Gegen die Schweigekultur

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Mit der Studie zu sexualisierter Gewalt betritt Südtirol Neuland: Im Auftrag des Landtags haben Forscherinnen der Universität Innsbruck erstmals 31 Gespräche mit Betroffenen geführt. Das war im Jahr 2022 auf Vorschlag des Team K von den Südtiroler Landtagsabgeordneten in seltener Einstimmigkeit beschlossen worden. „Sexualisierte Gewalt ist in Südtirol noch immer weit verbreitet. Es ist ein stigmatisiertes und tabuisiertes Thema, das häufig Überforderung auslöst“, erklärt Julia Ganterer der Universität Innsbruck bei der Vorstellung der ersten Ergebnisse mit Soziallandesrätin Rosmarie Pamer (SVP) heute in Bozen.
„Sexuelle Gewalt darf kein Tabu mehr sein.“
„Auch die Politik hat hier Aufgaben zu übernehmen, dazu zählen die Einrichtung einer Ombudsstelle, ein wissenschaftlicher Beirat und ein Beirat der Betroffenen“, erklärt Pamer. Die Ombudsstelle für Fragen sexualisierter Gewalt ist Teil des Gesetzesentwurfs, der von Landtagspräsident Arnold Schuler (SVP) derzeit ausgearbeitet wird, um ein eigenes Haus für Ombudsstellen wie der Volksanwaltschaft zu eröffnen. Der Entwurf kommt in den nächsten Wochen in den Gesetzgebungsausschuss und wird anschließend im Landtag behandelt werden.
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Die Erfahrungsberichte
Dass der Bedarf für eine Ombudsstelle groß ist, zeigen die Studienergebnisse der Universität Innsbruck. Denn von den 31 interviewten Betroffenen hat nur eine einzige Person Anzeige erstattet. „Da werden wir keine Chance haben“, erklärt eine Person im Interview auf die Frage, ob sich Widerstand lohnen würde. Bei den Gesprächen wurden Personen aller drei Sprachgruppen interviewt, davon 24 weibliche, vier männliche, eine trans-weibliche und zwei nicht-binäre. Sie waren im Alter von 20 bis 70 Jahren.
Zu den Täterinnen und Tätern zählen mehrheitlich männliche Personen wie Partner oder Ex-Partner, aber auch Frauen, Familienangehörige, Bekannte, Priester, Lehrpersonen, Vorgesetzte, Vereinsleiter, Nachbarn oder Unbekannte. Die Gewalterfahrungen fanden im Zeitraum von 1951 bis 2021 statt, das Alter der Betroffenen zum Tatzeitpunkt rangiert vom Kleinkind- bis zum Erwachsenenalter.
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Autoritäre Verhältnisse zwischen Kindern und Jugendlichen, patriarchale Strukturen zwischen Geschlechtern und soziale Positionen und Hierarchien ermöglichen auch heute noch sexualisierte Gewalt. In der Studie wurden diese Faktoren analysiert und Betroffene als Expertinnen und Experten zum Thema betrachtet. Viele von ihnen würden sich in der Gesellschaft alleine gelassen fühlen. „Es braucht Zeit, viel Information und viel Unterstützung – all das fehlt seitens der Familie als auch seitens der Institutionen. Deshalb fühlt man sich sehr einsam, wenn man darüber sprechen muss“, erklärt eine befragte Person.
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Prävention
„Weil Wissen zu sexualisierter Gewalt und Selbstbestimmung fehlt, werden Signale wie ein rapider Leistungsabfall oder plötzliches Auftreten von Stottern bei Kindern viel zu spät erkannt“, erklärt Gundula Ludwig, Professorin für Sozialwissenschaftliche Theorien der Geschlechterverhältnisse der Universität Innsbruck. Die Folgen für sexualisierte Gewalt seien schwerwiegend und die Aufarbeitung kann Betroffene triggern und retraumatisieren.
„Bei einer Gewalterfahrung werden die Grenzen der eigenen Persönlichkeit überschritten. Diese Erfahrung trägst du in dir und gibst sie unter Umständen an die nächste Generation weiter“, sagt Ganterer. Das zeige sich beispielsweise gegenüber Kindern. „Eine Betroffene erzählte, dass sie ihr eigenes Kind nicht wickeln kann, weil sie in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt erfahren hat. Hier muss auch die Frage gestellt werden, was das mit einem Säugling macht, deren Mutter ihn nicht angreifen kann.“
„Es braucht Orte, an denen Menschen geglaubt wird, ohne dass sie sich rechtfertigen müssen.“
Laura Volgger ist Teil des Forschungsteams von Gundula Ludwig und Julia Ganterer, sie hat bei der Pressekonferenz konkrete Präventionsmaßnahmen vorgestellt. Dazu zählen Sexualerziehung, ein stärkerer Schutz der Betroffenen durch Ombudsstellen und kostenlose Therapieangebote und Bewusstseinsbildung. „Sexuelle Gewalt darf kein Tabu mehr sein. Es braucht Räume, in denen über Gewalterfahrungen gesprochen und diese verarbeitet werden können, also Orte, an denen Menschen geglaubt wird, ohne dass sie sich rechtfertigen oder verantwortlich fühlen müssen“, sagt Volgger. Außerdem seien Polizei und Gerichtsbarkeit dazu aufgerufen, Strafverfahren bei sexualisierter Gewalt für Betroffene zu vereinfachen. Die finale Studie zu sexualisierter Gewalt in Südtirol soll im Dezember veröffentlicht werden.
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Veranstaltungen
30.10.2025 | Präsentation der Studie und Teilnahme an der Podiumsdiskussion bei der Veranstaltung „Der Elefant im Raum“ im Ost-West-Club Meran
02.12.2025 | Präsentation der Studie und Podiumsdiskussion mit Fach-Expert*innen im Filmclub Bozen
10.12.2025 | Präsentation der Studie und Konzert von Nina Duschek im UFO Bruneck Frühjahr
2026 | Vorstellung der Studie in Schulen und bei sozialen Diensten in ganz Südtirol
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