Naja, mit Meinungen vehält…
Naja, mit Meinungen vehält es sich wie mit den erwähnten Assholes… Jeder hat eine.
Man hatte den ausgespuckten Kaffee am vergangenen Mittwochmorgen noch gar nicht aufgewischt, da folgte schon die nächste Unappetitlichkeit: Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass Trump wieder ins Weiße Haus einzieht, mussten Exponenten der Südtiroler Rechten noch die Ekelkirsche auf der Torte des Grauens liefern. Euphorisch, ausgelassen, ja im besten Falle naiv beklatschten die üblichen Verdächtigen den Triumph des Orangen: Anna Scarafoni von den Fratelli freute sich am Morgen nach den US-Wahlen auf Facebook über einen „magnifico risveglio“.
Freiheitlichen-Obmann Roland Stauder, in der jüngeren Vergangenheit bereits öfter mit übersprudelnden Wortmeldungen zum Siegeszug der europäischen Rechtspopulisten auffällig geworden (den Erfolg des Rassemblement National nannte er eine „Sternstunde der Demokratie“), ließ sich zu der Gaga-Aussage hinreißen, er setze „große Hoffnungen in die Fähigkeit und Entschlossenheit des neuen Präsidenten, internationale Krisen zu beenden“. Fähigkeit? Ich meine, wir reden von Trump: Einem Mann, der sein Klo mit vertraulichen Dokumenten verstopft hat. Im Landtag fühlte sich an jenem Mittwoch Bernhard Zimmerhofer von der Südtiroler Freiheit apropos gar nichts bemüßigt, die Anwesenden über seinen Gemütszustand zu informieren: Er habe eine lange Wahlnacht hinter sich, verlautbarte er mit gewichtiger Miene; ganz so, als hätte er höchstpersönlich den Einzug ins Weiße Haus geschafft (nun ja gar keine so abwegige Vorstellung mehr): Trumps Sieg sei eine „Chance für Europa“. Den Vogel verlässlich abgeschossen hat aber wieder einmal Otto Mahlknecht von den Freiheitlichen: Mit rotem MAGA-Käppi bewehrt, comme il faut für einen eingefleischten Trumpianer, reckte er auf Instagram glückselig den Daumen hoch und ließ wissen, das sei ein „sensationeller, großartiger Sieg, vor allem für die Demokratie“.
Nun kann man mir freilich Kleinlichkeit und Missgunst vorwerfen: Nur weil ich mit Trump nicht happy bin, milde ausgedrückt, darf sich kein anderer über seinen Erfolg freuen? Nur weil ich mit seiner Politik nicht d’accord gehe, freundlich formuliert, werden Politiker*innen abgewatscht, die da weniger Bedenken haben? Nun, so einfach ist es nicht. Hier geht es um mehr als eine bloße Geschmackssache. Halten wir fest: Mit Trump kehrt ein Individuum ins Zentrum der Macht zurück, dessen Vergehen keine lässlichen Jugendsünden sind. Wegen der Verschleierung von Schweigegeldzahlungen an eine Porno-Darstellerin wurde er verurteilt, andere Strafverfahren laufen noch (und er wird alles daran legen, sie jetzt einstellen zu lassen): Wegen seiner Rolle beim Sturm auf das Kapitol, (5 Tote, zahlreiche Verletzte), den er wohl als Staatsstreich angelegt hatte, weil er unrechtmäßig eine große Anzahl an geheimen Dokumenten an sich genommen hat, weil er 2020 versucht hat, das Wahlergebnis in Georgia mit nicht fundierten Betrugsvorwürfen zu kippen. Daneben haben wir noch Trumps zivilrechtliche Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs, zahlreiche Vorwürfe der Vergewaltigung und der sexuellen Übergriffe, die Verurteilung seines Immobilienkonzerns wegen Steuerbetrugs, seine menschenverachtenden Aussagen und Androhungen gegenüber Frauen, Immigranten, der LGBTQ-Community, Menschen mit Beeinträchtigung, Journalisten, etc., seine zutiefst anti-demokratische Haltung und autoritären Tendenzen, seine gefährliche Nähe zu Diktatoren, sein dubioses Techtelmechtel mit Tech-Milliardär Elon Musk und und und. Kein Wunder, dass Vertreter des rechten Spektrums, die ihren moralischen Kompass noch bei der Hand haben, nicht darüber jubeln, dass diese Figur zurück ist, sondern auffallend still bleiben – und gut daran tun: Schließlich ist seine Biografie mit den von ihnen traditionell vertretenen christlichen Werten von Familie, Rechtschaffenheit, Redlichkeit nicht vereinbar. Dass Patrioten sich über den Erfolg von Patrioten freuen, ist nachvollziehbar. Dass dies aber ganz ohne einen Hauch von Kritik an einem mehr als nur zweifelhaften Protagonisten passiert, ist unverzeihlich. Die Schadenfreude über die Niederlage für die als so bedrohlich empfundene „Woke- und Cancel-Culture“ ist offenbar größer als die Bereitschaft zur Einsicht, welch dramatische Folgen Trumps Sieg für die Menschenrechte, die Umwelt, das Zusammenleben haben wird – nicht nur in den Vereinigten Staaten. Eine Kurzsichtigkeit und Naivität, mit der man eigentlich nicht auch noch hausieren gehen sollte.
