Gesellschaft | Digitalisierung

„Der Kampf um unsere Aufmerksamkeit“

Digitalstress betrifft uns alle im Alltags- und Berufsleben. Im Webinar der Diskussionsreihe „AFI im Dialog“ sprechen Tim Weitzel und Manuel Oberkalmsteiner vom Forum Prävention über Auswirkungen und Präventionsmaßnahmen des „Techno-Stress“.
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Foto: Pexels/cottonbro studio
  • Gestern (11. Dezember 2024) veranstaltete das Arbeitsförderungsinstitut (AFI) im Rahmen seiner Webinarreihe „AFI im Dialog…“ eine Expertenvorstellung über das Thema „Digitalstress – die neue Volkskrankheit?“. Dabei beleuchteten Tim Weitzel, Professor für Wirtschaftsinformatik, und Manuel Oberkalmsteinerm, Experte für die Themen Social Media und Digitalwelten vom Forum Prävention, die weitreichenden Auswirkungen von Technostress im beruflichen und privaten Kontext. 

  • Technostress in der Arbeitswelt

    Tim Weitzel, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, sprach über den sogenannten „Techno-Stress“, der mittlerweile zu einer weit verbreiteten Belastung in der Gesellschaft geworden ist. Die Digitalisierung führe zu einer ständigen Informationsflut und zu einem Druck, dauerhaft erreichbar zu sein. Dies könne nicht nur subjektive Überforderung, sondern auch physiologische messbare Stressreaktionen auslösen. Dieser Stress habe konkrete Auswirkungen auf die Gesundheit, Arbeitszufriedenheit und Produktivität der Mitarbeitenden und könne sogar zu einem Burnout führen.

     

    „Ständige Erreichbarkeit führt zu einer anhaltenden Belastung.“ 

  • Tim Weitzel: „Ansätze zur Vermeidung oder Verbesserung von Technostress bleibt eine ernsthafte Herausforderung.“ Foto: Spektrum.de/SciLogs

    Verschiedene Formen des Technostress können verschiedene Auswirkungen auf den Menschen haben. Das Phänomen der „Techno Overload“ bezeichnet beispielsweise eine Überlastung durch zu viele digitale Reize, die häufig bei der Einführung neuer IT-Systeme auftritt. Laut Studien kann diese Überforderung zu steigenden Krankenständen und Fluktuation vom Arbeitsplatz führen. Die „Techno Invasion“ beschreibt eine zunehmende Verwischung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit durch permanente Erreichbarkeit über Smartphones und E-Mails. „Diese ständige Erreichbarkeit und damit verbundenen Unterbrechungen des Arbeitsflusses führt zu einer anhaltenden Belastung. Das trägt zur Entwicklung von Stresssymptomen bei und kann Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben“, erklärte Weitzel. 

     

    „Das kann zu Spannungen führen.“

     

    Besonders problematisch sei, dass die eigentlich beliebte Homeoffice-Lösung den Druck oft verstärke. Rollenkonflikte zwischen beruflichen und privaten Verpflichtungen – beispielsweise familiären Verpflichtungen und beruflichen Anforderungen – seien oft nur schwer zu meistern. Auch der sogenannte „Home-Office-Neid“, der Eindruck, dass Homeoffice-Arbeitende weniger leisten würden, könnte die Stressbelastung zusätzlich erhöhen. „Mitarbeitende im Büro haben häufig das Gefühl, dass ihre Kollegen im Home Office weniger arbeiten und sie das kompensieren müssten. Das kann zu Spannungen führen“, sagte WeitzelUmgekehrt fühlen sich Home-Office-Mitarbeitende oftmals durch das Vorurteil belastet, weshalb sie versuchen würden, ihre Arbeitszeit zu erhöhen, um diesem Vorurteil entgegenzuwirken. 

  • Die fünf digitalen Stressfaktoren: Laut Weitzel können die digitalen Stressfaktoren in fünf Kategorien geteilt werden, die sich negativ auf die Psyche, Leistungsfähigkeit und den Körper auswirken können. Foto: AFI
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    „Solche Maßnahmen haben nicht immer die gewünschten Effekte.“

     

    Lösungsansätze zur Stressreduktion umfassen die Begrenzung der Erreichbarkeit, etwa durch das Abschalten von E-Mail-Servern außerhalb der Arbeitszeiten, oder die Implementierung von Pull-Kommunikationsmodellen, bei denen Mitarbeitende selbst entscheiden können, wann sie auf Informationen zugreifen. Dies könnte den Druck verringern, jederzeit reagieren zu müssen. „Allerdings haben solche Maßnahmen nicht immer die gewünschten Effekte“, so Weitzel. Durch das Abschalten von E-Mails am Wochenende könnten sich einige Mitarbeitende unter Druck gesetzt fühlen, wenn sie nicht schnell auf Anfragen reagieren können. „Während einige Mitarbeitende diese Maßnahmen als Entlastung empfinden, fühlen sich andere durch den Verlust von Flexibilität eingeschränkt“, erläuterte Weitzel. 

