Zurück zum Zentralismus

Trotz vielversprechender Ansätze in der Verfassungsreform von 1999 und 2001 und des Drucks aus dem Norden für mehr Föderalismus steht der italienische Regionalstaat jetzt vor dem rollback. Überraschend, wie wenig Widerstand dagegen aufgeboten wird: keine Barrikaden weder in Mailand, noch in Turin noch in Venedig.
Dabei fällt diese Rezentralisierung, wenn die in erster Lesung genehmigte Verfassungsreform nächstes Jahr kommt, ziemlich heftig aus. In vielen grundlegenden Bereichen hat in den Regionen wieder ausschließlich Rom das Sagen: Grundregeln der öffentlichen Finanzen, Verwaltungsverfahren, Arbeitsrecht der öffentlich Bediensteten. Allgemeiner Gesundheitsschutz, Bildungspolitik, Ergänzungsrentenversicherung, Gemeindeordnung, Außenhandel, geschützte Berufe, Raumordnung und Zivilschutz, Energiewirtschaft, strategische Infrastrukturen. Nicht einmal die Kultur, den Tourismus und den Sport können die Regionen mehr selbst regeln, auch der Landschaftsschutz wird ihnen abgenommen. Das alles fiel bisher unter die „konkurrierende Gesetzgebung“, wandert jetzt aber zurück zum Staat. Um diese Art von Zuständigkeit ist es nicht schade, war sie doch ein Konfliktherd sondergleichen. In einem echten Regionalstaat hätte all diese Regulierungsmacht zu den frei gewählten Regionalparlamenten wandern müssen, nicht umgekehrt. Daran sind freilich die regionalen politischen Eliten nicht unschuldig.
Das ist noch lange nicht alles, denn auch bei den wenigen verbleibenden Zuständigkeiten der Regionen kann sich der Staat viel kräftiger einmischen als bisher. Das sog. Subsidiaritätsprinzip („Was auf unterer (bürgernäherer) Ebene besser geregelt und verwaltet wird, soll Gemeinden und Regionen zufallen“) wird sonst immer beschworen. Jetzt wird es auf den Kopf gestellt, denn neues Motto in Italien ist die supremacy clause: „Grundsätzlich macht es der Staat besser, im Ausnahmefall kann er die Verwaltung an die Regionen delegieren.“ Ein Irrweg, der auch die regionale Demokratie aushöhlt.
"Eine Regionenkammer sieht anders aus."
In diesem Licht ist der neue Senat eine hybride Verlegenheitslösung. Dass Italien sich vom Zweikammersystem verabschiedet und überhaupt Politikerzahl und Politikosten reduziert, war überfällig. Doch eine Regionenkammer sieht anders aus. Die neue „Versammlung der territorialen Institutionen“ wird bei der Gesetzgebung beratend mitmischen, bei Verfassungsänderungen mitstimmen und den Staatspräsidenten mitwählen, aber tritt in sich schon geschwächt an. Was sollen die Regionen groß mitmischen, wenn ihnen vorher per Verfassungsänderung ein Großteil der Zuständigkeiten abgenommen wird?
Zu Recht haben alle Südtiroler Vertreter die zentralistische Ausrichtung dieser Reform kritisiert. Doch politisch hauptverantwortlich dafür ist eben doch der Bündnispartner PD. Die Südtirol-Autonomie wird zwar nicht angetastet, aber für alle Regionen mit Sonderstatut wird es in diesem Szenario enger. „Ein Ausbau der Autonomie wird ein ganz harter Kampf“, sagt Hans Berger in den Dolomiten, denn jetzt schon wächst der Abstand zwischen den Normalregionen bei Finanz- und Kompetenzausstattung gewaltig. Das fördert die Konkurrenzsituation zwischen Normal- und Spezialregionen. Gegen einen weiteren Ausbau unserer Autonomie wird sich paradoxerweise die neue Pseudo-Regionenkammer verwehren.
nun, da werfe ich mal
nun, da werfe ich mal provokativ in den raum: braucht es wirklich in allen gebieten föderalismus, regionalität? braucht es zig verschiedene arbeitsschutzgesetze, weil die menschen in verschiedenen regionen unterschiedlich schutzbedürftig sind? braucht es in jeder region eigene tierschutzgesetze, weil tiere regional einen unterschiedlichen wert haben? braucht jede region ihre eigenes schulsystem, weil die kinder so unterschiedlich sind? jede region das eigene jugendschutzgesetz, weil in bestimmten orten jugendliche vielleicht reifer sind? eigene tabakschutzgesetze, eigenen landschaftsschutz, ect. ect.? man kann gut in deutschland und österreich beobachten, dass föderalismus durchaus auch viele ungereimtheiten, ungerechtigkeiten bzw. ineffizienz verursachen kann.
