Kultur | Bibliophile Fragen

„Leise Resonanz mit dem Unbekannten“

Maria Christina Hilber ist Schriftstellerin und Künstlerin und eine der drei Autor*innen des Euregio Dramalabs. Und sie hat "die immer gleichen Fragen" beantwortet.
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Foto: Privat
  • SALTO: Welches Buch hat Sie in Ihrer Kindheit nachhaltiger geprägt, als Sie damals je geglaubt hätten? 

    Maria Christina Hilber: Daheim stand irgendwann eine, von der Bibliothek ausgeschiedene und reparierte Ausgabe der Dolomitensagen. Sie war in einer alten Frakturschrift gedruckt und, was mich am meisten anzog, der Buchkörper war kopfüber in den Bucheinband geklebt. Um dieses geheimnisvolle Buch lesen zu können, habe ich die kantige Schrift erlernt, sie mir anverwandelt sozusagen und bin dann wieder und wieder in die Berghöhlen eingestiegen, um wieder herauszukommen und verwundert diese andere Welt zu betrachten.

    Welcher letzte Satz eines Romans ist und bleibt für Sie ganz großes Kopfkino? 

    Es ist doch ein menschlicher Zug, etwas, was man möchte, weil es nützlich, essbar oder schön ist, in eine Tasche oder einen Korb zu legen oder in ein Stück zusammengerollte Rinde, ein zusammengerolltes Blatt, oder in ein aus dem eigenen Haar gewebtes Netz, was man eben gerade zur Hand hat, zu tun und es mit nach Hause zu nehmen, nach Hause, das auf seine Art ein anderer, größerer Beutel, eine größere Tasche ist, ein Behältnis für Menschen, und dann nimmt man es heraus und isst es oder zeigt es herum oder legt es zu den Arzneien oder in den Schrein oder in ein Museum, an den geweihten Ort, den Bezirk, der das Heilige enthält, und dann am nächsten Tag, macht man wahrscheinlich wieder das Gleiche - wenn dieses Tun menschlich ist, wenn es das ausmacht, dann jedenfalls bin ich ein Mensch. Ganz und gar, frei und freudigen Herzens, das erste Mal. 
    Aus „Die Tragetaschentheorie der Fiktion“ von Ursula Le Guin in „Der Pilz am Ende der Welt“ von Anna Lowenhaupt Tsing
     

    Vor Anita Pichlers Schlüsselloch sitze ich immer wieder und starre gebannt in die Wohnung von Haga Zussa.

  • Maria Christina Hilber: Schriftstellerin, Künstlerin. Sie wuchs auf einem Berghof in Terenten auf und lebt / arbeitet in Südtirol/Italien. Nach dem MA-Studium von Art&Science, Universität für Angewandte Kunst Wien, entwickelte sie Hörspiele, Essays und Textflächen für performative Interventionen, u. a. im Schauspielhaus Wien, beim Outdoor-Festival Lana Live, den Vereinigte Bühnen Bozen. Ihr Augenmerk liegt auf der Erforschung von syndromhaften Erscheinungen. 2015/2017 initiierte sie u.a. das Temporäre Literaturhaus Casa Nang. Sie ist Gründungsmitglied von ZeLT – Europäisches Zentrum für Literatur und Übersetzung ( www.zelt-lab.eu) Sie ist gewählte Autorin des Euregio Dramalabs (eine von drei) mit dem Text "Im Land der Geneigten. (Eine Aufrichtung)" Foto: Daniela Radmüller

    Reimen ist doof, Schleimen ist noch doofer… Auf welches – anscheinend gute – Buch konnten Sie sich nie wirklich einen Reim machen?

    Bei einigen Werken war die Irritation angesichts von Sprache, Inhalt oder Duktus größer als die Sehnsucht nach dem Weiterlesen. Aber diese Bücher verschiebe ich dann, wie in einer guten Visualisierung, wertschätzend aus meinem Blickfeld und stelle sie in einen offenen Bücherschrank, damit sie weiterwandern können. Daher kann ich mich nicht mehr wirklich an Titel erinnern. 

    Ein Fall für Commissario Vernatschio. Wie erklären Sie einem Außerirdischen die geheimnisvolle Banalität von Lokalkrimis? 

