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Politik | Meloni und Erdogan

Auch die NATO hat ihren Putin

Aggressionskriege und Kriegsverbrechen bleiben völkerrechtswidrig, gleich ob vom Kreml-Regime verübt oder von einem NATO-Staat. Es passt zur Heuchelei des Westens, dass er sie in der Ukraine bekämpft und der Türkei alles durchgehen lässt.
Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag der Community und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.
Die türkische Armee handelt skrupellos. Es gibt keinen Schutz vor Kampfdrohnen, die plötzlich und unvorhersehbar erscheinen. Mal töten sie Autoinsassen, mal gefährden sie spielende Kinder oder deren Eltern auf dem Feld. Niemand ist sicher, niemals.
Foto: Anonym/GfbV
  • Die derzeitige G7-Vorsitzende Giorgia Meloni hat gestern in Istanbul den türkischen Machthaber Erdogan getroffen. Neben dem Hauptthema der Kontrolle der Migration und internationalen Sicherheit haben die beiden sicher auch über die Lage in der Ukraine gesprochen. Als NATO-Partner unterstützen Italien wie die Türkei seit Beginn der russischen Invasion die Verteidigung und das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine. Genau das Gegenteil tut die Türkei gegenüber den Kurden in ihren Nachbarländern Syrien und Irak, wo laufend und systematisch die Zivilbevölkerung bombardiert wird. Die jüngsten Angriffe waren am 13.1.2024.

    So haben Meloni und Erdogan sicher nicht über das vor einem Monat bei einem türkischen Angriff zerstörte „Kobani Medical Center“ gesprochen, eine Notfallambulanz für die Menschen im Grenzort Kobane, gebaut von den Ärzten ohne Grenzen. In Qamishli, der Hauptstadt der autonomen Region Rojava in Syrien, ist ein Zentrum von Dialyse-Patienten bombardiert worden. Ein mit deutschen Spenden finanziertes Bildungsprojekt für behinderte Kinder ist ausgesetzt, weil wegen der türkischen Angriffen 712 grenznahe Schulen mit 90.000 Schüler:innen geschlossen worden sind. Auch die Autonome Provinz Bozen unterstützt Kulturprojekte in Kobane.

    Sicher kein Thema für Meloni und Erdogan waren die jüngsten türkischen Angriffe  auf Rojava zu Weihnachten 2023. Völkerrechtlich gesehen sind diese Angriffe dieselbe Art von Aggression, die Russland seit 2014 gegen die Ukraine betreibt. Dasselbe gilt für die dauerhafte türkische Okkupation einer sog. Sicherheitszone im Norden von Rojava, wo fast dreihundert Dörfer, 6 Städte und strategisch wichtige Positionen auf Hunderten Kilometern Länge besetzt, ihre Einwohner vertrieben worden sind. Dort geht Erdogan genauso vor wie Putin im Donbass. Es wird mit türkischer Lira bezahlt, die Infrastrukturen sind an die Türkei angeschlossen, die örtlichen Beamten werden von Ankara eingesetzt und neben der arabischen wird in den Schulen die türkische Sprache benutzt. Doch völkerrechtlich gehört das Gebiet zu Syrien, war Teil des autonomen Rojava.

    Noch radikaler ist die Türkei in der Region Afrin vorgegangen, früher ebenfalls Teil des autonomen Rojava. Von Januar bis März 2018 besetzte die türkische Armee, nachdem Russland dafür grünes Licht gegeben hatte, die gesamte Region, vertrieb fast die gesamte kurdische und christliche Bevölkerung, siedelte Araber und Turkmenen der radikalislamischen Opposition an. Eine ethnische Säuberung unter Führung Erdogans, die von der NATO und vom Westen nie wirklich kritisiert worden ist.

    Die Jahresbilanz 2023 der türkischen Angriffe, die die Volksverteidigungseinheiten von Rojava veröffentlicht hat, hat nicht ukrainische Dimensionen, ist aber im Grunde nichts anderes. Die Türkei hat den Nordosten Syriens 798 mal angegriffen, 103 Mal mit Kampfjets und Drohnen. Schon Anfang Oktober 2023 hat die Türkei weite Teile der zivilen Infrastruktur zerstört, 92 Menschen getötet und 89 Menschen verletzt. Zu den Zielen gehören Wasserwerke, Ölraffinerien, Elektrizitätswerke, auch Flüchtlingslager und Krankenhäuser. Dies alles unter dem dröhnenden Schweigen des Westens. Oder hat jemand irgendeinen Protest der deutschen Außenministerin vernommen, die dieselbe Art von Verbrechen des Kremls immer zu Recht und entschieden verurteilt?

