„Hier ist der Gegensatz besonders krass“
Sarah Wiener ist bekannte Fernsehköchin und Autorin, Biobäuerin und Imkerin. Seit Jahren setzt sie sich für eine ökologische Landwirtschaft und ein gesundes Lebensmittelsystem ein. Ihr Engagement hat sie dieser Woche nach Südtirol gebracht, um am Landesgerichtshof den Pestizidprozess zu beobachten. Seit 2019 sitzt die 48-Jährige, die in Wien aufgewachsen ist, als Parteilose für die österreichischen Grünen im Europa Parlament – unter anderem im Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, wo auch der Südtiroler Abgeordnete Herbert Dorfmann Mitglied ist. Bei ihrer Ankunft in Südtirol besuchte sie einige Kleinbauern und war überrascht zu hören, dass Dorfmann hierzulande als Bauernfreund gilt. „Der Dorfmann? Das ist doch absurd!“, ist ihre Reaktion dazu. Im Interview erklärt sie, warum, spricht über Landwirtschaft und Ernährung und gibt Tipps, wie man Kindern Brokkoli schmackhaft macht.
salto.bz: Frau Wiener, Sie haben in einem Interview einmal gesagt, die Kulinarik eines Landes widerspiegelt den dortigen Zeitgeist. Wenn Sie Südtirol in einem Gericht beschreiben müssten, welches wäre es?
Sarah Wiener: Da würde ich ein typisch Südtiroler Gericht nehmen, wie Strauben. Oder Spinatknödel. Was ich besonders mag, ist diese gehobene Bauernküche, die man hier oft findet. Nicht zu verspielt, oder zu verzerrt – da wird nicht Petersilie zu Origami gefaltet, das ist eine klare und erkennbare Küche, mit wenig Zutaten, aber köstlich.
Mit ihrer Kochsendung „Die kulinarischen Abenteuer der Sarah Wiener“ fahren Sie in verschiedene Länder und entdecken die dortige Küche und Kultur. In einer Reihe entdecken sie zehn Regionen Italiens, in einer anderen Reihe geht es in den Alpenraum, also Schweiz, Österreich, Frankreich. Aber es gibt keine Folge zu Südtirol.
Ich habe auch überlegt: Sakra, ich habe eine ganze Serie zu den Alpen gemacht, war aber kulinarisch mit der Kamera noch nicht in Südtirol. Tatsächlich war ich aber privat schon öfter hier, weil ich erstens gerne wandere, und zweitens die Mentalität der Südtiroler gerne mag.
Was mögen Sie daran?
Jemand hat mir gestern gesagt, die Berge beschützen, aber die Berge beschränken auch die Sichtweise. Ich habe hier so gut wie nur offene, neugierige Menschen getroffen. Diese Erfahrung von bergischen Grantlern oder der Angst vor dem Fremden habe ich persönlich nicht erlebt. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich eine echte Neugierde und eine Leidenschaft für Lebensmittel habe und eine Sympathie für Kleinbauern und Produzenten. Ich glaube, dass die Menschen das merken.
Sie haben im Rahmen Ihrer Südtirol-Reise verschiedene Bauern und Lebensmittelbetriebe besucht.
Ich war gestern bei sehr vielen jungen Lebensmittelhandwerkern. Das sind zum Beispiel artisanale Bäcker, Schockoladenmacher und Biobauern – Menschen, die mit den Händen arbeiten und aus regionalen, kleinen Strukturen etwas Köstliches schaffen. Das ist etwas, das Südtirol ein bisschen verloren gegangen ist. Die haben sich zu sehr konzentriert auf Apfel, Wein und Butter und auf große Wettbewerbsstrukturen, um im europäischen Markt mithalten zu können, dass sie das Naheliegende und ihre vielfältigen Schätze in den letzten Jahrzehnten etwas vernachlässigt haben. Jetzt gibt es gerade eine Gegenbewegung von jungen Leuten, die versuchen, wieder eine Vielfalt einzuführen. Das ist sehr erfreulich.
Im Kontrast dazu steht der Pestizidprozess, für den sie eigentlich nach Südtirol gekommen sind. Hat sich ihr Tourismus-geprägtes Bild der naturnahen, idyllischen Bergregion verändert?