Grundsätzlich ist das
Grundsätzlich ist das Subsidiaritätsprinzip - insbesondere auf EU-Ebene - ein nützliches Kompetenzverteilungskriterium. Näher am Bürger, daher passgenauer, weil den unterschiedlichen Realitäten Rechnung tragend, und kontrollierbarer, weil Verwalter und Verwaltete viel direkter in Beziehung stehen.
Aber es hat sich gezeigt, dass ein in der Regel positive Wirkungen entfaltendes Prinzip im Einzelfall, hier dem italienischen Politikverständnis, das ja ein Spiegel der Gesellschaft und deren Beziehung zu den Institutionen ist, versagen kann. Daher, und das ist wichtig anzufügen, rührt diese Rezentralisierung her. Die Föderalisierung des italienischen Staates hat zu unglaublich aufgeblähten regionalen und lokalen Bürkoratien geführt, noch dazu ohne spürbare Vorteile für den Bürger. Die neu zur Verfügung stehenden Geldmittel flossen in die Schaffung zusätzlicher, ineffizienter Verwaltungsposten und öffneten der lokal organisierten Klientelwirtschaft Tür und Tor. Die mit neuen Mitteln ausgestatteten Regionen verstanden es nicht, diese in produktive und innovative Bereiche zu lenken, um ihre Territorien wirtschaftlich fit zu machen, sondern schufen weitere unproduktive Renditepositionen. Die Nähe zum Bürger brachte leider nicht die erhoffte Veranwortungsübernahme durch die Lokalverwalter, sondern war im Gegenteil mit ein Grund dafür, noch mehr Wähler finanziell bei der Stange halten zu wollen (oder müssen) und tausende von territorialen Netzwerke bedienen zu müssen. Ein Beispiel für alle sei die Schaffung vier neuer Mikroprovinzen durch die Region Sardinien im Jahre 2001, die für Gegenden von der Größe und Einwohnerzahl eines Südtiroler Bezirks neue Verwaltungsapparate mitsamt Hunderten von politischen und verbeamteten Posten schafften. So hat die Provinz Ogliastra zwei Hauptorte (Lanusei und Tortolì) bei gerade einmal 57.000 Einwohnern!
Einer der größten Steuergeldfresser, die öffentliche Sanität, war bereits seit Einrichtung der Regionen in deren Zuständigkeit, und die Regionalverwalter hatten dabei hinlänglich ihre Unfähigkeit zu einer effizienten Verwaltung bewiesen.
Vielleicht ist die italienische Gesellschaft für eine zu nahe am Bürger liegende Verwaltung einfach noch nicht reif. Denn Sparmaßnahmen wie die Abschaffung von unnützen Körperschaften und Posten lassen sich in einer Gesellschaft, die stark auf persönliche Bekanntschaften und Netzwerke fußt, wohl eher vom fernen Rom aus durchsetzen als von den Wählern allzunahe stehenden (und zu wohlwollenden) Lokalverwaltern. Die sich aneinanderreihenden Korruptions- und Günstlingsskandale haben auch vor den reichen und vermeintlich seriöseren Regionen des Nordens wie der Lombardei (Formigoni; Expo; Privilegienstadel Regionalrat) und dem Veneto (Mose) nicht halt gemacht und alle Parteien - von links bis rechts - sowie alle Funktionärsebenen - vom Stadtviertelrat zum Großstadtbürgermeister und Regionalpräsidenten - mitgerissen.
Was für Österreich, Deutschland und die Schweiz gut geht, muss nicht automatisch auch für Italien passen. Frankreich ist bspw. ein traditionell noch zentralistischer Staat und gerade dabei, lokale Verwaltungseinheiten (Departements) zu größeren zusammenzulegen.