    Doch die Folgen dieser Angriffe für die Zivilbevölkerung sind dieselben wie jene in der Ostukraine. Die medizinische Versorgung, Strom und Nahrungsmittel, Wasserversorgung werden nach und nach von der Türkei zerstört. Erdogan hat direkt von Putin gelernt, der die Ukraine mürbe machen will. Für diese Angriffe müssen als Vorwand die militärischen Aktionen der PKK herhalten. Doch die Bevölkerung von Nord- und Ostsyrien hat mit den Kämpfen im Irak gegen die dortigen türkischen Invasionsversuche nichts zu tun. Zudem ist sie im Unterschied zur jetzt NATO-gerüsteten Ukraine gegenüber der waffenstarrenden Türkei ziemlich schutzlos.

    Meloni und Erdogan haben auch nicht über neue Fluchtbewegungen gesprochen, die gerade die türkischen Angriffe auslösen. Die ökonomische Basis des autonomen Rojava bricht langsam zusammen. Wenn Rojava weiter so von allen im Stich gelassen wird wie heute, wird dieses einzigartige Autonomie- und Demokratieexperiment im Nahen Osten nicht lange überleben. Sein Widerstand und der mit hohen Opfern errungen Sieg gegen den IS wird von Europa und den USA so belohnt: Diplomatie, kein Wort über die Menschen- und Minderheitenrechte der Kurden, kein Wort über fast tägliche Angriffe und Morde an Zivilisten; fürs Völkerrecht eintreten, wenn es ins Konzept passt; das Völkerrecht vergessen, wenn es nicht mehr in die aktuelle Interessenlage passt. Da macht die NATO-treue Meloni keine Ausnahme.

     

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Ludwig Thoma So., 21.01.2024 - 18:28

Ja sehr bezeichnend, die Heuchelei. Da gibt es keine Artikel "ich bin heute Rojava", oder zig Kommentare zur eigenen Deutungshoheit über Begriffe wie Genozid.

So., 21.01.2024 - 18:28 Permalink
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nobody So., 21.01.2024 - 20:18

Ups, das haben die Medien einfach übersehen. Aber wie viele nehmen diese Medien noch ernst? Die Jungen konsumieren die sowieso nicht mehr.

So., 21.01.2024 - 20:18 Permalink
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Hartmuth Staffler So., 21.01.2024 - 21:20

Man könnte auch daran erinnern, dass Italien am 23. Mai 1915 einen Angriffskrieg gegen uns gestartet hat. Das ist lange her, wird dadurch aber nicht besser.

So., 21.01.2024 - 21:20 Permalink
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wartl Mo., 22.01.2024 - 18:38

Als Erdogan noch zivil war (in den Nullerjahren), wurde er vom Westen wie der letzte Dreck behandelt. Er hat schnell gelernt. Jetzt erpresst er er den Westen zum Wohlverhalten sowohl mit der Drohung hinsichtlich der Fluchtbewegungen als auch hinsichtlich der Rolle als militärischer Eckpunkt der NATO.
Die NATO hat mit ihrem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien (zur Durchsetzung des Neoliberalismus am Balkan - Nikolaus Blome hat mit seinem Leitartikel in der gewiss nicht linksverdächtigen "Welt" vom 30.6.2001 "Unser Balkan - alle Lektionen der letzten zehn Jahre kreisen um das eine Wort Macht" sehr deutlich erkennen lassen, was damals Sache war) die Hemmschwelle gegen Völkerrechtsbrüche in unverantwortlicher Manier herabgesetzt. Da die westlichen Gesellschaften unfähig waren, die damaligen Kriegstreiber zur Verantwortung zu ziehen, stolpern sie jetzt von einer Verlegenheit in die nächste und ist das 21. Jahrhundert von der militärischen Durchsetzung von Machtinteressen gekennzeichnet.
Der US-Historiker David Talbot hat hinsichtlich der Verbrechen der Dulles-Ära konstatiert, dass ohne ihre Aufarbeitung die USA den Weg in eine bessere Zukunft nicht finden werden - und das lässt sich 1:1 auf den von Kohl und Rühe 1998 eingefädelten und von Schröder, Fischer, Scharping, Blair, Cook & Co vollzogenen Krieg 1999 übertragen.

