Die Brücke zwischen Leben und Tod

-
Luis stammt aus Spanien, ist Familienvater, und hat mit Raves und der dazugehörigen Techno-Musik eigentlich nichts am Hut. Doch dann verschwindet seine Tochter, und es gibt es Hinweise, dass sie auf einem Rave irgendwo in Marokko zugegen war. Prompt macht sich Luis auf den Weg dorthin, mit seinem Wagen, der nicht für die Wüste geeignet ist, und seinem 12-jährigen Sohn Esteban, der als Reisebegleiter ebenso unpassend wirkt. Auf dem Rave angekommen zeigt Luis das Foto seiner Tochter umher, aber niemand der ausgelassen in der Hitze Feiernden scheint Mar, so heißt das verlorene Kind, gesehen zu haben. Schließlich hat eine kleine Gruppe an Ravern eine Vermutung. Es gäbe noch einen weiteren Rave, tiefer in der Wüste, vielleicht, sagen sie, befindet sich Mar dort. Dem verzweifelten Vater bleibt nichts anderes übrig, als dem Hinweis nachzugehen. Dann wird die Veranstaltung aber plötzlich vom Militär aufgelöst, da im Land der Kriegszustand ausgebrochen ist. Luis flieht mit seinem Sohn, der kleinen Gruppe an Ravern hinterher.
All das resultiert in atemlose, packende zwei Stunden, die sich zur Mitte und gegen Ende gnadenlos konsequent zeigen.
Das sind die ersten zehn bis fünfzehn Minuten von Sirāt, dem neuen Film des Regisseur Óliver Laxe, der bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes gemeinsam mit dem ebenso empfehlenswerten In die Sonne schauen mit dem Preis der Jury erhielt. Was auf den ersten Blick wie Film über die Techno-und Rave-Kultur anmutet, entpuppt sich nach diesem Beginn voller elektrisierender Musik als existentieller Trip durch die marokkanische Wüste. Auf der Suche nach der verschollenen Tochter begeben sich Vater und Sohn an der Seite von fünf Ravern und deren Fahrzeugen in Gefilde, die sie besser unangetastet lassen sollten. Das beginnt schon bei praktischen Dingen. Das Auto von Luis ist nicht darauf ausgelegt, die unebenen Straßen der Wüste zu befahren, Flüsse zu durchqueren, Bergpfaden zu folgen, wo es an der einen Seite hunderte von Metern in die Tiefe geht. Häufig scheint die Situation aussichtlos, Luis gerät an die Grenzen dessen, was ein Mensch erleben und fühlen kann. Doch während ihn zunächst der Wille antreibt, seine Tochter zu finden, überschreitet er nach einer Weile eine Grenze, die ihn immer weitertreibt, nicht zurückgehen lässt, auch wenn alles aussichtslos erscheint. -
Òliver Laxe inszeniert die Reise durch die Wüste atemlos. Er arbeitet mit klassischen Spannungselementen, die auf einfachen Situationen beruhen, wie: Stürzt ein Wagen ab? Schafft es der Motor über einen Hügel? Ein ums andere Mal fühlt man sich da an Lohn der Angst von Henri-Georges Clouzot oder dessen Neuverfilmung Sorcerer von William Friedkin erinnert. Wenn jeder Handgriff im Auto überlegt sein will, und das eigentliche Ziel der Reise immer weiter in den Hintergrund rückt. Wenn Fragen nach dem eigenen Sein plötzlich wichtiger werden, das Überleben auf dem Spiel steht. Nicht umsonst bedeutet Sirāt im islamischen Glauben so viel wie die Brücke zwischen Leben und Tod. Die Sinnhaftigkeit des Unternehmens, immer tiefer in unbekanntes Gelände vorzudringen, kann Unverständnis hervorrufen. Einerseits die Suche nach der Tochter betreffend, andererseits, und das ist noch viel absurder, ist es schwierig, den Antrieb der Raver zu begreifen, die große Gefahren auf sich nehmen, nur um zur nächsten, großen Party zu gelangen. Im Übrigen tut das Drehbuch gut daran, nicht eine Gruppe Anfang Zwanzigjähriger zu zeigen, sondern dem gestandenen Vater Luis in etwa Gleichaltrige gegenüberzustellen.
All das resultiert in atemlose, packende zwei Stunden, die sich zur Mitte und gegen Ende gnadenlos konsequent zeigen. Zu gnadenlos, mögen manche befinden und den Film als manipulativ bezeichnen, das Ende als frustrierend. Dann sollte man vielleicht einen Schritt zurücktreten und die Geschichte nicht wörtlich verstehen, eher als mit breiten Pinselstrichen gemaltes Bild. Das von der menschlichen Seele erzählt, an einem Ort, an dem es sonst nichts gibt. Nun, beinahe nichts. Aber das wäre zu viel verraten. Sirāt erzählt im Kleinen Großes. Das ist auch eine Kunst.
-
Weitere Artikel zum Thema
Culture | RezensionIn die Sonne schauen
Cinema | FilmeventAlle Jahre wieder in Venedig
Cinema | RecensioneBogart scansati
Stimme zu, um die Kommentare zu lesen - oder auch selbst zu kommentieren. Du kannst Deine Zustimmung jederzeit wieder zurücknehmen.