(Lacht) Na, es gibt ja tatsächlich beides. Es gibt diese Einseitigkeit, diese unglaublichen Pestizideinsätze, die es übrigens nicht nur in Südtirol, sondern in allen intensiv bewirtschafteten Monokulturen gibt. Aber hier ist der Gegensatz besonders krass, weil diese Landschaften einfach so wahnsinnig schön sind, und die Menschen herkommen, weil sie die Berge lieben, die frische Luft, die Natur. Sie werfen weniger ein Augenmerk darauf, was abseits der Naturpfade los ist.
Und dort ist einiges los im Streit um den Einsatz von Pestiziden. Das war auch schon vor dem prominenten Fall so.
Als Biobäuerin und als Imkerin habe ich dasselbe Problem: Natürlich möchte ich meinen Nachbarn gerne machen lassen, was er will. Wenn er pestizidbespritzte Lebensmittel essen möchte, seinen Boden verarmt, will ich ihm das nicht verbieten. Allerdings sitzen wir alle im selben Boot. Man kann nicht argumentieren: Ich schlag ja nur ein Leck in meine Seite des Boots, weil wir ja alle untergehen werden. Bodenerosion, Wasserverseuchung, Artensterben, Klimakrise betrifft uns alle. Da müssen wir Rücksicht nehmen, und da muss es auch erlaubt sein zu sagen: Ich bin nicht einverstanden. Heute weiß man, dass zum Beispiel durch Aufwinde, die Pestizide bis in die höchsten Lagen, auch bis in die letzten Alpenwiesen hochgetragen werden. Ich kritisiere aber nicht die einzelnen Bauern, sondern das System dahinter: Die Agroindustrie, die Pharmaindustrie, die Pestizidhersteller. Die am wenigsten daran verdienen und ums Überleben kämpfen müssen, sind die Bauern.
Man kann nicht argumentieren: Ich schlag ja nur ein Leck in meine Seite des Boots, weil wir ja alle untergehen werden. Wasserverseuchung, Artensterben, Klimakrise betrifft uns alle. Da müssen wir Rücksicht nehmen, und da muss es auch erlaubt sein zu sagen: Ich bin nicht einverstanden.
Menschen wie Sie, die sich gegen Pestizide einsetzen und die für grüne Politik stehen, werden hierzulande oft als Bauernfeinde gesehen.
Den Wert, den ich als Bauer habe, ist fruchtbarer Boden. Und den will ich behalten. Deswegen verstehe ich nicht, warum Bauern lieber die Chemieindustrie als Partner haben und die Abhängigkeit von Genossenschaften und Banken, als die Ökologie und die Diversität. Ich glaube, dass das ein plumpes Marketingmittel von einer Agroindustrie-Lobby ist, die so tut, als wären sie die Vertreter der Kleinbauern. Aber wenn man schaut, wer in den letzten vierzig Jahren in der Landwirtschaft regiert hat – das waren nicht die Grünen, sondern das waren die, die sagen, sie verteidigen die Bauern – und wie viele Kleinbauern aufgeben mussten [in Europa geben jährlich 350.000 Bauern ihren Betrieb auf Anm.d.Red.], dann muss man sich sagen: Hoppala, irgendwas stimmt hier nicht.
Trotzdem klagten ursprünglich über 1000 Bauern gegen zwei Männer, die den Einsatz von Pestiziden kritisiert haben.
Es geht nicht darum, einzelne Bauern an den Pranger zu stellen, sondern das System dahinter. Kein Bauer gibt seinen Tieren absichtlich fünf Dosen Antibiotika oder spritzt aus Jux zwanzig Mal im Jahr sein Obst. Da erwarte ich mir eigentlich, dass Bauern und Umweltschützer alle an einem Strang ziehen. Was ein bisschen problematisch ist: wenn Umweltschützer von außerhalb in eine relativ überschaubare Welt kommen, und sie kritisieren. Das kann dann auch schnell missbraucht werden als: Die Fremden kommen, und kritisieren unsere Lebensweise. Das verstehe ich natürlich. Nichtsdestotrotz ist die Kritik berechtigt.
Warum?