Mo., 22.01.2024 - 18:38 Permalink
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Salto User
wartl Di., 23.01.2024 - 19:48

Antwort auf von Manfred Gasser

Rest-Europa hat nicht zugeschaut, sondern auch noch Waffen (hauptsächlich aus Deutschland, daneben auch aus Ö.*, zusammen mit Munition aus öst. Fertigung) für das Abschlachten geliefert (und zwar an die Küsten Kroatiens und Bosnien - Herzegowinas, zugunsten der Klerikalfaschisten° in diesen Ländern) Quelle: "Defense Foreign Affairs Strategic Policy" (ist ein US Militärmagazin) vom 21.12.1992. Die USA und Deutschland haben später noch wettgeeifert um den Einfluss auf Thaci & Co (Waffenlieferung via CIA und BND)
*: öst. Gewehre aus diesen Lieferungen wurden später in den Händen des IS und der Hamas gefunden
°: der spätere dt. Außenminister Kinkel hat davor als Geheimdienstler Kontakte zu Ustascha- Nachfahren gesucht; Karadzic hat sich jahrelang unter falschem Namen in Ö. aufgehalten, als er schon als Kriegsverbrecher gesucht wurde

Di., 23.01.2024 - 19:48 Permalink
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Johannes Engl Mo., 22.01.2024 - 20:51

Der Angriff Putins auf die gesamte Ukraine ist eindeutig eine Eskalationsstufe höher als der davor schon lange Jahre schwelende Konflikt im Donbass und anderen Grenzregionen zwischen der Ukraine und Russland. Davon hat die Öffentlichkeit, wie im Fall des Krieges der Türkei in den kurdischen Grenzgebieten, wenig Notiz genommen.
Erdogan mit Putin auf eine Eskaltionsstufe zu stellen ist deshalb aus meiner Sicht nicht zutreffend. Noch jedenfalls.

Mo., 22.01.2024 - 20:51 Permalink
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Evelin Grenier Mo., 22.01.2024 - 21:24

A quanto pare sembra che agli USA non interessa più mantenere la NATO. In base ad alcune "previsioni" arriverà Trump a scioglierla. L'Europa sta già pensando a riorganizzare la propria difesa.

Mo., 22.01.2024 - 21:24 Permalink
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Profil für Benutzer Evelin Grenier
Evelin Grenier Mo., 22.01.2024 - 21:48

Per quanto riguarda la Turchia e i curdi, Erdogan già anni fa aveva posto una sorta di ultimatum agli USA : o stanno con la Turchia o con i curdi. Un gran negoziatore.
Sempre grazie a lui l'Azerbaigian ha risolto la "questione armena".

Tornando ai curdi, la PKK per l'UE è un'organizzazione terroristica. Quindi anche per questo le azioni di Erdogan risultano legittime.

Mo., 22.01.2024 - 21:48 Permalink
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Salto User
wartl Di., 23.01.2024 - 20:12

Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass Milosevic etwas mit Srebrenica zu tun gehabt hätte. Niederländische Historiker haben nachgewiesen, dass das nicht der Fall war. Die Zentralorgane der Massenverdummung, aber auch als seriös geltende Zeitungen haben das verschwiegen.Milosevic wurde zum Feindbild, weil er neoliberale "Reformen" verweigerte und stattdessen die Notenpresse anwerfen ließ. Im oben zitierten Leitartikel der "Welt" wurde das so formuliert: "In diesem Selbstbewusstsein haben die Europäer die politischen Regeln des Westens in Südosteuropa durchgesetzt." Der mazedonische Präsident hat zähneknirschend die Erpressung der NATO "Die NATO hat den Präsidenten Mazedonins massiv gebeten, sie zu bitten, militärisch in Mazedonien präsent zu sein" ( Aussage von Volker Rühe vor dem dt. Bundestag am 27.9.2001) akzeptiert, um seinem Land das Schicksal Serbiens zu ersparen. Dazu das Zitat aus dem besagten Leitartikel der "Welt": "Wenn demnächst auf die eine oder andere Weise Mazedonien noch dazukommt, wird die gesamte Region ein unerklärtes Protektorat der Europäischen Union sein."

Di., 23.01.2024 - 20:12 Permalink
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Salto User
wartl Mi., 24.01.2024 - 19:11

Quellen:
Aussage der Zeugin Alice Mahon (frühere Labour-Abgeordnete) am letzten Prozesstag: https://www.icty.org/x/cases/slobodan_milosevic/trans/en/060301IT.htm
https://timenote.info/de/Slobodan-Milosevi erwähnt, dass nach den Kriegen zur Verhinderung der Abspaltung von Slowenien und Kroatien keine Truppen von Serbien mehr in Kriegshandlungen beteiligt waren bis zum Krieg 1999. Außerdem berücksichtigt diese Quelle neben den Anklagepunkten auch die massiven Prozessmängel
https://de.wikipedia.org/wiki/Slobodan_Milo%C5%A1evi%C4%87 bestätigt diese vorgenannten Kritikpunkte und erwähnt außerdem "Im Rahmen des Urteils gegen Radovan Karadžić stellte der Internationale Strafgerichtshof 2016 fest, dass eine Verantwortung Miloševićs für die den Bosnienkrieg betreffenden Anklagepunkte nicht nachgewiesen werden könne."

Mi., 24.01.2024 - 19:11 Permalink