  • Der digitale Stress im Privatleben

    Manuel Oberkalmsteiner: „Die digitale Welt ist ein Wettkampf um unsere Aufmerksamkeit.“ Foto: Forum Prävention

    Manuel Oberkalmsteiner, Sozialpädagoge und Experte für die Themen Social Media und Digitalwelten im Forum Prävention, beleuchtete die Auswirkungen digitaler Medien im privaten Alltag. Digitale Reizüberflutung könne zu problematischen Nutzungsmustern führen. Besonders Jugendliche seien durch die ständige Verfügbarkeit von Smartphones und sozialen Netzwerken gefährdet. Oberkalmsteiner unterschied drei Formen des Medienkonsums: unproblematisch, normal und suchtartig. „Wenn Mediennutzung die Gedanken dominiert und den Alltag übernimmt, dann sprechen wir von einer pathologischen Sucht“, erklärte er. Laut Studien befänden sich 5 bis 8 Prozent in einem Stadium, in dem die digitale Welt das reale Leben verdrängt. Besonders kritisch sei es, wenn wichtige Lebensbereiche wie Schule, Arbeit oder soziale Kontakte vernachlässigt werden.

     

    „Die digitale Welt ist (...) ein Wettkampf um unsere Aufmerksamkeit.“

     

    Eine problematische Nutzung von digitalen Medien sei oft ein Versuch, unangenehme Gefühle oder stressige Lebenssituationen zu kompensieren. Besonders betroffen seien Jugendliche, die mit familiären Konflikten, Mobbing oder psychischen Belastungen wie Ängsten und Depressionen zu kämpfen haben. Digitale Welten können für viele eine Art Schutzraum bieten, in dem die Anforderungen des realen Lebens kurzzeitig ausgeblendet werden. 

    Soziale Medien aktivieren durch eine ständige Belohnung in Form von „Likes“ und Benachrichtigungen das Belohnungssystem im Gehirn, was das Verlangen verstärke, immer wieder in die digitale Welt einzutauchen. „Likes und Benachrichtigungen wirken wie kleine Dopamin-Kicks und verstärken die Abhängigkeit“, so Oberkalmsteiner, „die digitale Welt ist heute nicht nur ein Raum für Kommunikation, sondern ein Wettkampf um unsere Aufmerksamkeit.“ 

     

     „Wer seine eigene Mediennutzung hinterfragt kann sein Verhältnis zu digitalen Medien nachhaltig verbessern.“

     

    Eltern spielen eine zentrale Rolle bei der Vermittlung von Medienkompetenz. Sie sollten ihre Kinder nicht überwachen, sondern aktiv offene Gespräche suchen und Alternativen zu digitalen Medien fördern. Sport, kreative Aktivitäten und soziale Interaktionen seien wichtige Ausgleichsformen, um eine gesunde Balance zwischen digitaler und analoger Welt zu schaffen. „Wer seine eigene Mediennutzung hinterfragt, ob diese mit den eigenen Werten und Zielen im Einklang steht, kann sein Verhältnis zu digitalen Medien nachhaltig verbessern“, empfahl Oberkalmsteiner. Zudem sei es sinnvoll, feste medienfreie Zeiten in den Alltag zu integrieren, um den ständigen Reizen und Ablenkungen entgegenzuwirken. 

  • AFI im Dialog: Die Webinar Reihe fand zum zweiten Mal statt und soll auch in Zukunft eine Möglichkeit zum Austausch über wichtige Themen bieten. Foto: AFI
  • Eine Kultur des Miteinanders

    Digitaler Stress ist keine individuelle Herausforderung, sondern betrifft Gesellschaft, Unternehmen und Individuen in allen Bereichen des Lebens. Unternehmen müssen die Ursachen von digitalem Stress verstehen und ihren Mitarbeitenden dabei helfen, gesunde Arbeitsgewohnheiten zu etablieren, um langfristig ein gesundes und produktives Arbeitsumfelder zu schaffen. Eine bewusste Trennung von Arbeits- und Freizeit sowie der reflektierte Umgang mit digitalen Medien sind Schlüsselfaktoren für eine gesunde Balance.

    Besonders für Jugendliche ist es essenziell, Strategien zu entwickeln, um mit der Reizüberflutung umzugehen. Verzicht oder strikte Verbote seien dabei keine nachhaltige Lösung. Stattdessen solle der Fokus auf Medienkompetenz und einer reflektierten Nutzung liegen. 

    Schlussendlich hängt es an jeden selbst, wie und wem man seine Aufmerksamkeit widmet. Ein bewusster und offener Umgang kann eine medienkompetente Gesellschaft kreieren und Digitalstress reduzieren. Die Debatte verdeutlicht, dass es keine universelle Grenze für eine „richtige“ Mediennutzung gibt. Vielmehr geht es um ein Gleichgewicht, das den individuellen Bedürfnissen gerecht wird und darum, langfristig eine Kultur des Miteinanders zu schaffen.