Pestizide sind Biozide, die Leben vernichten oder beeinträchtigen. Das passiert nicht nur zielgerichtet, sondern tötet auch unzählige Mikroorganismen, die unsere Böden und uns selbst gesund halten. Dadurch kommt das System in ein Ungleichgewicht: Selbstregulationen versagen. Die Zahl chronisch-entzündlicher Krankheiten wie Darmkrebs, Allergien, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettsucht explodiert. Die Kritik kann als Chance gesehen werden, ein System, das nur nach Masse geht und nicht nach Qualität, zu hinterfragen: Müssen wir so mit unserem Weltenerbe, unserem Reichtum, auch in Südtirol, umgehen? Bauern sagen heute zu mir: „Des hamma imma scho so gmocht.“ Das stimmt nicht. was wir immer schon gemacht haben, ist ökologischer Landanbau. den Spritzbeutel gibt es erst seit ein paar Jahrzehnten. Und trotzdem haben wir es geschafft in 50-60 Jahren unserer Natur und uns so schwere Schäden zuzufügen wie in unserer gesamten Menschheitsgeschichte davor nicht. Da ist schon Kritik und Protest von aufmerksamen, naturliebenden Menschen gefragt und auch gefordert.
Als EU-Abgeordnete und Mitglied im Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung setzten Sie sich für mehr Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft und dem Lebensmittelsystem ein. Gerade tut sich in dem Bereich einiges, zum Beispiel die Reform der EU-Agrarpolitik, die dabei ist, abgesegnet zu werden.
Die Agrarreform ist eine Farce. Man muss ganz klar sagen, das liegt auch an den konservativen Parteien. Da gibt es ja auch einen Südtiroler?
Sie meinen den EU-Parlamentarier der konservativen Europäischen Volkspartei EPP Herbert Dorfmann, der mit ihnen im Ausschuss für Landwirtschaft sitzt?
Genau. Es ist ja erstaunlich, dass Herr Dorfmann vor Ort offensichtlich sehr für grüne Werte kämpft.
Inwiefern?
Hier in Südtirol höre ich über Dorfmann „Ja, wir haben einen Kämpfer für Kleinbauern und Bergbauern!“. Das hat mich dann doch verwundert. Herr Dorfmann, den ich persönlich sehr sympathisch finde, ist ein Sprecher der Agrar-EPP, die eine echte Transformation der Landwirtschaft verhindert. Deren Politik steht für Gentechnik, gegen eine Reduktion von Mineraldünger und Pestiziden und gegen die Bevorzugung von kleinbäuerlichen Betrieben. Die Flächensubventionierung soll unbedingt beibehalten werden. [Im Moment werden Gelder der EU an landwirtschaftliche Betriebe nach Anzahl der Hektar, also nach Größe der Fläche, verteilt. Das benachteiligt Kleinbauern und berücksichtigt weder die Qualität noch ökologische Aspekte. Die Agrarreformisten wollen dieses System ändern und nach neuen Kriterien, z.B. Nachhaltigkeit, ausrichten, Anm.d.Red.]. Man kann es eben nicht dem Welthandel, der Agroindustrie und gleichzeitig den regionalen kleinbäuerlichen Strukturen rechtmachen. vielleicht ist er aber einfach nur in der falschen Partei im EU-Parlament.
Wo ist die Vielfalt der alten Obstsorten? Die Vielfalt der alten Rassen? Es reicht nicht, handwerklich guten Käse zu machen, wenn man den Rindern dann importiertes Soja füttert,
Als Köchin und Autorin zahlreicher Ernährungsbücher engagieren Sie sich für eine gesündere und natürliche Ernährung. Essen wir falsch?
Beim Kochen geht es um Freude, Sinnlichkeit, Geschmack und Vielfalt. Aber wir haben immer weniger Wahlfreiheit. Auch in Südtirol: Wo ist die Vielfalt der Gemüsesorten, der alten Obstsorten? Die Vielfalt der alten Rassen? Es reicht nicht, handwerklich guten Käse zu machen, wenn man den Rindern dann importiertes Soja füttert, das wahrscheinlich noch genmanipuliert ist. Da verändert sich die Milchqualität und das kann man schmecken. Weltweit verdrängt die verarbeitete Nahrungsmittelindustrie die frischen Lebensmittelstile.
Warum ist es so schwer, weg von solchen ungesunden und unnatürlichen Essgewohnheiten zu kommen?