Naja, mit Meinungen vehält es sich wie mit den erwähnten Assholes… Jeder hat eine.
Trump wurde gewählt, weil man Artikel wie diesen eigentlich nicht mehr lesen kann.
Was hat Kamala Harris ihm denn so weit voraus? Und ja, man kann und darf sich über Trumps Wahlsieg freuen. Niemand geht damit "hausieren".
Mit Vielem d'accord, zur „Woke- und Cancel-Culture“ jedoch ein Zusatz:
Dieser Kulturkampfschauplatz hat mit dazu beigetragen, viele ganz normale Mittelschichtswähler trotz Trump nicht Kamala wählen zu lassen. Die ZEIT hatte ausführliche Interviews geführt, aus denen z.B. hervorging, dass ein Paar aus Ohio mit beidseitiger Migrationsgeschichte sich die Nase zuhaltend Trump wählt, weil die Frau sich nach Aburteilungen nicht mehr traut, offen ihre Meinung zu sagen.
Der Chefredakteur der REPUBBLICA, einem Medium, von dem man ebenfalls nicht behaupten kann, dass es im Dunstkreis des Rechtspopulismus irrlichtert, führt unter den Gründen des Wahlausgangs auch drei Kulturkampf-Aspekte an:
1. Die Pro Gaza-Campus-Proteste einer militanten Minderheit, die ein Gefühl der Unsicherheit an den, den Demokraten nahestehenden Elite-Unis verursachten, hätten dazu geführt, dass 43% der sonst demokratisch wählenden jüdischen Bevölkerung in New York Trump gewählt haben.
2. Der Versuch, die Kolumbus-Statue in New York im Namen der Minderheitenrechte (Natives) zu entfernen wird exemplarisch für die Ekzesse der Woke-Bewegung angeführt, deren Intersektionalitätstheorie zu einem Verlust an Freiheit führte, indem die Gesellschaft in Unterdrückte und Unterdrücker eingeteilt würde, letztere (unabhängig von ihrem konkreten Tun) dargestellt von weißen heterosexuellen Männern .
3. Die Polemik um die Transgender-Toiletten an einer Schule in Ohio, nachdem diese Trans-Frauen erlaubt hatte, die Frauen-Toiletten zu benutzen und das Ganze vor Gericht landete mit dem Ergebnis, den Bundesstaat zum Epizentrum des Clashs über die Grundwerte der Familie zu machen.
Ich teile die Meinung, dass die Vehemenz, ja teilweise Intoleranz der Woke-Bewegung viele gemäßigte Wähler zu Trump gedrängt hat bzw. zu Hause bleiben ließ, obwohl Harris selbst versucht hat, sich von typischen identitätspolitischen Themen fernzuhalten. Aber bei den Vorwahlen vor 4 Jahren hat sich sich dahingehend als besonders eifrig hervorgetan und grundsätzlich wird diese moralisierend-belehrend-aburteilende Geste den Demokraten zugeschrieben. Ich glaube, Trumps Wahl ist zu einem guten Teil dem Backlash darauf geschuldet. Das sollte m.E. auch uns Europäern zu denken geben. Die Mehrheit der Wähler von AfD, FPÖ oder JWA sind nicht Faschos, nehmen aber all die zum Schluss des Beitrags erwähnten Risiken und Nebenwirkungen in Kauf, weil die identitätspolitische Kränkung, die ihnen aufgrund ihres So-Seins-wie-sie-sind (weiß, über 50, hetero, cis, ohne körperliche Beeinträchtigung, nicht muslimisch oder übergewichtig (-> fat studies)) widerfährt, ihre Lebenseinstellung und/oder -leistung in Frage stellt oder gar angeprangert. Da müssen sich linke, liberale, progressive Parteien künftig taktisch klüger zeigen, wenn sie wieder mehrheitfähig werden wollen.
Lieber Martino, wenn dir Trump im Schutz der Wahlkabine tatsächlich als das kleinere Übel erscheint, dann hast du ein Problem und bist du ein Problem und beider Ursache ist nicht die Linke in all ihren teils grotesken Ausblühungen. Und wenn wir die woken Heißluft-Trompet*innen als repräsentativ für den Mainstream der Linken missverstehen, zumal der US-"Linken", stricken wir bereitwillig an Trumps Narrativ mit und gleichzeitig an der billigen Selbst-Entlastungslegende der "Notgemeinschaft neuerdings zum Trumpismus Bekehrter" (die es übrigens bis in die zugigsten Alpentäler hinein gibt). Den zivilgesellschaftlichen und ethisch-moralischen Absturz ins Bodenlose, den diese Wahl so schmerzhaft verdeutlicht, kann die Linke mit "klügerem Taktieren" sicher nicht auffangen. Unsere Zeit stellt uns vor komplexe Probleme und eine Linke, die sich ernst nimmt, kann darauf nur mit herausfordernden Lösungsansätzen reagieren. Der "Souverän" hat zu entscheiden, ob er sich auf diesen anspruchsvollen Weg macht oder sich lieber von banalen Hass-Erzählungen einspeicheln lässt, dem neuen Opium für das Volk. Diese Verantwortung soll er sich von niemandem nehmen lassen und auch niemandem leichtfertig zuschieben.