    Ich weiß leider nicht, wie „lokal“ zu denken wäre. Aber aus Fräulein Smillas Gespür für Schnee von Peter Høeg habe ich so viel über die Arten und Zustände von Schnee erfahren, dass der Rest der Erzählung fast nicht mehr so wichtig war.

    Gewichtig! Welchen Buch-Tipps schenken Sie noch uneingeschränkt Vertrauen? 

    Ich horche oft Kolleg:innen zu, Podcasts, manchmal erwischt mich ein Titel und ich kann nicht mehr aufhören zu suchen, bis ich das Buch in der Hand halte. Im Grunde ist es aber immer auch ein Gefühl, eine leise Resonanz mit dem Unbekannten, die mich in ein Werk hineinzieht.

    Was für ein Fehlschlag! Welches Buch würden Sie auf einer einsamen Insel zurücklassen? 

    Da diese Insel im Meer von „Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie“ von Gilles Deleuze und Fèlix Guattari liegt, erübrigt sich die Frage. Einen Fehlschlag gibt es per se nicht. 

    Das Rauschen des Blätterns. Welches Buch würden Sie auf keinen Fall am E-Book-Reader lesen?

    Wahrscheinlich alle Werke, die nicht Handbücher und Sachbücher sind. Gewiss keinen Lyrikband. 

  • Foto: SAAV

    Welches Buch zu Südtirol oder eines/einer Autors/Autorin aus Südtirol würden Sie unbedingt weiterempfehlen? 

    Ich habe da kein einzelnes Werk sondern ein Kaleidoskop von Kolleg:innen und ihren Texten vor mir, aus dem ich nicht wählen möchte. Vor Anita Pichlers Schlüsselloch sitze ich immer wieder und starre gebannt in die Wohnung von Haga Zussa. Bei Maxi Obexer habe ich Zugänge zur Narration gefunden, die meiner Suche einen ernsthaften Kontext und Legitimation geboten haben. Greta Maria Pichlers Gedichte verzaubern mich mit ihren Gedankenverschiebungen, Nadia Runggers Texte mit ihrem ernsthaften Augenzwinkern, Arno Dejaco mit dem drängenden und liebevollen Beat seiner Bühnenpoesie, Miriam Unterthiner mit ihrem Insistieren, das bis in die Matrix der Sprache vordringt. Erika Wimmer Mazohls Wolfs Tochter fasziniert mich, auch weil der Roman den Dialog von Literatur und Wissenschaft sucht. Sabine Grubers Dauer der Liebe hat mir, ohne dass ich darauf vorbereitet war, sehr viel über die Liebe und die Architektur ihrer Sprache gelehrt. Rut Bernardis Sëida führt hin zu einem Schilf, das in der Fanes-Erzählung ein großes Rätsel darstellt. Ruts Stimme liegt mir im Ohr, zeitlos. Tanja Raich und Jesolo ist genauso klar, wie ihr Artikel in der Zeit. Sepp Malls leises Schreiben zieht mich immer tiefer in seine Texte, die ich ohne diese zarte Handreichung nicht ertragen könnte. Martin Trogers Bücher erstaunen mich und wie sehr mich sein Schreibtandem mit Anna Neuwirth inspiriert hat. Jörg Zemmlers Gedichte werde ich meiner Tochter wieder und wieder vorlesen. Aus Roberta Dapunts Lyrik dringt die Stille durch, eindringlich (wie sehr ich sie brauche) und bei Stefano Zangrandos Texten und Übersetzungen liebe ich es, mich mit den diversen Sprachwelten und Zugängen zur Sprache zu beschäftigen. Anna Rottensteiner und die „In-der-Pandemie-geschrieben-Publikation“ Landkörper - Körperland gehört für mich in die Bibliothek der Gegenwartsbewältigung. Maddalena Fingerle, Selma Mahlknecht, Waltraud Mittich, Toni Bernhart, Martin Plattner, Gerd Sulzenbacher, Matthias Vieider, Louis M.C. Schropp, Eeva Aichner, Barbara Zelger, Barbara Bachmann… Wenn ich mir diese Auflistung so ansehe: Ich empfehle die Vielfalt. Perlen… überall

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