Weil es David gegen Goliath ist. Die Industrie hat Geld, Macht, Lobby. Die anderen sind Einzelpersonen, die etwas Gutes wollen, aber merken, dass sie dafür nicht automatisch belohnt werden. Du kriegst nicht Geld dafür, dass du besonders ökologisch, vielfältig, oder geschmackvoll produzierst. Sondern: Hast du mehr, wird dir mehr gegeben. Der Status Quo schützt die Masse. Die Kleinen, die sich dagegen wehren, sind die großen Verlierer, weil sie keine Lobby haben.
Verlierer sind auch Kinder, die immer ungesünder essen und immer mehr von Übergewicht geplagt sind. Mit ihrer Stiftung versuchen Sie, Kindern gesundes Essen nahezulegen.
Wir bringen den Kindern Kochen bei, und zwar aus Grundnahrungsmitteln. Das ist wichtig, um ihnen die Autonomie und die Selbstwirksamkeit ihres Körpers nahezulegen. Wenn du nicht kochen kannst, wirst du immer fremdgefüttert werden, weil du keine Wahl hast. Du hast ein Geschmacksgedächtnis, und das musst du genauso erlernen, wie jedes andere. Du wirst nicht geboren mit einer Vorliebe für Blauschimmelkäse oder Radicchio. Das ist wichtig, weil dein Körpergedächtnis kann dir sagen, was du brauchst, wenn es dir nicht gut geht. Kinder legen in den ersten 1000 Lebenstagen ihre Ernährungsvorlieben an.
Kinder wehren sich aber oft gegen Essen, das man ihnen auf den Tisch legt.
Kinder bis zu 2-3 Jahre essen alles. Sogar rohe Leber. Weil sie ein so gesundes Empfinden haben, keine Vorurteile. Weil wir unreflektiert essen, wofür Werbung gemacht wird, und oft süchtig nach Zucker sind, füttern wir unsere Kinder mit Süßigkeiten oder Junkfood. Dadurch konditionieren wir sie darauf. Ich kenne einige Eltern, die ihre Kinder mit Vollkorn, und viel Rohkost füttern, und die vermissen auch keinen Zucker, weil sie es nicht anders kennen. Für mich grenzt es an Körperverletzung, wenn man Kindern schwerstverarbeitete Nahrungsmittel gibt. Die Quittung kommt oft Jahre später.
Für mich grenzt es an Körperverletzung, wenn man Kindern schwerstverarbeitete Nahrungsmittel gibt.
Dann kommt das Kind in den Kindergarten oder in die Schule, und schon haben Eltern keine Kontrolle mehr darüber, was das Kind isst.
Deswegen brauchen wir einen gesetzlichen Rahmen, der gesunde – und das ist immer auch köstliche – Ernährung vereinfacht und befördert und das Falsche, das Krankmachende bestraft und erschwert. Jetzt ist es genau das Gegenteil. Das ist eine Manipulation weniger Großkonzerne. Und deswegen bin ich auch im Europaparlament.
Haben Sie als ernährungsbewusste Profiköchin, Mutter und mittlerweile Großmutter, einen Tipp, wie Eltern ihre Kinder dazu bringen können, ihren Brokkoli aufzuessen?
Wenn wir kleine Kinder füttern, schieben sie das Essen oft weg zu uns, und wir tun dann nur so, als würden wir es essen, und dann wieder zu ihnen. Aber wir müssen ihnen das vor-essen, damit die Kinder sehen, das ist gut! Das ist die erste Lektion. Die zweite: Man muss Kindern oft neunmal etwas anbieten. Ich würde Kinder nicht zwingen, etwas zu essen, das sie nicht wollen. Aber, das ist wichtig: Man kann kein dreijähriges Kind fragen „Was willst du essen?“ Es wird gekocht, und zwar vielfältig und frisch, und wenn das Kind es nicht will, dann soll es das Essen halt lassen. Hierzulande ist noch keiner über Nacht verhungert. Bloß nicht aus Sorge nur Eis und Pommes servieren!
Typische erbärmliche Reaktion
Typische erbärmliche Reaktion eines SVPler. Auf keinen einzigen der Kritikpunkte eingehen (weil sie wohl wahr sind), stattdessen irgendeine nicht vorhandene Leiche im Keller des Kritikers suchen. Das könnt ihr gut, aber diese Taktik durchschauen immer mehr Menschen, zum Glück.
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