufträge in der Freizeit und Ähnliches, liegt Südtirol im Vergleich klar über dem Durchschnitt der Vergleichsländer. Eine Journalistin beschrieb die Südtiroler einmal treffend als “Buggler”. Im Bezug auf die emotionale Belastung, also Unterdrückung von Gefühlen, Umgang mit schwierigen Klienten und emotional aufwühlende Situationen, sind die Ergebnisse länderübergreifend hingegen sehr ähnlich. Die emotionale Belastung hängt vor allem von den einzelnen Berufsgruppen ab.

 

Bei längerer Beanspruchung versetzen uns erhöhter Puls und Blutdruck in eine dauernde Alarmbereitschaft.

 

In welchen Formen können sich die Folgen von hoher Arbeitsintensität äußern?

Die psychische Belastung kann sich nicht nur auf das Gemüt niederschlagen, sondern sich auch körperlich manifestieren. Hier ist aber Vorsicht geboten: Ausschlaggebend ist, wie lang jemand einem bestimmten Reiz ausgesetzt ist. Das heißt, wenn wir ab und zu stark beansprucht werden, weil wir statt den normalen 40 Stunden 55 Stunden arbeiten, können wir mit solch kurzzeitigen Belastungen sehr gut umgehen. Wir sind dafür gemacht, psychische Belastungen zu ertragen, sofern sie zeitlich begrenzt sind.

Einige arbeiten beispielsweise seit über einem Jahr unter sehr hohem Druck auf den Intensivstationen des Landes. Ist das noch als tragbarer Zeitrahmen zu werten?

Das ist ein permanenter Zustand. Dieser äußert sich dadurch, dass Fehlzeiten zunehmen und einige der Betroffenen ihren Arbeitsplatz oder gar die Branche wechseln. Kurzfristig bedeutet eine Dauer von einigen Tagen oder Wochen. Das hält der Mensch aus. Es muss aber ein Ende in Sicht sein. Zieht sich die Beanspruchung über einen längeren Zeitraum hin, schlägt sich das negativ auf Geist und Körper nieder. Erhöhter Puls und Blutdruck, die unsere Reaktionsbereitschaft kurzfristig verbessern, versetzen uns dann in eine dauernde Alarmbereitschaft. Diese tut dem Körper auf lange Sicht nicht gut und kann zu einem höheren Risiko für Bluthochdruck und Herz-Kreislauferkrankungen führen.

Die Studie des AFI belegt, dass jeder 10. Südtiroler mindestens einmal im Monat mehr als 10 Stunden am Stück arbeitet. Die Zahl liegt wie so viele andere über dem Durchschnitt der Vergleichsländer. Ist das an sich problematisch? 

Nein. Problematisch ist es, wenn sich diese Belastungen häufen. Wenn es nicht zwei- oder dreimal im Monat passiert, sondern zwei- oder dreimal pro Woche. Das Problem dabei ist, dass die Zeit verlorengeht, die der Mensch nutzt, um sich zu regenerieren. Man wird müde, macht Fehler… Das schlägt sich auf die Arbeitsqualität nieder und kann in manchen Fällen schwerwiegende Konsequenzen haben, Stichwort Arbeitsunfälle. Wer müde ist, aber trotzdem arbeiten muss, der kann die normale Arbeitsleistung nicht mehr bringen. Das schadet auch dem Unternehmen.

Mehrmals pro Woche über 10 Stunden arbeiten zu müssen, ist also kaum tragbar?

Ich kann keine Ferndiagnose liefern. Eine objektive Belastung wirkt in jedem Menschen unterschiedlich. Die Reaktion auf diese Belastung wird Beanspruchung genannt. Inwieweit jemand beansprucht wird, ist individuell. Einem trainierten Radfahrer macht es beispielsweise nichts aus, mit dem Fahrrad auf den Ritten zu fahren. Für jemanden, der nie Rad fährt, ist die gleiche Belastung hingegen zu groß, der wird zu sehr beansprucht. Die Belastung, das heißt die Strecke Bozen-Ritten, ist für beide aber dieselbe. Das gleiche gilt für die Arbeitsintensität. Hier pauschal sagen zu können, 10 Stunden dreimal pro Woche sind zu viel – würde ich mich nie trauen. Was ich aber sagen kann, ist: Es kommt darauf an, wie gut die Einrichtung auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter eingeht, welche Hilfestellungen sie bietet.

 

Wer Gestaltungsspielraum hat kann besser mit Belastungen umgehen.

 

Zum Beispiel? 

Wird dem Überdruck durch Zeitausgleich entgegengewirkt? Gibt es eine ordentliche Pausenregel? Bietet die Einrichtung Hilfestellungen, um emotionale Belastungen aufzufangen? Auch Coaching oder präventive Maßnahmen zum produktiven Umgang mit emotionaler Belastung tragen dazu bei, die Arbeitsumstände möglichst günstig zu gestalten. Eine andere erprobte Möglichkeit sind Qualitäts- und Gesundheitszirkel. Dabei haben Mitarbeiter die Möglichkeit an der Organisationsentwicklung mitzuarbeiten und so die psychische und körperliche Belastung zu mildern. Die Mitarbeiter können als Experten ihres Arbeitsplatzes ziemlich gut einschätzen, was passt und was nicht. Aber auch was unternommen werden kann, um bestimmte Bereiche zu verbessern. Vor allem in großen Betrieben können so, ohne großartige finanzielle Mittel in die Hand zu nehmen, wichtige Änderungen durchgeführt werden. Was es braucht, ist die Bereitschaft, auch strukturelle Änderungen durchzuführen.

Das heißt, es bräuchte individuelle Lösungen, die auf die Bedürfnisse der Einzelnen eingehen.

Auf jeden Fall. Grundsätzlich gilt: Wer Gestaltungsspielraum hat, also seine Arbeit nach seinen Vorstellungen beeinflussen kann, auch selbst planen kann, kann besser mit Belastungen umgehen. Die zweite wichtige Hilfe ist soziale Unterstützung: Wer Arbeitskollegen hat, die einem helfen, wenn man viel zu tun hat, oder die auch mal emotional für einen da sind, ist weit weniger gestresst.

Gibt es frühe Symptome, wie sich eine zu hohe Arbeitsbeanspruchung äußert?

Psychisch erleben wir bei Belastung zuerst eine Anspannung und dann Ermüdung. Wenn die Belastung dauerhaft ist, geht die Ermüdung in Erschöpfung über. Wir werden nervös und gereizt, schlafen schlechter. Handlungsbedarf besteht spätestens dann, wenn ich merke, dass ich mich außerhalb der Arbeitszeit nicht mehr erholen kann; wenn ich über einen längeren Zeitraum von der Substanz zehre. Das ist ein klarer Hinweis für Handlungsbedarf. Ansonsten riskieren wir im Extremfall ein Burnout.

Vor allem Menschen unter 35 Jahren sind einer hohen Arbeitsintensität ausgesetzt. Kann es sein, dass die körperliche und psychische Anstrengung nicht wahrgenommen wird, sich aber dann später gravierend auswirkt?

Das ist individuell sehr verschieden. Wer aber die Freude an seiner Arbeit und an Aktivitäten außerhalb seiner Arbeit verliert, wer in seiner Freizeit oft oder ständig über die Arbeit grübelt, sollte sich über die Grenzen seiner Belastbarkeit Gedanken machen und eventuell Hilfe suchen.

 

Handlungsbedarf besteht spätestens dann, wenn ich merke, dass ich mich außerhalb der Arbeitszeit nicht mehr erholen kann

 

Laut WHO und ILO sind die durch Arbeitszeitbelastung verschuldeten Todesfälle zwischen 2000 und 2016 um 29 Prozent gestiegen. Gibt es auch in Südtirol Hinweise dafür, dass der Druck steigt?

Man muss hier aufpassen. Vor allem bei psychischen Phänomenen haben sich die Messinstrumente verbessert und können somit die Belastung besser wahrnehmen. Zudem ist auch das Bewusstsein dafür gestiegen. Geht es Beispiel um Mobbing oder verbale Gewalt am Arbeitsplatz sind Länder wie die Niederlande in den Studien oft ganz vorne dabei. In den Mittelmeerländern wie der Türkei, Griechenland oder Italien werden hingegen kaum Probleme gemeldet. Hier spielen das Bewusstsein und vorherrschende soziale Praktiken eine wichtige Rolle: zum Beispiel wird ein Verhalten als normal angesehen, oder man schämt sich, einem Interviewer gegenüber zuzugeben, dass man auf der Arbeit schlecht behandelt wird. Der scheinbare Anstieg der Belastungen am Arbeitsplatz könnte vergleichbare Gründe haben.

Tourismus und Landwirtschaft werden als Gründe für die hohe Arbeitsintensität in Südtirol zitiert. Müssen wir das so hinnehmen oder sollten Änderungen angestrebt werden?

Die Landwirtschaft ist sicher die Branche mit den längsten Arbeitszeiten. Das liegt aber in der Natur der Arbeit selbst. Das Vieh muss auch am Wochenende versorgt und die Frostschutzberegnung am frühen Morgen eingeschaltet werden. Bauer sein ist kein 9-to-5-Job und wird es nie werden. Ansonsten halten sich die psychischen Belastungen in der Landwirtschaft aber in Grenzen. Im Tourismus ist das anders, da ist der Termindruck und die Arbeitsgeschwindigkeit hoch: Das Lokal ist voll, alles muss schnell gehen. Nicht umsonst sagen mehr als die Hälfte der Befragten, dass sie dauerhaft ein zu hohes Arbeitstempo aufrechterhalten müssen. Rund 20 Prozent der Beschäftigten arbeiten in der Freizeit, um ihr Pensum zu erfüllen. Bei den emotions-bedingten Belastungsfaktoren berichten 40 Prozent der Beschäftigten darüber, dass sie bei ihrer Arbeit Gefühle verbergen müssen. Das summiert sich.

Was kann dagegen getan werden?

Im Tourismus braucht es zuallererst genügend Personal, ein gutes Miteinander am Arbeitsplatz und eine ordentliche Pausengestaltung. Im Allgemeinen ist aber das individuelle Arbeitserlebnis einer Person eine wichtige Variable für den Umgang mit Belastungen: Jemand, der für seinen Job genügend qualifiziert ist, der Entscheidungskompetenz hat und vor allem Unterstützung von Arbeitskollegen und Chef erhält, ist gegen psychisch belastende Arbeitsbedingungen besser gerüstet als jemand ohne diese Schutzfaktoren. Im Sinne der Prävention könnte man genau hier der Hebel ansetzen.

 

Wer das eigene Stresslevel mit dem ihrer Branche, Altersklasse, u. Ä. vergleichen möchte, kann sich am Stressometer des AFI versuchen.